Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
сообщить о нарушении
Текущая страница: 29 (всего у книги 50 страниц)
Sie -
[»Ralph? Ralph, alles in Ordnung?«]
Er drehte sich zu Lois um und wollte ihr sagen, daß es ihm bestens ging, aber dann fiel ihm ein, daß er in diesem Stadium kaum etwas vor ihr verbergen konnte.
[»Ich bin traurig. Zu viele Erinnerungen hier drinnen. Und keine guten.«]
[»Ich verstehe… aber sieh nach unten, Ralph! Schau auf den Boden!«]
Er gehorchte und riß die Augen auf. Auf dem Boden befanden sich verschiedene bunte Fußspuren, einige frisch, aber die meisten verblaßten bereits. Zwei zeichneten sich deutlich vom Rest ab, sie funkelten wie Diamanten in einem Haufen stumpfer Imitationen. Ihre Farbe war leuchtend grüngolden, mit einigen winzigen roten Fleckchen darin.
[»Sind die von denen, nach denen wir suchen, Ralph?«]
[»Ja – die Docs sind hier.«]
Ralph nahm Lois’ Hand – die sich sehr kalt anfühlte – und führte sie langsam den Flur entlang.
Kapitel 17
Sie waren noch nicht weit gekommen, als etwas Seltsames und ziemlich Furchteinflößendes geschah. Einen Augenblick blutete die Welt vor ihren Augen weiß. Die Türen der Zimmer entlang des Flurs, in diesem grellweißen Dunst kaum zu erkennen, schwollen zur Größe von Garagentoren an. Der Flur selbst schien gleichzeitig länger und höher zu werden. Ralph spürte, wie sich sein Magen hob wie damals, als er noch ein Teenager war und häufig mit der Dust-Devil-Achterbahn in Old Orchard Beach gefahren war. Er hörte Lois stöhnen, dann drückte sie seine Hand mit der Kraft der Panik.
Das Weiß währte nur einige Sekunden, dann strömte wieder Farben in die Welt ein, aber sie wirkten heller und leuchtender als noch vor einem Augenblick. Auch die normale Perspektive erlangte wieder Geltung, aber die Gegenstände sahen irgendwie dicker aus. Die Auren waren noch da, aber sie schienen dünner und blasser zu sein – Heiligenscheine in Pastelltönen statt Primärfarben wie aus der Spraydose.
Gleichzeitig stellte Ralph fest, daß er jeden Riß und jede Pore in der Betonwand zu seiner Linken sehen konnte… und dann wurde ihm klar, er konnte die Röhren, Leitungen, Kabel und die Isolierung hinter den Wänden sehen, wenn er wollte; er mußte nur hinsehen.
O mein Gott, dachte er. Passiert das alles wirklich? Kann das alles wirklich passieren?
Überall Geräusche: gedämpfte Glocken, eine Toilettenspülung, verhaltenes Gelächter. Geräusche, die man normalerweise als Bestandteile des täglichen Lebens völlig überhörte, aber jetzt nicht. Nicht hier. Die Geräusche schienen, wie die sichtbare Realität der Gegenstände, eine außergewöhnliche sinnliche Beschaffenheit zu haben, wie dünne, einander überlappende Schichten aus Seide und Stahl.
Aber nicht alle Geräusche waren gewöhnlich; eine ganze Menge exotische zogen sich durch das Sammelsurium. Er hörte tief in einer Heizungsleitung eine Fliege summen. Ein Geräusch wie feines Schmirgelpapier, als eine Schwester in der Personaltoilette ihre Strumpfhose hochzog. Herzschlag. Zirkulierendes Blut. Die sanften Gezeiten des Atmens. Jedes Geräusch war auf seine Weise perfekt; fügte sich in die anderen ein zu einem wunderschönen und komplexen Hörballett – einem verborgenen Schwanensee knurrender Mägen, summender Steckdosen, wirbelsturmgleicher Föhns, flüsternder Reifen von Krankenhausbahren. Ralph konnte einen Fernseher am Ende des Flurs hinter dem Schwesternzimmer hören. Aus Zimmer 240, wo Mrs. Thomas Wren, eine Patientin mit einem Nierenleiden, Kirk Douglas und Lana Turner in Die Stadt der Illusionen sah. »Wenn du dich mit mir zusammentust, werden wir diese Stadt aus den Angeln heben, Baby«, sagte Kirk, und Ralph erkannte an der Aura, die diese Worte umgab, daß Mr. Douglas am Tag, als diese spezielle Szene gedreht worden war, Zahnweh gehabt hatte. Und das war längst nicht alles; er wußte, er konnte (höher? tiefer? weiter?) gehen, wenn er wollte. Ralph wollte es eindeutig nicht, dies war der Wald von Arden, und man konnte sich in seinem Dickicht verirren.
