Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Schweigen, nur das Geräusch von Atemzügen.
»Hallo?« wiederholte Ralph.
Ein weiterer Atemzug, diesmal fast so laut wie ein ersticktes Schluchzen, dann wieder ein Klicken in der Leitung. Ralph legte den Hörer auf und sah das Telefon einen Moment an; seine finstere Miene grub drei aufsteigende Wellenlinien in seine Stirn.
»Komm schon, Helen«, sagte er. »Ruf mich zurück. Bitte.« Dann kehrte er zum Tisch zurück, setzte sich und nahm seine kleine Junggesellenmahlzeit ein.
Fünfzehn Minuten später spülte er das Geschirr, als das Telefon wieder läutete. Das ist sie nicht, dachte er, wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und warf es sich über die Schulter, als er zum Telefon ging. Das kann sie unmöglich sein.
Wahrscheinlich Lois oder Bill. Aber ein anderer Teil von ihm wußte es besser.
»Hi, Ralph.«
»Hallo, Helen.«
»Das war ich vor ein paar Minuten.«Ihre Stimme klang heiser, als hätte sie getrunken oder geweint, und Ralph glaubte nicht, daß sie im Krankenhaus Alkohol duldeten.
»Ich dachte es mir.«
»Ich habe deine Stimme gehört und ich… ich konnte nicht…« »Schon gut. Ich verstehe.«
»Wirklich?« Sie stieß ein langes, feuchtes Schniefen aus.
»Ich glaube ja.«
»Die Schwester war hier und hat mir eine Schmerztablette gegeben. Die kann ich echt gebrauchen – mein Gesicht tut weh. Aber ich wollte sie nicht nehmen, bevor ich dich angerufen und dir gesagt habe, was ich sagen muß. Schmerzen sind beschissen, aber ein ausgezeichneter Ansporn.«
»Helen, du mußt gar nichts sagen.« Aber er fürchtete, daß sie es doch mußte, und er hatte Angst davor, was es sein könnte… er hatte Angst, er würde herausfinden, daß sie wütend auf ihn war, weil sie auf Ed nicht wütend sein konnte.
»Doch, das muß ich. Ich muß mich bei dir bedanken.«
Ralph lehnte sich an den Türrahmen und machte einen Moment die Augen zu. Er war erleichtert, wußte aber nicht, wie er antworten sollte. Er hatte mit seiner ruhigsten Stimme sagen wollen: Tut mir leid, Helen, daß du so denkst, so sicher war er gewesen, daß sie ihn als erstes fragen würde, warum er sich nicht um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte.
Und als hätte sie seine Gedanken gelesen und wollte ihn wissen lassen, daß er nicht völlig danebenlag, sagte Helen : »Den größten Teil der Fahrt und hier in der Notaufnahme, und die erste Stunde hier im Zimmer war ich schrecklich wütend auf dich. Ich habe Candy Shoemaker angerufen, meine Freundin von der Kansas Street, und die ist hergekommen und hat Nat geholt. Sie behält sie die Nacht über bei sich. Sie wollte wissen, was passiert ist, aber ich habe es ihr nicht gesagt. Ich wollte nur hier liegen und wütend auf dich sein, weil du 911 angerufen hast, obwohl ich es dir verboten hatte.«
»Helen…«
»Laß mich ausreden, damit ich meine Tablette nehmen und schlafen kann, okay?«
»Okay.«
»Kurz nachdem Candy mit dem Baby gegangen war – Nat hat Gott sei Dank nicht geweint, ich weiß nicht, wie ich damit fertiggeworden wäre -, kam eine Frau herein. Zuerst dachte ich, sie müßte im falschen Zimmer sein, weil ich sie nicht von Eve kannte, und als mir endlich in den Kopf ging, daß sie mich sehen wollte, sagte ich ihr, daß ich keine Besucher wünschte. Sie hörte nicht auf mich. Sie machte die Tür zu und hob den Rock, damit ich ihren linken Schenkel sehen konnte. Eine tiefe Narbe verlief daran entlang, fast ganz von der Hüfte bis zum Knie.
Sie sagte, ihr Name sei Gretchen Tillbury, sie sei Beraterin für mißhandelte Ehefrauen bei Woman-Care, und ihr Mann habe ihr 1978 mit einem Küchenmesser das Bein aufgeschlitzt. Sie sagte, wenn der Mann aus der Wohnung unter ihr keinen Druckverband angelegt hätte, wäre sie verblutet. Ich sagte ihr, das täte mir sehr leid, ich wollte aber erst über meine eigene Situation sprechen, wenn ich Gelegenheit gehabt hätte, darüber nachzudenken.« Nach einer Pause fuhr Helen fort: »Aber weißt du, das war eine Lüge. Ich hatte genügend Zeit gehabt, darüber nachzudenken, denn Ed hatte mich zum erstenmal vor zwei Jahren geschlagen, lange bevor ich mit Nat schwanger wurde.
