Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ralph nickte. Klar, Ed. Wie du meinst, Ed.
Ed erwiderte das Nicken, trampelte weiter durch die Gischt und die geisterhaften, ineinander verflochtenen Regenbogen und schlug die Faust in die Handfläche. »Es ist wie in diesem Song der Rolling Stones – >Look at that, look at that, look at that stupid girl< – >Sieh dir das dumme Mädchen an.< Daran erinnerst du dich wahrscheinlich nicht, oder?« Ed lachte, ein sprödes, kurzatmiges Geräusch, bei dem Ralph an Ratten denken mußte, die auf Glasscherben tanzten.
McGovern kniete neben ihm. »Laß uns von hier verschwinden«, murmelte er. Ralph schüttelte den Kopf, und als sich Ed wieder in ihre Richtung umdrehte, stand McGovern hastig auf und zog sich auf den Bürgersteig zurück.
»Sie hat gedacht, sie könnte dich hinters Licht führen, ist es das?« fragte Ralph. Er lag immer noch auf die Ellbogen gestützt auf dem Rasen. »Sie hat gedacht, du würdest nicht herausfinden, daß sie die Petition unterschrieben hat.«
Ed sprang über den Weg, beugte sich über Ralph und schüttelte seine Fäuste über dessen Kopf wie ein Bösewicht in einem Stummfilm. »Nein-nein-nein-nein!« schrie er.
Die Jefferson Airplane waren den Animals gewichen, Eric Burdon röhrte das Evangelium nach John Lee Hooker: Boomboom-boom-boom, gonna shoot ya right down. McGovern stieß einen dünnen Schrei aus, weil er offenbar dachte, Ed würde Ralph angreifen, aber statt dessen sank Ed nach unten, preßte die Knöchel ins Gras und nahm die Haltung eines Sprinters an, der bereit ist, aus den Startlöchern zu schnellen, sobald die Starterpistole ertönt. Perlen bedeckten sein Gesicht, die Ralph anfangs für Schweiß hielt, bis ihm einfiel, daß Ed durch die Gischt des Sprengers hin und her gegangen war. Ralph mußte ständig den Blutspritzer auf dem linken Brillenglas von Ed ansehen. Der war ein wenig verschmiert, so daß die Pupille des linken Auges jetzt aussah, als wäre sie mit Blut gefüllt.
»Es war Schicksal, daß ich herausfand, daß sie die Petition unterschrieben hatte! Einfach Schicksal! Willst du mir einreden, daß du das nicht einsiehst? Beleidige nicht meine Intelligenz, Ralph! Du bist vielleicht in die Jahre gekommen, aber du bist alles andere als dumm. Es ist so, ich gehe runter zum Supermarkt, um Simulac zu kaufen – Babypuder, das nenne ich Ironie! -, und muß feststellen, daß sie bei den Babykillern unterschrieben hat! Den Zenturions! Dem Scharlachroten König persönlich! Und weißt du was? Ich… habe… einfach… rot gesehen!«
»Der Scharlachrote König, Ed? Wer ist das?«
»Oh, bitte.« Ed warf Ralph einen listigen Blick zu. >»Da Herodes nun sah, daß er von den Weisen betrogen worden war, ward er sehr zornig und schickt aus und ließ alle Knäblein zu Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die da zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er mit Fleiß von den Weisen erkundet hatte.< Es steht in der Bibel, Ralph. In der guten King James-Ausgabe. Matthäus, Kapitel 2, Vers 16. Zweifelst du daran? Hast du etwa den geringsten verschissenen Zweifel, daß das dort steht?«
»Nein. Wenn du es sagst, glaube ich dir.«
Ed nickte. Der Blick seiner tiefen und erstaunlich grünen Augen schnellte hierhin und dorthin. Dann beugte er sich langsam nach vorne über Ralph und plazierte seine Hände auf beiden Seiten von Ralphs Armen. Es war, als wollte er ihn küssen. Ralph konnte Schweiß und ein Aftershave riechen, das sich fast völlig verflüchtigt hatte, und noch etwas – einen Geruch wie von alter, saurer Milch. Er fragte sich, ob das der Gestank von Eds Wahnsinn sein konnte.
Ein Krankenwagen kam mit Blaulicht, aber ohne Sirene, die Harris Avenue entlanggefahren. Er bog auf den Parkplatz des Red Apple ein.
»Das solltest du«, atmete Ed ihm ins Gesicht. »Das solltest du besser glauben.«
Sein Blick hörte auf zu schweifen und heftete sich auf Ralph.