Oder von Tigern aufgefressen werden.
[»Herrgott! Eine neue Ebene – das muß es sein, Lois! Eine völlig neue Ebene!«]
[»Ich weiß.«]
[»Wirst du damit fertig?«]
[»Ich glaube ja, Ralph… und du?«]
[»Ich denke auch, vorläufig… aber wenn der Boden wieder wegrutscht, weiß ich nicht. Komm mit.«]
Aber bevor sie den grüngoldenen Spuren weiter folgen konnten, kamen Bill McGovern und ein Mann, den Ralph nicht kannte, aus Zimmer 213. Sie waren in eine angeregte Unterhaltung vertieft.
Lois drehte sich voller Entsetzen zu Ralph um.
[»O nein! O Gott, nein! Siehst du es, Ralph? Siehst du es?«]
Ralph hielt ihre Hand fester. Er sah es auch. McGoverns Freund war von einer pflaumenfarbenen Aura umgeben. Sie sah nicht besonders gesund aus, aber Ralph glaubte auch nicht, daß der Mann ernsthaft krank war; nur eine Menge chronische Sachen wie Rheuma und Nierensteine. Eine Ballonschnur derselben purpurnen Farbe stieg vom Kopf des Mannes auf und wogte sanft hin und her wie der Luftschlauch eines Tauchers in schwacher Strömung.
McGoverns Aura dagegen war völlig schwarz. Der Stumpf, der einmal eine Ballonschnur gewesen war, ragte steil in die Höhe. Die Ballonschnur des behinderten Babys war kurz, aber gesund gewesen; hier sahen sie die verwesenden Überreste einer brutalen Amputation vor sich. Ralph sah kurz ein Bild vor sich, so deutlich, daß es fast einer Halluzination gleichkam: McGoverns Augen quollen aus den Höhlen und wurden dann ganz herausgedrückt, worauf sich eine Sturzflut schwarzer Käfer daraus ergoß. Er mußte selbst einen Moment die Augen schließen, um nicht lauthals aufzuschreien, und als er sie wieder aufschlug, war Lois nicht mehr neben ihm.
McGovern und sein Freund gingen in Richtung der Schwesternstation, wahrscheinlich zum Trinkbrunnen. Lois war ihnen dicht auf den Fersen und stapfte mit wogendem Busen den Flur entlang. Blitzende rosa Funken, die wie neonüberzogene Sterne aussahen, leuchteten in ihrer Aura. Ralph lief ihr hinterher. Er wußte nicht, was passieren würde, sollte sie McGoverns Aufmerksamkeit erlangen, und er wollte es eigentlich auch nicht herausfinden. Aber er befürchtete, er würde es trotzdem erfahren.
[»Lois! Lois, nicht!«]
Sie achtete nicht auf ihn.
[»Bill, bleib stehen! Du mußt mir zuhören! Etwas stimmt nicht mit dir!«]
McGovern beachtete sie nicht; er sprach von Bob Polhursts Manuskript Later that Summer. »Das beste Buch über den Bürgerkrieg, das ich je gelesen habe«, sagte er zu dem Mann in der pflaumenfarbenen Aura, »aber als ich ihm sagte, er sollte es veröffentlichen, antwortete er mir, das käme nicht in Frage. Können Sie sich das vorstellen? Ein potentieller Anwärter für den Pulitzer-Preis, aber -«
[»Lois, komm zurück! Geh nicht in seine Nähe!«]
[»Bill! Bill! B-«]
Lois erreichte McGovern einen Augenblick bevor Ralph sie erreichen konnte. Sie streckte die Hand aus, um ihn an der Schulter zu greifen. Ralph sah ihre Finger in das Dunkel gleiten, das ihn umgab… und darin verschwinden.
Ihre Aura veränderte sich augenblicklich; von graublau mit rosa Fünkchen wurde sie so grellrot wie ein Feuerwehrauto. Unregelmäßige schwarze Schlieren schössen hindurch wie Wolken winziger Insektenschwärme. Lois schrie und zog die Hand zurück. Ihr Gesicht drückte eine Mischung aus Entsetzen und Abscheu aus. Sie hielt die Hand vor die Augen und schrie wieder, obwohl Ralph nichts daran erkennen konnte. Schmale schwarze Streifen zuckten nun schwindelerregend über den äußeren Rand ihrer Aura; für Ralph sahen sie wie Planetenbahnen auf einer Karte des Sonnensystems aus. Sie drehte sich um und wollte weglaufen. Ralph hielt sie an den Oberarmen fest, und sie schlug blind nach ihm.