Ich habe es einfach… verdrängt.«
»Ich verstehe, daß man das tun kann«, sagte Ralph.
»Diese Frau… nun, sie müssen Leuten wie ihr Unterricht geben, wie man die Abwehrhaltung anderer überwindet.«
Ralph lächelte. »Ich glaube, darin besteht ihre halbe Ausbildung.«
»Sie sagte, ich könnte es nicht hinausschieben, ich befände mich in einer schlechten Lage und müßte mich auf der Stelle damit auseinandersetzen. Ich sagte, was immer ich tun würde, ich müßte es nicht vorher mit ihr besprechen oder mir ihren Mist anhören, nur weil ihr Mann sie einmal geschnitten hatte. Ich hätte fast gesagt, daß er es wahrscheinlich getan hatte, weil sie nicht aufhörte zu reden und ihn in Frieden ließ, kannst du dir das vorstellen? Aber ich war echt sauer, Ralph. Verletzt… verwirrt… beschämt… aber zum größten Teil einfach wütend.«
»Ich glaube, das ist eine ziemlich normale Reaktion.«
»Sie fragte mich, was ich von mir halten würde – nicht von Ed, sondern von mir -, wenn ich die Beziehung fortsetzen und Ed mich wieder verprügeln würde. Und sie fragte mich, was ich von mir halten würde, wenn Ed dasselbe mit Nat machen würde. Das machte mich wütend. Es macht mich noch wütend. Ed hat ihr nie auch nur ein Haar gekrümmt, und das habe ich ihr gesagt. Sie nickte und antwortete: >Das heißt nicht, daß er es nicht einmal tun könnte, Helen. Ich weiß, Sie wollen nicht darüber nachdenken, aber Sie müssen. Nehmen wir einmal an, Sie haben recht. Angenommen, er gibt ihr niemals auch nur einen Klaps auf die Hand. Möchten Sie, daß sie aufwächst und zusehen muß, wie er Sie schlägt? Soll sie aufwachsen und so etwas mit ansehen, was sie heute mit ansehen mußte?< Und das brachte mich zur Besinnung. Eiskalt. Ich erinnerte mich, wie Ed ausgesehen hatte, als er hereinkam… daß ich wußte, als ich sein weißes Gesicht sah… wie er den Kopf bewegte…«
»Wie ein Hahn«, murmelte Ralph.
»Was?«
»Nichts. Sprich weiter.«
»Ich weiß nicht, was ihn zur Raserei gebracht hat… heutzutage weiß ich das nie, aber ich wußte, er würde es an mir auslassen. Wenn ein bestimmter Punkt überschritten wurde, kann man nichts mehr tun oder sagen. Ich lief zum Schlafzimmer, aber er packte mich an den Haaren… er hat mir ein ganzes Büschel ausgerissen… ich schrie… und Natalie saß da in ihrem Hochstuhl… saß da und beobachtete uns… und als ich schrie, schrie sie auch… «
Da brach Helen zusammen und schluchzte hemmungslos. Ralph wartete und lehnte die Stirn an den Rahmen der Tür zwischen Küche und Wohnzimmer. Mit dem Geschirrtuch, das er über der Schulter hängen hatte, wischte er sich, fast ohne es zu merken, selbst die Tränen weg.
»Wie auch immer«, sagte Helen, als sie wieder sprechen konnte, »ich redete schließlich fast eine Stunde mit dieser Frau. Sie nennen es Opferberatung, und sie verdient ihren Lebensunterhalt damit, kannst du dir das vorstellen?«
»Ja«, sagte Ralph, »das kann ich. Es ist eine gute Sache, Helen.«
»Ich werde mich morgen wieder mit ihr treffen, bei Woman-Care. Weißt du, es ist reine Ironie, daß ich dorthin gehe. Ich meine, wenn ich die Petition nicht unterschrieben hätte…«
»Wenn es die Petition nicht gewesen wäre, dann etwas anderes.«
Sie seufzte. »Ja, das wird wohl wahr sein. Es ist wahr. Wie auch immer, Gretchen sagt, ich kann Eds Probleme nicht lösen, aber ich kann anfangen, einige meiner eigenen zu lösen.« Helen fing wieder an zu weinen, dann holte sie tief Luft. »Tut mir leid – ich habe heute so oft geweint, daß ich nie wieder weinen möchte. Ich habe ihr gesagt, daß ich ihn geliebt habe. Ich habe mich geschämt, es zu sagen, und ich bin nicht einmal sicher, ob es wahr ist, aber es scheint wahr zu sein. Ich sagte, ich wollte ihm noch eine Chance geben. Sie sagte, das würde bedeuten, daß ich auch Natalie verpflichten würde, ihm noch eine Chance zu geben, und da mußte ich daran denken, wie sie da in der Küche saß, pürierten Spinat überall im Gesicht, und sich die Seele aus dem Leib schrie, während Ed mich geschlagen hat. Herrgott, ich hasse es, wie Leute wie sie einen in die Ecke treiben und nicht mehr herauslassen.«
»Sie versucht nur, dir zu helfen, mehr nicht.«
»Das stinkt mir auch. Ich bin sehr verwirrt, Ralph. Wahrscheinlich hast du das nicht gewußt, aber es ist so.« Ein müdes Kichern drang aus dem Telefonhörer.