»Sie töten die Babys en gros«, sagte er mit leiser, nicht ganz standhafter Stimme. »Reißen Sie aus den Leibern ihrer Mütter und befördern sie mit verdeckten Lastwagen aus der Stadt. Überwiegend Pritschenwagen. Stell dir eine Frage, Ralph: Wie oft am Tag siehst du einen dieser großen Pritschenwagen die Straße entlangfahren? Einen Pritschenwagen, über den eine Plane gespannt ist? Hast du dich schon mal gefragt, was sich unter diesen Planen befindet?«
Ed grinste. Er verdrehte die Augen.
»Die meisten Embryos verbrennen sie drüben in Newport. Auf dem Schild steht Mülldeponie, aber in Wirklichkeit ist es ein Krematorium. Aber manche transportieren sie auch über die Staatsgrenze. Mit Lastwagen und kleinen Flugzeugen. Weil das Gewebe von Embryos überaus wertvoll ist. Das sage ich dir nicht nur als besorgter Bürger, Ralph, sondern als Angestellter der Hawking Labors. Embryogewebe ist… wertvoller… als Gold.«
Plötzlich drehte er sich um und sah Bill McGovern an, der wieder etwas nähergekommen war, damit er alles mitbekam, was Ed sagte.
»JA, WERTVOLLER ALS GOLD UND KOSTBARER ALS RUBINE!« kreischte er, worauf McGovern zurücksprang und vor Angst und Unbehagen die Augen aufriß. »WEISST DU DAS, DU ALTE SCHWUCHTEL?«
»Ja«, sagte McGovern. »Ich… ich denke schon.« Er warf hastig einen Blick die Straße hinunter, wo eines der Polizeiautos gerade rückwärts aus dem Parkplatz des Red Apple stieß und in ihre Richtung gefahren kam. »Ich glaube, ich habe darüber gelesen. Möglicherweise in Scientific American.«
»Scientific American!« Ed lachte verächtlich und verdrehte die Augen vor Ralph, als wollte er sagen: Da siehst du, womit ich es zu tun habe. Dann wurde sein Gesicht wieder nüchtern. »Mord en gros«, sagte er, »genau wie zu Zeiten Christi. Nur ist es jetzt Mord an den Ungeborenen. Nicht nur hier, sondern überall auf der Welt. Sie schlachten sie zu Tausenden ab, Ralph, zu Millionen, und weißt du warum? Weißt du, weshalb wir in diesem neuen dunklen Zeitalter wieder am Hof des Scharlachroten Königs sind?«
Ralph wußte es. Es war nicht schwer, eins und eins zusammenzuzählen, wenn man genügend Puzzleteile hatte, mit denen man arbeiten konnte. Wenn man Ed gesehen hatte, wie er mit den Armen in einem Faß Dünger nach den toten Babys suchte, die er zu finden erwartet hatte.
»König Herodes ist diesmal etwas früher gewarnt worden«, sagte Ralph. »Willst du das damit sagen? Die alte MessiasGeschichte, richtig?«
Er richtete sich auf und rechnete halb damit, daß Ed ihn wieder zurückstoßen würde, hoffte fast darauf. Seine Wut stellte sich wieder ein. Es war sicher falsch, die unsinnigen Hirngespinste eines Wahnsinnigen zu kritisieren wie ein Schauspiel oder einen Film – vielleicht sogar blasphemisch -, aber Ralph versetzte der Gedanke, daß Helen wegen dieser ungereimten alten Scheiße verprügelt war, in Raserei.
Ed rührte ihn nicht an, er stand lediglich auf und wischte sich geschäftsmäßig die Hände ab. Er schien sich wieder abzuregen. Der Polizeifunk knisterte lauter, als der Streifenwagen, der vom Red Apple hergekommen war, an den Bordstein fuhr. Ed sah zu dem Streifenwagen, dann zu Ralph, der ebenfalls aufstand.
»Du kannst dich darüber lustig machen, aber es ist wahr«, sagte er leise. »Aber es ist nicht König Herodes – es ist der Scharlachrote König. Herodes war lediglich eine seiner Inkarnationen. Der Scharlachrote König springt von einem Körper zum nächsten, von einer Generation zur nächsten, wie ein Kind, das von Stein zu Stein über eine Brücke hüpft, Ralph, ständig auf der Suche nach dem Messias. Er hat ihn immer verpaßt, aber diesmal könnte es anders sein. Weil Derry anders ist. Alle Kraftlinien laufen hier zusammen. Ich weiß, das ist schwer zu glauben, aber es stimmt.«
Der Scharlachrote König, dachte Ralph. O Helen, es tut mir so leid. Wie traurig das alles ist.