McGovern und sein Freund schlurften derweil weiter gemächlich den Flur entlang zum Trinkbrunnen, ohne etwas von der kreischenden, um sich schlagenden Frau keine drei Meter hinter ihnen zu bemerken. »Als ich Bob fragte, warum er das Buch nicht veröffentlichen wollte«, fuhr McGovern fort, »sagte er, daß ausgerechnet ich seine Gründe verstehen müßte. Ich sagte ihm…«
Lois, die wie eine Feuersirene kreischte, übertönte ihn.
[»in in«]
[»Hör auf, Lois! Hör sofort auf! Was immer dir zugestoßen ist, jetzt ist es vorbei! Es ist vorbei, und dir ist nichts geschehen!«]
Aber Lois wehrte sich weiter, jagte diese unartikulierten Schreie in seinen Kopf und erzählte ihm, wie schrecklich es gewesen war, daß er verfaulte, daß Käfer in seinem Inneren waren, die ihn auffraßen, ihn bei lebendigem Leibe auffraßen, und das war schlimm genug, aber es war nicht das Schlimmste. Diese Kreaturen wußten es, sagte sie, sie waren böse und sie hatten gewußt, daß sie da war.
[»Lois, du bist bei mir! Du bist bei mir, und alles ist g -«]
Eine ihrer Fäuste traf ihn seitlich am Kopf, und Ralph sah Sterne. Ihm war klar, sie hatten eine Ebene der Wirklichkeit erreicht, in der körperlicher Kontakt mit anderen unmöglich war
– hatte er nicht selbst gesehen, wie Lois’ Hand direkt in McGovern eingedrungen war, wie die Hand eines Geistes? -, aber füreinander waren sie offensichtlich nach wie vor real; der Beweis dafür war sein schmerzender Unterkiefer.
Er legte die Arme um sie und drückte sie an sich, so daß ihre Fäuste zwischen ihren Brüsten und seinem Brustkorb eingeklemmt wurden. Ihre Schreie hallten allerdings weiter in seinem Kopf. Er verschränkte die Hände zwischen ihren Schulterblättern und drückte. Er spürte wieder, wie die Energie aus ihm entwich, wie heute morgen, aber diesmal schien es ganz anders zu sein. Blaues Licht strömte durch Lois’ aufgewühlte rot-schwarze Aura und besänftigte sie. Ihre Gegenwehr ließ nach und hörte schließlich ganz auf. Er spürte, wie sie zitternd Luft holte. Das blaue Leuchten über ihr und um sie herum dehnte sich aus und verblaßte. Die schwarzen Streifen verschwanden einer nach dem anderen aus ihrer Aura, von unten nach oben, und der erschreckende, entzündete rötliche Farbton verblaßte ebenfalls. Sie legte den Kopf an seinen Arm.
[»Es tut mir leid, Ralph – ich bin wieder explodiert, richtig?«] [»Könnte man sagen, aber mach dir nichts draus. Jetzt ist es wieder gut. Darauf kommt es an.«]
[»Wenn du wüßtest, wie schrecklich es war… ihn so zu berühren…«]
[»Du hast es mir ziemlich deutlich klargemacht, Lois.«]
Sie sah den Korridor hinunter, wo McGoverns Freund gerade trank. McGovern lehnte neben ihm an der Wand und redete darüber, wie der Verehrte & Angebetete Bob Polhurst das Kreuzworträtsel der New York Sunday Times immer mit Tinte ausgefüllt hatte. »Er sagte mir immer, das sei kein Stolz, sondern Optimismus«, führte McGovern aus, und das Leichentuch wallte beim Sprechen träge um ihn herum und waberte aus seinem Mund und zwischen den Fingern seiner gestikulierenden, ausdrucksvollen Hand.
[»Wir können ihm nicht helfen, oder, Ralph? Wir können überhaupt nichts für ihn tun.«]
Ralph drückte sie kurz und fest an sich. Ihre Aura, sah er, war wieder völlig normal geworden.
McGovern und der Mann mit der pflaumenfarbenen Aura kamen auf dem Rückweg den Korridor entlang auf sie zu. Ralph folgte einem Impuls (ein Verhalten, das in der Welt der Auren immer angemessen zu sein schien), löste sich von Lois und stellte sich direkt vor Mr. Pflaume, der zuhörte, wie McGovern in epischer Breite von der Tragödie des Alterns erzählte, und an den richtigen Stellen nickte.