»Schon gut, Helen. Kein Wunder, daß du verwirrt bist.«
»Kurz bevor sie gegangen ist, hat sie mir von High Ridge erzählt. Im Augenblick hört es sich an, als wäre das genau der richtige Ort für mich.«
»Was ist das?«
»Eine Art Reha-Zentrum – sie hat immer wieder darauf bestanden, daß es ein Haus ist, kein Asyl – für mißhandelte Frauen. Was ich jetzt wohl offiziell bin.« Diesmal hörte sich das müde Kichern gefährlich nach einem Schluchzen an. »Ich kann Nat mitnehmen, wenn ich hingehe, und das macht einen Großteil des Reizes aus.«
»Wo liegt es?«
»Auf dem Land. Richtung Newport, glaube ich.«
»Ja, ich glaube, ich habe davon gehört.«
Natürlich wußte er es; Harn Davenport hatte es ihm während seines Vertrags über Woman-Care gesagt. Sie machen Familienberatung, sie kümmern sich um mißbrauchte Frauen und Kinder, und sie leiten ein Frauenhaus drüben an der Stadtgrenze von Newport. Auf einmal schien Woman-Care überall in seinem Leben zu sein. Ed hätte zweifellos eine bedrohliche Verschwörung darin gesehen.
»Diese Gretchen Tillbury ist ein zähes Stück«, sagte Helen. »Kurz bevor sie ging sagte sie mir, es wäre in Ordnung, daß ich Ed liebe – >Es muß in Ordnung sein<, sagte sie, >denn Liebe kommt nicht aus einem Hahn, den man auf-und zudrehen kann, wann man will< -, aber ich dürfte nicht vergessen, daß meine Liebe ihn nicht heilen könnte, daß nicht einmal Eds Liebe zu Natalie ihn heilen könnte, und daß keine noch so große Liebe mich meiner Verantwortung für mein Kind entheben würde. Ich habe im Bett gelegen und darüber nachgedacht. Ich glaube, im Bett zu liegen und wütend zu sein, hat mir besser gefallen. Es war auf jeden Fall einfacher.«
»Ja«, sagte er, »das kann ich mir vorstellen. Helen, warum nimmst du nicht einfach deine Tablette und läßt es eine Weile dabei bewenden?«
»Mach ich, aber vorher wollte ich mich bedanken.« »Du weißt, daß das nicht nötig ist.«
»Ich glaube nicht, daß ich das weiß«, sagte sie, und Ralph war froh, die Gefühlsregung in ihrer Stimme zu hören. Es bedeutete, daß die eigentliche Helen Deepneau immer noch da war. »Ich bin immer noch wütend auf dich, Ralph, aber ich bin froh, daß du nicht auf mich gehört hast, als ich dich gebeten habe, nicht die Polizei zu rufen. Es ist nur so, daß ich Angst hatte, weißt du? Angst.«
»Helen, ich…« Seine Stimme klang belegt und brach fast. Er räusperte sich und versuchte es noch einmal. »Ich wollte nur nicht, daß du noch schlimmer verletzt werden würdest, als du es schon warst. Als ich dich mit dem blutigen Gesicht über den Parkplatz kommen sah, hatte ich solche Angst…«
»Sprich nicht mehr davon. Bitte. Ich müßte weinen, und ich kann nicht mehr weinen.«
»Okay.« Er hatte tausend Fragen über Ed, aber dies war eindeutig nicht der Zeitpunkt, sie zu stellen. »Kann ich dich morgen besuchen kommen?«
Nach kurzem Zögern sagte Helen : »Ich glaube nicht. Vorerst nicht. Ich muß viel nachdenken, mir über vieles klar werden, und das wird nicht leicht. Ich melde mich bei dir, Ralph. Okay?«
»Natürlich. Wie du willst. Was machst du mit dem Haus?«
»Candys Mann geht hin und schließt es ab. Ich habe ihm meine Schlüssel gegeben. Gretchen Tillbury sagt, Ed darf um nichts auf der Welt hingehen, nicht einmal, um sein Scheckbuch zu holen oder frische Unterwäsche anzuziehen. Wenn er etwas braucht, gibt er eine Liste und den Hausschlüssel einem Polizisten, und der Polizist geht es holen. Ich vermute, er geht nach Fresh Harbor. Dort gibt es eine Menge Unterkünfte für Laborangestellte. Diese kleinen Hütten. Irgendwie sind sie niedlich… « Das kurze Aufflackern des Feuers in ihrer Stimme, das er gehört hatte, war längst erloschen. Jetzt hörte sich Helen deprimiert, verloren und sehr, sehr müde an.