Zwei Männer – einer in Uniform, einer in Zivil, wahrscheinlich beides Polizisten – stiegen aus dem Streifenwagen aus und näherten sich McGovern. Hinter ihnen konnte Ralph zwei weitere Männer in weißen Hosen und kurzärmligen weißen Hemden sehen, die aus dem Red Apple kamen. Einer hatte den Arm um Helen gelegt, die mit den zaghaften Schritten einer gerade Operierten ging. Der andere trug Natalie.
Diese beiden Männer – Ralph vermutete, daß es sich um Arzthelfer handelte – halfen Helen, in den Krankenwagen einzusteigen. Der mit dem Baby stieg hinter ihr ein, während der andere zum Fahrersitz ging. Ralph spürte aus ihren Bewegungen mehr Kompetenz als Panik und dachte, daß das gut für Helen sein mußte. Vielleicht hatte Ed sie nicht allzu schlimm verletzt… jedenfalls nicht diesmal.
Der Polizist in Zivil – untersetzt, mit breiten Schultern und einem blonden Schnurrbart und Koteletten, deren Stil Ralph als »Frühe Amerikanische Single-Bar« bezeichnete – hatte sich McGovern genähert, den er zu kennen schien. Der Zivilbeamte stellte ein breites Grinsen zur Schau.
Ed legte Ralph einen Arm um die Schultern und zog ihn ein paar Schritte von den Männern auf dem Bürgersteig fort. Außerdem senkt er seine Stimme zu einem leisen Murmeln. »Will nicht, daß sie uns hören«, sagte er.
»Das kann ich mir denken.«
»Diese Kreaturen… Zenturions… Diener des Scharlachroten Königs… werden vor nichts zurückschrecken. Sie sind unerbittlich.«
»Jede Wette.« Ralph sah über die Schulter und bekam gerade noch mit, wie McGovern auf Ed deutete. Der untersetzte Mann nickte ruhig. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und immer noch ein dünnes, mildes Lächeln auf den Lippen.
»Du solltest aber nicht den Eindruck gewinnen, daß es nur um Abtreibung geht! Nicht mehr. Sie nehmen die Ungeborenen von allen Müttern, nicht nur von den Junkies und Huren – acht Tage, acht Wochen, acht Monate, für die Zenturions ist das alles eins. Die Ernte geht Tag und Nacht weiter. Das Gemetzel. Ich habe die Leichen von Kindern auf Dächern gesehen, Ralph… unter Hecken… sie sind in den Abwasserkanälen… sie schweben in der Kanalisation und im Kenduskeag unten in den Barrens…«
Seine Augen, groß und grün und funkelnd wie kitschige Smaragde, starrten in die Ferne.
»Ralph«, flüsterte er, »manchmal ist die Welt voller Farben. Ich habe sie gesehen, seit er hier war und es mir gesagt hat. Aber jetzt werden alle Farben schwarz.«
»Seit wer gekommen ist und es dir gesagt hat, Ed?«
»Wir reden später darüber«, antwortete Ed aus dem Mundwinkel wie ein Ganove in einem Gangsterfilm. Unter anderen Umständen wäre es komisch gewesen.
Ein breites Quizmastergrinsen breitete sich über sein Gesicht aus und vertrieb den Wahnsinn so sicher wie der Sonnenaufgang die Nacht. Die Veränderung war in ihrer Plötzlichkeit beinahe tropisch und verdammt unheimlich, aber für Ralph hatte sie dennoch etwas Tröstliches. Vielleicht mußten sie – er, McGovern, Lois, alle anderen, die in diesem kurzen Abschnitt der Harris Avenue wohnten-sich doch nicht so sehr die Schuld daran geben, daß sie Eds Wahnsinn nicht schon früher gesehen hatten. Denn Ed war gut; Ed hatte seine Rolle wirklich einstudiert. Das Grinsen wäre einen Oscar wert gewesen. Selbst in einer bizarren Situation wie dieser verlangte es förmlich, daß man darauf reagierte.
»He, hallo!« sagte er zu den beiden Polizisten. Der untersetzte hatte sein Gespräch mit McGovern beendet, beide kamen über den Rasen auf sie zu. »Zieht euch einen Stuhl her, Jungs!« Ed ging mit ausgestreckter Hand um Ralph herum.
Der untersetzte Zivilbeamte schüttelte sie und lächelte weiter sein angedeutetes mildes Lächeln. »Edward Deepneau?« fragte er.
»Ganz recht.« Ed schüttelte dem uniformierten Polizisten, der ein wenig amüsiert wirkte, die Hand, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Untersetzten zu.