[Ralph, tu es nicht!«]
[»Schon gut, mach dir keine Sorgen.«]
Aber plötzlich war er nicht mehr so sicher, daß es gut war. Hätte er noch eine Sekunde Zeit gehabt, wäre er vielleicht ausgewichen. Aber bevor er die Möglichkeit dazu hatte, sah ihm Mr. Pflaume, ohne ihn zu sehen, ins Gesicht und schritt direkt durch ihn hindurch. Das Gefühl, das Ralph erlebte, als der andere durch seinen Körper spazierte, war ihm durchaus vertraut; das Prickeln und Stechen, wenn das Blut wieder durch ein eingeschlafenes Glied zirkuliert. Einen Augenblick verschmolz seine Aura mit der von Mr. Pflaume, und Ralph erfuhr alles über den Mann, das es zu wissen gab, einschließlich der Träume, die er im Mutterleib gehabt hatte.
Mr. Pflaume blieb ruckartig stehen.
»Stimmt was nicht?« fragte McGovern.
»Wahrscheinlich nicht… aber haben Sie nicht irgendwo einen Knall gehört? Wie ein Kracher oder ein Auto mit Fehlzündung?«
»Kann ich nicht sagen, aber mein Gehör ist nicht mehr, was es einmal war.« McGovern kicherte. »Aber wenn etwas hochgegangen ist, dann hoffentlich keines der radiologischen Labors.«
»Jetzt kann ich nichts mehr hören. Wahrscheinlich hab ich es mir nur eingebildet.«
Ralph dachte: Mrs. Perrine hat auch einen Knall gehört – sie sagte, es hätte sich wie ein Gewehrschuß angehört. Lois’ Freundin dachte, ein Käfer säße auf ihr und hätte sie gebissen. Möglicherweise nur ein Unterschied, was die Intensität der Berührung anging, so wie Klavierspieler einen unterschiedlichen Anschlag haben. Wie auch immer, sie spüren es, wenn wir sie beeinflussen. Sie wissen vielleicht nicht, was es ist, aber spüren können sie es auf jeden Fall.
Lois nahm seine Hand und führte ihn zur Tür von Zimmer 213. Sie standen auf dem Flur und sahen zu, wie McGovern sich auf einem Konturstuhl aus Plastik am Fußende des Betts niederließ. Mindestens acht Menschen drängten sich in dem Raum, und Ralph konnte Bob Polhurst nicht deutlich erkennen, aber eines sah er ganz deutlich: Polhurst war zwar dicht in sein Leichentuch gehüllt, aber seine Ballonschnur war noch unversehrt. Sie war schmutzig wie ein rostiges Abgasrohr, schälte sich an manchen Stellen und war an anderen rissig… aber sie war noch unversehrt. Er drehte sich zu Lois um.
[»Diese Leute müssen vielleicht länger warten, als sie glauben.«]
Lois nickte, dann deutete sie auf die grüngoldenen Fußspuren
– die Spuren des weißen Mannes. Sie führten an Zimmer 213 vorbei, sah Ralph, bogen aber ins nächste Zimmer ab – 215, das von Jimmy V.
Er und Lois gingen gemeinsam dorthin und sahen hinein. Jimmy V. hatte drei Besucher, aber derjenige, der neben dem Bett saß, hielt sich für den einzigen. Das war Faye Chapin, der müßig den Stapel Grußkarten auf dem Nachttisch von Jimmy durchblätterte. Die beiden anderen waren die kahlköpfigen Ärzte, die Ralph zum erstenmal auf der Veranda von May Lochers Haus gesehen hatte. Sie standen in ihren weißen Kitteln ernst am Fußende von Jimmys Bett, und jetzt, aus der Nähe, konnte Ralph erkennen, daß die glatten, fast identischen Gesichter eine ganze Welt von Charakter ausdrückten; man konnte es nur nicht durch ein Fernglas erkennen – oder vielleicht auch erst, wenn man ein paar Sprossen auf der Leiter der Wahrnehmung hinaufgeklettert war. Am deutlichsten sah man es in den Augen; sie waren dunkel, ohne Pupillen und von einem tiefen goldenen Funkeln erfüllt. Intelligenz und ein helles Bewußtsein spiegelten sich darin. Ihre Auren leuchteten und wallten um sie herum wie die Gewänder von Kaisern…
… oder vielleicht von Zenturionen auf Staatsbesuch.
Sie sahen zu Ralph und Lois, die händchenhaltend unter der Tür standen wie Kinder, die sich in einem Märchenwald verirrt haben, und lächelten ihnen zu.
[Hallo, Frau.]
Das war Doc Nr. 1. Er hielt die Schere in der rechten Hand. Die Scherenblätter waren sehr lang, die Spitzen sahen ausgesprochen scharf aus. Doc Nr. 2 kam einen Schritt auf sie zu und führte einen komischen Knicks aus.
[Hallo, Mann. Wir haben auf euch gewartet.]
Ralph spürte, wie Lois seine Hand fester packte und wieder losließ, als sie entschied, daß keine unmittelbare Gefahr drohte. Sie machte einen kurzen Schritt nach vorne und sah von Doc Nr. 1 zu Doc Nr. 2 und wieder zu Doc Nr. 1.
[»Wer seid ihr?«]
Doc Nr. 1 verschränkte die Arme vor der schmalen Brust. Die langen Scherenblätter nahmen die gesamte Länge des weißgekleideten Unterarms ein.
[Wir haben keine Namen, so wie die Kurzfristigen – aber du kannst uns nach den Parzen in der Geschichte nennen, die dir dieser Mann bereits erzählt hat. Daß es sich eigentlich um Frauen handelte, hat keine Bedeutung für uns, da wir Geschöpfe ohne sexuelle Prägung sind. Ich werde Klotho sein, obwohl ich keinen Faden spinne, und mein Kollege und alter Freund wird Lachesis sein, obwohl er keine Stäbchen schüttelt und nie die Münzen geworfen hat. Kommt herein, alle beide -bitte!]
Sie traten ein und blieben argwöhnisch zwischen dem Besucherstuhl und dem Bett stehen. Ralph glaubte nicht, daß ihnen die Docs etwas zuleide tun wollten -jedenfalls vorläufig nicht -, aber er wollte ihnen trotzdem nicht zu nahe kommen. Ihre Auren, die im Vergleich zu denen Normalsterblicher so strahlend und atemberaubend waren, schüchterten ihn ein, und er konnte an Lois’ großen Augen und dem halboffenen Mund sehen, daß sie dasselbe empfand. Sie spürte, wie er sie ansah, drehte sich zu ihm um und versuchte zu lächeln. Meine Lois, dachte Ralph. Er legte ihr einen Arm um die Schultern und drückte sie kurz.
Lachesis: [Wir haben euch unsere Namen genannt -jedenfalls Namen, die ihr benützen könnt; wollt ihr uns eure nicht verraten?]
Lois: [»Sie meinen, die wissen Sie nicht schon längst? Pardon, aber das kann ich kaum glauben.«]
Lachesis: [Wir könnten sie kennen, haben aber beschlossen, sie nicht zu kennen. Wir halten uns, wenn möglich, gern an die Höflichkeitsgebote der Kurzfristigen. Wir finden sie reizend, denn sie werden unter euresgleichen von den Alten an die Jungen weitergegeben und erzeugen so die Illusion eines langen Lebens.]
[»Ich verstehe nicht.«]
Ralph auch nicht, und er war nicht sicher, ob er es verstehen wollte. Der Tonfall desjenigen, der sich Lachesis nannte, hatte etwas leicht Herablassendes, das ihn an McGovern erinnerte, wenn dieser in der Stimmung war, Vorträge zu halten.
Lachesis: [Das ist einerlei. Wir waren sicher, daß ihr kommen würdet. Wir wußten, Mann, daß du uns am Montagmorgen beobachtet hast – vor dem Haus von]
An dieser Stelle fand eine seltsame Überlappung in der Sprechweise von Lachesis statt. Er schien zwei Dinge zur exakt gleichen Zeit zu sagen, und die beiden Ausdrücke waren ineinander verschlungen wie eine Schlange, die den eigenen Schwanz im Mund hat:
[May Locher] [der beendeten Frau.]
Lois ging zaghaft einen Schritt vorwärts.
[»Mein Name ist Lois Chasse. Mein Freund ist Ralph Roberts. Und nachdem wir uns nun alle angemessen bekanntgemacht haben, würden Sie beide uns bitte sagen, was hier vor sich geht?«]
Lachesis: [Noch einer muß einen Namen bekommen.]
Klotho: [Ralph Roberts hat ihm bereits einen Namen gegeben.]
Lois sah Ralph an, der nickte.