»Ich bin Detective Sergeant John Leydecker«, sagte der untersetzte Mann. »Das ist Officer Chris Nell. Soweit wir wissen, gab es hier ein bißchen Ärger, Sir.«
»Nun, ja. So könnte man wohl sagen. Ein bißchen Ärger. Oder, wenn Sie die Dinge beim Namen nennen wollen, ich habe mich aufgeführt wie ein Arsch.« Eds kurzes, verlegenes Kichern klang besorgniserregend normal. Ralph mußte an alle charmanten Psychopathen denken, die er im Kino gesehen hatte – George Sanders war immer besonders gut in dieser Rolle gewesen -, und fragte sich, ob es möglich sein konnte, daß ein kluger Chemiker einen gerissenen Kleinstadtpolizisten aufs Kreuz legen konnte, der aussah, als hätte er seine Saturday Night Feuer-Phase nie richtig überwunden. Ralph hatte schreckliche Angst, daß es ihm gelingen könnte.
»Helen und ich hatten einen Streit wegen einer Petition, die sie unterschrieben hatte«, sagte Ed, »und eins führte zum anderen. Mann, ich kann selbst nicht glauben, daß ich sie geschlagen habe.«
Er ruderte mit den Armen, um zu zeigen, wie aufgewühlt er war
– um nicht zu sagen verwirrt und beschämt. Leydecker erwiderte das Lächeln. Ralphs Gedanken kreisten wieder um die Konfrontation zwischen Ed und dem Fahrer des Pickups letzten Sommer. Ed hatte den vierschrötigen Mann einen Mörder genannt, hatte ihm sogar ins Gesicht geschlagen, und trotzdem hatte der Mann Ed am Ende fast mit Respekt angesehen. Es war fast eine Art Hypnose gewesen, und Ralph glaubte, daß er dieselbe Macht hier am Wirken sah.
»Die Sache ist nur ein wenig außer Kontrolle geraten, wollen Sie mir das damit sagen?« fragte Leydecker verständnisvoll.
»So könnte man sagen, ja.« Ed mußte mindestens fünfunddreißig sein, aber mit seinen großen Augen und der Unschuldsmiene sah er aus, als wäre er gerade alt genug, selbst ein Bier zu bestellen.
»Moment mal«, stieß Ralph hervor. »Sie können ihm nicht glauben, er ist verrückt. Und gemeingefährlich. Er hat mir gerade gesagt… «
»Das ist Mr. Roberts, richtig?« wandte sich Leydecker an McGovern und beachtete Ralph überhaupt nicht.
»Ja«, sagte McGovern, der sich für Ralph unvorstellbar wichtigtuerisch anhörte. »Das ist Ralph Roberts.«
»Hm-hmm.« Nun endlich sah Leydecker Ralph an. »Ich möchte mich in ein paar Minuten mit Ihnen unterhalten, Mr. Roberts, aber vorläufig wäre es mir lieb, wenn Sie bei Ihrem Freund dort stehenbleiben und still sein würden. Okay?«
»Aber… «
»Okay?«
Ralph stapfte wütender denn je zu der Stelle hinüber, wo McGovern stand. Was Leydecker nicht im geringsten zu stören schien. Er wandte sich an Officer Nell. »Würden Sie bitte die Musik abstellen, Chris, damit wir ungestört nachdenken können?«
»Yo.« Der uniformierte Polizist ging zu dem Gettoblaster, inspizierte die verschiedenen Knöpfe und Schalter und würgte dann die Who mitten in ihrem Stück über den blinden Pinball Wizard ab.
»Ich glaube, ich hatte echt ein bißchen zu sehr aufgedreht.« Ed sah ein wenig schafsmäßig drein. »Ein Wunder, daß sich die Nachbarn nicht beschwert haben.«
»Nun ja, das Leben geht weiter«, sagte Leydecker. Er richtete sein mildes Lächeln zu den Wolken, die über den blauen Sommerhimmel zogen.
Na großartig, dachte Ralph. Der Typ ist ja ein richtiger Will Rogers. Ed dagegen nickte, als hätte der Polizist nicht eine einzige Perle der Weisheit von sich gegeben, sondern eine ganze Kette.
Leydecker kramte in seinen Taschen und brachte ein kleines Päckchen Zahnstocher zum Vorschein. Er hielt es Ed hin, der ablehnte, dann schüttelte er selbst einen heraus und steckte ihn in den Mundwinkel. »Also«, sagte er. »Kleiner Familienstreit. Wollen Sie das damit sagen?«
Ed nickte eifrig. Er lächelte immer noch sein aufrichtiges, etwas verwirrtes Lächeln. »Eigentlich mehr eine Diskussion. Eine politische… «
»Hm-hmm, hm-hmm«, sagte Leydecker, nickte und lächelte, »aber bevor Sie fortfahren, Mr. Deepneau… «
»Ed. Bitte.«
»Bevor wir fortfahren, Mr. Deepneau, möchte ich Ihnen nur noch mitteilen, daß alles, was Sie sagen, gegen Sie verwendet werden kann – Sie wissen schon, vor Gericht. Außerdem haben Sie das Recht auf einen Anwalt.«
Eds freundliches, aber verwirrtes Lächeln – Herrje, was habe ich getan? Könnten Sie mir nicht etwas auf die Sprünge helfen? erlosch einen Augenblick. Es wurde von dem verkniffenen, argwöhnischen Ausdruck ersetzt. Ralph sah McGovern an, und die Erleichterung, die er in Bills Augen sah, spiegelte seine eigenen Gefühle. Vielleicht war Leydecker doch nicht so ein Trottel.
»Wozu, um alles in der Welt, sollte ich einen Anwalt brauchen?« fragte Ed. Er machte eine halbe Drehung und erprobte das verwirrte Lächeln an Chris Nell, der immer noch neben dem Gettoblaster auf der Verandatreppe stand.
»Ich weiß nicht, und vielleicht brauchen Sie keinen«, sagte Leydecker nach wie vor lächelnd. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Sie einen haben können. Und wenn Sie sich keinen leisten können, wird Ihnen die Stadt Derry einen stellen.«
»Aber ich weiß nicht… «
Leydecker nickte und lächelte. »Schon gut, klar, wie auch immer. Aber das sind Ihre Rechte. Verstehen Sie Ihre Rechte, wie ich Sie Ihnen erklärt habe, Mr. Deepneau?«
Ed stand einen Moment völlig reglos, und seine Augen wurden wieder groß und leer. Ralph fand, er sah wie ein menschlicher Computer aus, der versucht, einen riesigen und komplizierten Input zu verarbeiten. Dann schien ihm aufzugehen, daß sein Täuschungsmanöver nicht funktionierte. Seine Schultern sackten ab. Die Leere wich einer unglücklichen Miene, die zu echt war, als daß man sie in Zweifel ziehen konnte… aber Ralph zog sie dennoch in Zweifel. Er mußte daran zweifeln; er hatte den Wahnsinn in Eds Gesicht gesehen, bevor Leydecker und Nell eingetroffen waren. Bill McGovern ebenfalls. Aber Zweifel war nicht dasselbe wie Ungläubigkeit, und Ralph vermutete, Ed bedauerte auf einer bestimmten Ebene aufrichtig, daß er Helen geschlagen hatte.
Ja, dachte er, so wie er auf einer bestimmten Ebene glaubt, daß diese Zenturions ganze Wagenladungen toter Embryos zur Müllkippe von Newport fahren. Und daß sich die Kräfte von Gut und Böse in Derry zusammenziehen, um ein Drama auszuspielen, das nur in seinem Verstand stattfindet. Nennen wir es Omen V: Am Hof des Scharlachroten Königs.
Und doch kam er nicht umhin, ein gewisses Mitgefühl für Ed Deepneau zu empfinden, der Carolyn während ihres letzten Aufenthalts im Derry Home getreulich dreimal die Woche besucht, immer Blumen mitgebracht und ihr immer einen Kuß gegeben hatte, bevor er gegangen war. Er hatte ihr diesen Abschiedskuß auch dann noch gegeben, als sie längst vom Geruch des Todes umgeben gewesen war, und Carolyn hatte nie vergessen, seine Hand zu drücken und ihm ein dankbares Lächeln zu schenken. Danke, weil du nicht vergessen hast, daß ich ein menschliches Wesen bin, hatte dieses Lächeln gesagt. Und danke, daß du mich wie eines behandelst. Das war der Ed, den Ralph als seinen Freund betrachtet hatte, und er dachte oder hoffte vielleicht nur -, daß dieser Ed immer noch da war.
»Ich bin in Schwierigkeiten, richtig?« fragte er Leydecker leise.
»Nun, mal sehen«, sagte Leydecker immer noch lächelnd. »Sie haben Ihrer Frau zwei Zähne ausgeschlagen. Sieht aus, als wäre ihr Wangenknochen gebrochen. Ich würde die Uhr meines Großvaters verwetten, daß sie eine Gehirnerschütterung hat. Dazu eine kleine Auswahl geringfügigerer Verletzungen -Platzwunden, Blutergüsse und diese komische kahle Stelle über der Schläfe. Was hatten Sie vor? Ihr die Haare vom Kopf zu reißen?«
Ed schwieg und sah mit seinen grünen Augen in Leydeckers Gesicht.