[»Sie sprechen von Doc Nr. 3. Richtig, Jungs?«]
Klotho und Lachesis nickten. Sie stellten ein identisches, wohlgefälliges Lächeln zur Schau. Ralph nahm an, daß er sich geschmeichelt fühlen sollte, aber er war es nicht. Statt dessen war er ängstlich und ziemlich wütend – sie waren auf jedem Schritt des Weges geschickt manipuliert worden. Dies war keine zufällige Begegnung, sie war eingefädelt worden, seit das Wort »Los« erklungen war. Klotho und Lachesis, nur zwei kleine kahlköpfige Ärzte mit zuviel Zeit, die im Zimmer von Jimmy V. herumstanden und auf die Ankunft der Kurzfristigen warteten, ho-hum.
Ralph sah zu Faye und stellte fest, daß der ein Buch mit dem Titel
[»Warum sieht Faye uns nicht? Und was das betrifft, warum haben Bill und sein Freund uns nicht gesehen? Und wie konnte der Mann einfach durch mich hindurchgehen? Oder habe ich mir das nur eingebildet?«]
Klotho lächelte.
[Sie haben es sich nicht eingebildet. Versuchen Sie, sich das Leben als eine Art Gebäude vorzustellen – was Sie einen Wolkenkratzer nennen würden.]
Aber Ralph stellte fest, daß Klotho gar nicht daran dachte. Einen Sekundenbruchteil schien er ein Bruchstück aus dem Verstand des anderen zu empfangen, das er aufregend und beunruhigend zugleich fand: ein gewaltiger Turm aus dunklem, rußigem Stein, der inmitten eines Felds roter Rosen stand. Schießschartenähnliche Fenster zogen sich wie eine düstere Spirale an den Seiten entlang.
Dann verschwand das Bild.
[Du und Lois und alle anderen kurzfristigen Geschöpfe leben auf den beiden ersten Etagen dieses Gebäudes. Selbstverständlich existieren Aufzüge -]
Nein, dachte Ralph. Nicht in dem Turm, den ich in deinen Gedanken gesehen habe, mein Freund. In diesem Gebäude -wenn dieses Gebäude tatsächlich existiert – gibt es keine Fahrstühle, nur eine schmale, mit Spinnweben verhangene Treppe und Türen, die Gott weiß wohin führen.
Lachesis sah ihn mit einer seltsamen, fast mißtrauischen Neugier an, und Ralph überlegte sich, daß ihm dieser Blick nicht gefiel. Er wandte sich wieder an Klotho und bedeutete ihm, er möge fortfahren.
Klotho: [Wie ich schon sagte, es existieren Fahrstühle, aber unter normalen Umständen ist es Kurzfristigen nicht gestattet, sie zu benützen. Ihr seid nicht [bereit] [darauf eingestellt] [–.]
Die letzte Erklärung war eindeutig die beste, aber sie tänzelte vor Ralph davon, bevor er sie greifen konnte. Er sah Lois an, die den Kopf schüttelte, und dann wieder zu Klotho und Lachesis. Er wurde allmählich wütender denn je. Die vielen langen – endlosen Nächte, die er in seinem Ohrensessel gesessen und auf die Dämmerung gewartet hatte; die Tage, an denen er sich wie ein Gespenst in seiner eigenen Haut gefühlt hatte; die Unfähigkeit, einen Satz zu begreifen, wenn er ihn nicht dreimal las; die Telefonnummern, die er einst auswendig kannte, aber jetzt nachschlagen mußte -
Da fiel ihm etwas ein, das gleichzeitig die Wut zusammenfaßte und rechtfertigte, die er empfand, als er die beiden Glatzköpfe mit den dunklen, goldenen Augen und den fast blendend grellen Auren ansah. Er sah, wie er in den Hängeschrank über dem Küchentresen sah und nach der Instantsuppe suchte, während sein übermüdeter Verstand darauf beharrte, daß sie irgendwo da drinnen sein mußte. Er sah, wie er danach suchte, innehielt, weitersuchte. Er sah seinen Gesichtsausdruck – einen Ausdruck zerstreuter Verwirrung, den man ohne Schwierigkeit als leichten Fall geistiger Behinderung hätte deuten können, der aber nichts weiter als schlichte Erschöpfung war. Dann sah er, wie er die Hände sinken ließ und einfach nur dastand, als würde er darauf warten, daß das Päckchen von alleine herausgesprungen kam.
Erst jetzt, in diesem Augenblick, angesichts dieser Erinnerung, wurde ihm bewußt, wie schrecklich die letzten Monate gewesen waren. Zurückblickend waren sie, als sähe er in ein wüstes Land, das in trostlose Ocker-und Grautönen getaucht war.