»Sie wird die Nacht unter Bewachung im Krankenhaus verbringen, weil irgendein Arschloch sie halbtot geprügelt hat, und alle scheinen sich darin einig zu sein, daß Sie dieses Arschloch waren, Mr. Deepneau. Ich sehe das Blut an Ihren Händen und das Blut auf Ihrer Brille und komme auch zum Ergebnis, daß Sie es gewesen sein müssen. Und was meinen Sie dazu? Sie scheinen ein kluger Mann zu sein. Glauben Sie, daß Sie in Schwierigkeiten sind?«
»Es tut mir sehr leid, daß ich sie geschlagen habe«, sagte Ed. »Ich wollte es nicht.«
»Hm-hmm, und wenn ich einen Vierteldollar für jedes Mal bekommen würde, wo ich das schon gehört habe, müßte ich nie wieder einen Drink von meinem Gehaltsscheck bezahlen. Ich nehme Sie fest unter dem Vorwurf der schweren Körperverletzung, Mr. Deepneau. Das Vergehen fällt unter das Gesetz des Staates Maine über Familienstreitigkeiten. Ich möchte Sie bitten, mir noch einmal zu bestätigen, daß ich Sie über Ihre Rechte auf geklärt habe.«
»Ja«, sagte Ed mit leiser, unglücklicher Stimme. Das Lächeln -verwirrt oder sonstwie – war verschwunden.
»Wir nehmen Sie mit zum Polizeirevier und sperren Sie ein«, sagte Leydecker. »Danach dürfen Sie einen Telefonanruf tätigen und eine Kaution beantragen. Chris, bring ihn in den Wagen, ja?«
Nell näherte sich Ed. »Werden Sie Schwierigkeiten machen, Mr. Deepneau?«
»Nein«, sagte Ed mit derselben leisen Stimme, und Ralph sah eine Träne aus Eds rechtem Auge kullern. Er wischte sie geistesabwesend mit dem Handrücken weg. »Keine Schwierigkeiten.«
»Prima!« sagte Nell herzlich und ging mit ihm zu dem Streifenwagen.
Ed warf Ralph einen Blick zu, als er den Bürgersteig überquerte. »Tut mir leid, alter Junge«, sagte er, dann nahm er auf dem Rücksitz Platz. Bevor Officer Nell die Tür zuschlug, konnte Ralph sehen, daß sie innen keinen Griff hatte.
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»Okay«, sagte Leydecker, drehte sich zu Ralph um und streckte die Hand aus. »Tut mir leid, wenn ich ein wenig schroff war, Mr. Roberts, aber manchmal können diese Leute unberechenbar sein. Besonders mache ich mir bei denen Sorgen, die ganz normal wirken, weil man nie weiß, was sie anstellen werden. John Leydecker.«
»Johnny war mein Student, als ich noch am Community College unterrichtet habe«, sagte McGovern. Nachdem Ed nun sicher in dem Streifenwagen verwahrt war, schien er fast hysterisch vor Erleichterung zu sein. »Guter Schüler. Hat eine ausgezeichnete Hausarbeit über den Kinderkreuzzug geschrieben.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Ralph und schüttelte Leydecker die Hand. »Und keine Bange. Sie haben mich nicht vor den Kopf gestoßen.«
»Wissen Sie, es war Wahnsinn, hierherzukommen und ihm gegenüberzutreten«, sagte Leydecker fröhlich.
»Ich war stinksauer. Ich bin noch stinksauer.«
»Das kann ich verstehen. Und es ist Ihnen nichts passiert nur darauf kommt es an.«
»Nein, auf Helen kommt es an. Auf Helen und das Baby.« »Dem stimme ich zu. Erzählen Sie mir, worüber Sie und Mr. Deepneau gesprochen haben, bevor wir eingetroffen sind, Mr. Roberts… oder darf ich Sie Ralph nennen?«
»Ralph, bitte.« Er wiederholte seine Unterhaltung mit Ed und versuchte, sich kurzzufassen. McGovern, der einen Teil gehört hatte, aber nicht alles, hörte stumm und mit großen Augen zu. Jedesmal, wenn Ralph ihn ansah, wünschte er sich, Bill würde seinen Panamahut tragen. Ohne ihn sah er älter aus. Fast uralt.
»Nun, das hört sich auf jeden Fall ziemlich verschroben an, was?« bemerkte Leydecker, als Ralph fertig war.
»Was wird jetzt passieren? Kommt er ins Gefängnis? Er gehört nicht ins Gefängnis, er gehört in eine geschlossene Anstalt.«
»Wahrscheinlich schon«, stimmte Leydecker zu, »aber zwischen sollte und wird besteht ein großer Unterschied. Er wird nicht ins Gefängnis kommen, und sie werden ihn auch nicht ins Sunnyvale Sanatorium abtransportieren – so etwas passiert nur in alten Filmen. Wir können im günstigsten Fall darauf hoffen, daß das Gericht eine Therapie anordnet.«
»Aber hat Ihnen Helen denn nicht erzählt…«
»Die Dame hat uns gar nichts erzählt, und wir haben nicht versucht, sie in dem Laden zu verhören. Sie litt große Schmerzen, körperlich wie seelisch.«
»Ja, selbstverständlich«, sagte Ralph. »Dumm von mir.«
»Später bestätigt sie vielleicht das, was Sie gesagt haben… vielleicht aber auch nicht. Opfer ehelicher Gewalt neigen häufig dazu, stumm wie Austern zu werden, wissen Sie. Glücklicherweise spielt das unter dem neuen Gesetz so oder so keine Rolle. Wir haben ihn mit dem Rücken an der Wand. Sie und die junge Dame unten im Laden können Mrs. Deepneaus Zustand bestätigen, und wer sie nach eigener Aussage so zugerichtet hat. Ich kann beschwören, daß der Ehemann des Opfers Blut an den Händen hatte. Und am allerbesten, er hat die Zauberformel gesprochen: >Mann, ich kann nicht glauben, daß ich sie geschlagen habe.< Ich werde vorbeikommen wahrscheinlich morgen vormittag, wenn Ihnen das recht ist und Ihre vollständige Aussage zu Protokoll nehmen, Ralph, aber das heißt nur, ich werde die freien Stellen ausfüllen. Im Grunde genommen ist die Sache gelaufen.«
Leydecker nahm den Zahnstocher aus dem Mund, zerbrach ihn, warf ihn in den Rinnstein und holte die Packung wieder heraus. »Zahnstocher?«
»Nein, danke«, sagte Ralph mit verhaltenem Lächeln.
»Kann ich Ihnen nicht verdenken. Scheißangewohnheit, aber ich versuche, mir das Rauchen abzugewöhnen, was noch schlimmer ist. Das Problem mit Typen wie Deepneau ist, sie sind schlauer als gut für sie ist. Sie drehen durch, verletzen jemand, und dann machen sie einen Rückzieher. Wenn man nach der Explosion schnell genug da ist – wie Sie, Ralph -, dann kann man fast sehen, wie sie mit schräggelegtem Kopf dastehen, der Musik lauschen und versuchen, wieder in den Rhythmus zu kommen.«
»Genau so war es«, sagte Ralph. »Ganz genau so.«
»Es ist ein Trick, den die guten ziemlich lange durchziehen können – sie scheinen von Reue ergriffen zu sein, von ihrem eigenen Tun abgestoßen, entschlossen, es wieder gutzumachen. Sie sind überzeugend, sie sind charmant, und manchmal ist es unmöglich zu sehen, daß sie unter dem Zuckerguß vollkommen meschugge sind. Sogar Extremfälle wie Ted Bundy schaffen es manchmal jahrelang, vollkommen normal zu wirken. Zum Glück gibt es nicht viele Typen wie Ted Bundy da draußen, trotz Psychokiller-Büchern und Filmen.«
Ralph seufzte tief. »Was für ein Schlamassel.«
»Ja. Aber Sie sollten es von der guten Seite sehen, Ralph. Wir werden ihn zumindest eine Zeitlang von ihr fernhalten können. Bis zum Abend wird er mit fünfundzwanzig Dollar Kaution wieder draußen sein, aber… «
»Fünfundzwanzig Dollar?« fragte McGovern. Er hörte sich schockiert und zynisch zugleich an. »Das ist alles?«
»Jawohl«, sagte Leydecker. »Ich habe Deepneau das mit der schweren Körperverletzung an den Kopf geworfen, weil es sich furchterregend anhört, aber im Staat Maine ist es nur ungebührliches Verhalten, wenn man seine Frau verhaut.«
»Aber es gibt einen hübschen neuen Kniff in dem Gesetz«, sagte Chris Nell, der zu ihnen kam. »Wenn Deepneau Kaution will, muß er zustimmen, daß er überhaupt keinen Kontakt mit seiner Frau haben darf, bis die Sache vor Gericht geregelt worden ist – er darf das Haus nicht betreten, sie nicht auf der Straße ansprechen, sie nicht einmal anrufen. Wenn er nicht einwilligt, bleibt er im Gefängnis.«
»Angenommen, er stimmt zu und kommt dann trotzdem zurück?« fragte Ralph.