[»Sie haben uns also zu dem Fahrstuhl gebracht… vielleicht war das aber auch nicht gut genug für unsresgleichen, und Sie haben uns einfach nur die Feuerleiter hinaufbugsiert. Und haben uns Stück für Stück daran gewöhnt, damit uns nicht die Tassen aus dem Schrank fallen, könnte ich mir denken. Sie mußten uns ja nur um den Schlaf bringen, bis wir halb verrückt waren. Lois Sohn und Schwiegertochter wollen sie in einen Freizeitpark für alte Menschen einweisen lassen, haben Sie das gewußt? Und mein Freund Bill McGovern findet, daß ich reif für Juniper Hill bin. Und derweil habt ihr kleinen Engel -«]
Klotho ließ eine Andeutung seines vorherigen Lächelns erkennen.
[Wir sind keine Engel, Ralph.]
[»Ralph, bitte, schrei sie nicht an.«]
Ja, er hatte geschrien, und zumindest ein Teil schien bis zu Faye durchgedrungen zu sein; er hatte das Schachbuch zugeklappt, bohrte nicht mehr in der Nase, saß kerzengerade auf seinem Stuhl und sah sich nervös in dem Zimmer um.
Ralph sah von Klotho (der einen Schritt zurückwich und den Rest seines Lächelns verlor) zu Lachesis.
[»Ihr Freund sagt, ihr wärt die Engel nicht. Und wo sind sie dann? Spielen sie sechs oder acht Stockwerke weiter oben Poker? Und ich vermute, Gott sitzt im Penthouse, und der Teufel schaufelt Kohlen im Heizungskeller.«]
Keine Antwort. Klotho und Lachesis sahen sich zweifelnd an. Lois zupfte an Ralphs Ärmel, aber er beachtete sie nicht.
[»Also, Jungs, was sollen wir tun? Eure kleine kahlköpfige Version von Hannibal Lecter aufspüren und ihm das Skalpell wegnehmen? Nun, ihr könnt mich mal.«]
Ralph hätte auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre hinausgegangen (er hatte eine Menge Filme gesehen und wußte, wie man einen guten Abgang inszenierte), aber Lois brach in Tränen aus, und das hielt ihn zurück. Unter dem Blick bestürzter Zurechtweisung aus ihren Augen bereute er seinen Gefühlsausbruch zumindest ein wenig. Er legte den Arm um Lois’ Schultern und sah die beiden kahlköpfigen Männer trotzig an.
Diese wechselten wieder einen Blick, und etwas – eine Form der Kommunikation, die seine und Lois’ Fähigkeit, zu hören oder zu verstehen, gerade überstieg – wurde zwischen ihnen ausgetauscht. Als Lachesis sich wieder zu ihnen umdrehte, lächelte er… aber seine Augen waren ernst.
[Ich begreife Ihren Zorn, Ralph, aber er ist nicht gerechtfertigt. Das glauben Sie jetzt nicht, aber vielleicht später einmal. Vorerst jedoch müssen wir Ihre Fragen und Antworten – soweit wir Antworten geben können – beiseite stellen.]
[»Warum?«]
[Weil für diesen Mann die Zeit des Durchschneidens gekommen ist. Seht genau hin, auf daß ihr lernet und wisset]
Klotho ging zur linken Seite des Betts. Lachesis näherte sich ihm von rechts und ging dabei durch Faye Chapin. Faye bückte sich, weil ihn ein plötzlicher Hustenanfall schüttelte, und als der nachgelassen hatte, schlug er das Schachbuch wieder auf.
[»Ralph, ich kann nicht zusehen! Ich kann nicht zusehen, wie sie das tun!«]
Aber Ralph glaubte, daß sie es dennoch tun würde. Er glaubte, daß sie es beide tun würden. Er drückte sie fest an sich, als sich Klotho und Lachesis über Jimmy V. beugten. Liebe und Anteilnahme und Sanftheit sprachen aus ihren Gesichtern; Ralph mußte an die Gesichter denken, die er einmal auf einem Gemälde von Rembrandt gesehen hatte – Die Nachtwache hatte es geheißen, soweit er wußte. Ihre Auren überlappten sich und verschmolzen über der Brust von Jimmy. Und plötzlich schlug der Mann im Bett die Augen auf. Er sah einen Moment mit vagem und verwirrtem Gesichtsausdruck durch die beiden kahlköpfigen Ärzte hindurch zur Decke, dann glitt sein Blick zur Tür, und er lächelte.