»Dann packen wir ihn am Arsch«, sagte Nell, »denn das ist ein Verbrechen… oder kann eines sein, wenn es der Bezirksanwalt auf die harte Tour wll. Wie auch immer, wer in so einem Fall gegen die Kautionsvereinbarung verstößt, verbringt normalerweise mehr als nur einen Nachmittag im Gefängnis.«
»Und hoffentlich ist die Frau, der zuliebe er diese Vereinbarung bricht, noch am Leben, bis es zur Verhandlung kommt«, sagte McGovern.
»Ja«, sagte Leydecker resigniert. »Das ist manchmal das Problem.«
Ralph ging nach Hause und sah etwa eine Stunde nicht in den Fernseher, sondern durch ihn hindurch. Während einer Werbepause stand er auf und suchte im Kühlschrank nach einer kalten Cola, taumelte und mußte sich an einer Wand abstützen. Er zitterte am ganzen Körper und verspürte einen unangenehmen Brechreiz im Hals. Ihm war klar, es handelte sich lediglich um eine verspätete Reaktion, aber der Schwächeanfall und die Übelkeit machten ihm trotzdem Angst.
Er setzte sich wieder, holte eine Minute mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen tief Luft, stand auf und ging langsam ins Bad. Er füllte die Wanne mit warmem Wasser und legte sich hinein, bis er im Femseher im Wohnzimmer Night Court hörte, die erste der nachmittäglichen Fernsehkomödien, die anfing. Inzwischen war das Wasser in der Wanne fast kalt geworden, und Ralph war froh, daß er aufstehen konnte. Er trocknete sich ab, zog frische Sachen an und entschied, daß eine leichte Mahlzeit zumindest im Bereich des Möglichen lag. Er rief nach unten, weil er dachte, McGovern würde ihm vielleicht gerne auf einen Happen Gesellschaft leisten, aber er bekam keine Antwort.
Ralph stellte Wasser auf, um Eier zu kochen, und rief vom Telefon neben dem Herd das Derry Home Hospital an. Sein Anruf wurde zu einer Frau in der Aufnahme durchgestellt, die im Computer nachsah und ihm versicherte, ja, ganz recht, Helen Deepneau sei eingeliefert worden. Ihr Zustand wurde als stabil beschrieben. Nein, sie hätte keine Ahnung, wer sich um Mrs. Deepneaus Baby kümmere; sie wüßte nur, daß sie eine Natalie Deepneau nicht in der Liste der aufgenommenen Patienten hätte. Nein, Ralph könnte Mrs. Deepneau heute abend nicht besuchen, weil der Arzt eine Besuchersperre verhängt hätte; Mrs. Deepneau selbst hätte darauf bestanden.
Warum sollte sie das tun? wollte Ralph fragen, ließ es aber bleiben. Wahrscheinlich würde die Frau in der Aufnahme ihm sagen, daß sie diese Information nicht im Computer hätte, aber Ralph entschied, daß er sie in seinem Computer hätte, in dem zwischen seinen beiden Ohren. Helen wollte keine Besucher, weil sie sich schämte. Was geschehen war, war nicht ihre Schuld, aber Ralph bezweifelte, ob das etwas an ihrer Einstellung geändert haben würde. Sie war von der halben Harris Avenue gesehen worden, wie sie herumgetaumelt war wie ein übel zusammengeschlagener Boxer, nachdem der Ringrichter den Kampf unterbrochen hatte, sie war im Notarztwagen ins Krankenhaus gefahren worden, und ihr Mann der Vater ihrer Tochter – war dafür verantwortlich. Ralph hoffte, sie würden ihr etwas geben, das ihr half, die Nacht durchzuschlafen; er hatte eine Ahnung, daß am Morgen alles etwas besser aussehen würde. Weiß Gott, viel schlimmer konnte es nicht mehr aussehen.
Verdammt, ich wünschte, jemand würde mir etwas geben, das mir hilft, die Nacht durchzuschlafen, dachte er.
Dann geh zu Dr. Litchfield, Idiot, sagte ein anderer Teil seines Verstands sofort.
Die Frau in der Aufnahme fragte Ralph, ob sie noch etwas für ihn tun könne. Ralph sagte nein und wollte sich gerade bedanken, als es in der Leitung klickte.
»Nett«, sagte Ralph. »Wirklich nett.« Er legte selbst auf, holte sich einen Eßlöffel und ließ die Eier behutsam ins Wasser gleiten. Zehn Minuten später setzte er sich hin, und die gekochten Eier rutschten auf dem Teller herum wie die größten Perlen der Welt, als das Telefon läutete. Er stellte sein Essen auf den Tisch und nahm den Hörer ab. »Hallo?«