»He! Seht mal, wer da ist!« rief Jimmy V. aus. Seine Stimme klang eingerostet und erstickt, aber Ralph konnte immer noch den South Bostoner Intellektuellenslang hören, bei dem wer zu wahr wurde. Faye zuckte zusammen. Das Schachbuch fiel zu Boden. Er beugte sich nach vorne und ergriff Jimmys Hand, aber Jimmy beachtete ihn gar nicht, sondern sah durch das Zimmer zu Ralph und Lois. »Ralph Roberts! Und Paul Chasses Frau! Sag, Ralphie, erinnerst du dich noch an den Tag, als wir zu der Zeltmission wollten, um zuzuhören, wie sie >Amazing Grace< singen?«
[»Ich erinnere mich, Jimmy.«]
Jimmy schien zu lächeln, dann schloß er wieder die Augen. Lachesis legte dem sterbenden Mann behutsam die Hände auf die Wangen und rückte seinen Kopf ein wenig zurecht, wie ein Barbier, der dabei ist, einen Kunden zu rasieren. Im selben Augenblick beugte sich Klotho noch dichter über ihn, klappte die Schere auf und schob sie nach vorne, so daß sich die schwarze Ballonschnur von Jimmy V. zwischen den Scherenblättern befand. Als Klotho die Schere zuklappte, beugte sich Lachesis vor und gab Jimmy einen Kuß auf die Stirn.
[Geh in Frieden, mein Freund.]
Ein leises, unbedeutendes Schnipp! ertönte. Der Teil der Ballonschnur oberhalb der Schere schwebte zur Decke und verschwand. Das Leichentuch, das Jimmy V. einhüllte, wurde einen Augenblick grellweiß, dann erlosch es wie das von Rosalie am frühen Abend. Jimmy machte die Augen wieder auf und sah Faye an. Er lächelte, fand Ralph, und dann richtete er den Blick starr in die Ferne. Die Grübchen, die sich an seinen Mundwinkeln gebildet hatten, glätteten sich.
»Jimmy?« Faye schüttelte die Schulter von Jimmy V., wobei er mit der Hand durch Lachesis hindurchgreifen mußte. »Alles in Ordnung, Jimmy?… O Scheiße.«
Faye stand auf und verließ hastig das Zimmer.
Klotho: [Seht und begreift ihr, daß wir das, was wir tun, mit Liebe und Respekt tun l Daß wir de facto die Ärzte des letzten Stück Wegs sind? Es ist wichtig für unsere gegenseitigen Beziehungen, Ralph und Lois, daß ihr das versteht.]
[»Ja.«]
[»Ja.«]
Ralph hatte nicht die Absicht gehabt, irgend einem Satz der beiden zuzustimmen, aber dieser Begriff – die Ärzte des letzten Stück Wegs – schnitt sauber und mühelos durch seinen Zorn. Er klang aufrichtig. Sie hatten Jimmy V. aus einer Welt befreit, in der es nichts mehr für ihn gab außer Schmerzen. Ja, zweifellos hatten sie auch an einem grauen Tag mit Hagelschauern vor sieben Monaten mit Ralph in Zimmer 217 gestanden und Carolyn dieselbe Befreiung zuteil werden lassen. Und es stimmte auch, daß sie ihre Aufgabe offenbar voll Liebe und Respekt erfüllten – alle diesbezüglichen Zweifel waren ausgeräumt worden, als Lachesis Jimmy V. auf die Stirn geküßt hatte. Aber gaben Liebe und Respekt ihnen das Recht, ihn -und Lois ebenfalls – durch die Hölle und dann hinter einem übernatürlichen Wesen herzuschicken, das ausgerastet war? Gab es ihnen das Recht, auch nur zu denken, daß zwei gewöhnliche Menschen, beide nicht mehr jung, mit einer derartigen Kreatur fertigwerden konnten?
Lachesis: [Entfernen wir uns von hier. Bald werden viele Menschen auftauchen, und wir müssen miteinander reden.]
[»Haben wir eine andere Wahl?«]
Ihre Antworten
[Ja, selbstverständlich!] [Es gibt immer eine Wahl!] erfolgten rasch und mit einem überraschten Unterton.
Klotho und Lachesis gingen zur Tür hinaus; Ralph und Lois wichen zurück und ließen sie passieren. Aber die Auren der kleinen kahlköpfigen Ärzte wallten dennoch einen Moment über sie hinweg, und Ralph registrierte ihren Geschmack und ihre Beschaffenheit: der Geschmack von süßen Äpfeln, die Beschaffenheit von trockener, heller Rinde.
Als sie sich Seite an Seite entfernten, wobei sie sich ernst und respektvoll unterhielten, kam Faye wieder herein, nun in Begleitung zweier Schwestern. Die Neuankömmlinge gingen durch Lachesis und Klotho und dann durch Ralph und Lois, ohne zu bremsen oder etwas Ungewöhnliches zu spüren.