»Helen, es freut mich, daß du angerufen hast. Und ich bin erleichtert, das muß ich sagen. Und jetzt geh schlafen.«
»Was ist mit dir, Ralph?« fragte sie unerwartet. »Schläfst du neuerdings?«
Der abrupte Themenwechsel verblüffte ihn so, daß er so aufrichtig antwortete, wie es ihm andernfalls vielleicht nicht möglich gewesen wäre. »Etwas… aber vielleicht nicht soviel, wie ich brauche. Wahrscheinlich nicht soviel, wie ich brauche.«
»Nun, gib auf dich acht. Du warst heute sehr tapfer, wie ein Ritter in einer Geschichte von König Artus, aber ich glaube, selbst Sir Lancelot mußte sich ab und zu einmal ausruhen.«
Das rührte ihn und amüsierte ihn gleichzeitig. Im Geiste sah er kurz ein überaus deutliches Bild vor sich: Ralph Roberts in Rüstung und auf einem schneeweißen Pferd, während Bill McGovern, sein getreuer Knappe, in Lederwams und mit seinem kecken Panamahut auf einem Pony hinter ihm ritt.
»Danke, mein Schatz«, sagte er. »Ich glaube, so etwas Liebes hat mir keiner mehr gesagt, seit Lyndon Johnson Präsident war. Schlaf so gut du kannst, okay?«
»Okay. Du auch.«
Sie legte auf. Ralph betrachtete das Telefon einen oder zwei Augenblicke nachdenklich, dann legte auch er den Hörer auf. Vielleicht würde er ja tatsächlich gut schlafen. Nach allem, was heute passiert war, hatte er das mit Sicherheit verdient. Aber vorerst beschloß er, nach unten zu gehen, auf der Veranda zu sitzen und einfach abzuwarten, was sich später ergeben würde.
5
McGovern war wieder da und fläzte sich in seinen Lieblingssessel auf der Veranda. Er beobachtete irgend etwas weiter oben auf der Straße und drehte sich nicht gleich um, als sein Hausgenosse die Veranda betrat. Ralph folgte seinem Blick und sah einen blauen Kleinbus einen halben Block entfernt am Bordstein der Harris Avenue auf der Seite des Red Apple parken. DERRY MEDICAL SERVICE stand in großen weißen Buchstaben auf der Hecktür.
»Hi, Bill«, sagte Ralph und ließ sich auch in einen Sessel fallen. Der Schaukelstuhl, auf dem Lois Chasse immer saß, wenn sie herüberkam, stand zwischen ihnen. In der Abenddämmerung war eine leichte Brise aufgekommen und wirkte erfrischend nach der Hitze des Nachmittags; der Schaukelstuhl bewegte sich wie von selbst träge hin und her.
»Hi«, sagte McGovern und sah Ralph an. Er wollte sich abwenden, fuhr aber noch einmal herum. »Mann, du solltest besser die Tränensäcke unter deinen Augen hochstecken. Wenn nicht, wirst du bald drauftreten.« Ralph vermutete, das sollte sich wie eines der galligen kleinen Bonmots anhören, für die McGovern in der ganzen Straße berühmt war, aber in seinen Augen stand aufrichtige Besorgnis geschrieben.
»War ein Scheißtag«, sagte er. Er erzählte McGovern von Helens Anruf, ließ aber alles weg, was ihr McGovern gegenüber vielleicht peinlich sein konnte. Bill hatte nie zu ihren besten Freunden gehört.
»Freut mich, daß es ihr gutgeht«, sagte McGovern. »Ich will dir was sagen, Ralph – du hast mich heute nachmittag schwer beeindruckt, als du die Straße entlanggegangen bist wie Gary Cooper in Zwölf Uhr mittags. Vielleicht war es Wahnsinn, aber es war auch ziemlich cool. Um die Wahrheit zu sagen, ich war schwer beeindruckt von dir.«
Zum zweitenmal innerhalb von fünfzehn Minuten bezeichnete jemand Ralph fast als Helden. Er fühlte sich unbehaglich. »Ich war so wütend auf ihn, daß mir erst später klargeworden ist, wie dumm ich war. Wo bist du gewesen, Bill, ich hab vor einer Weile nach dir gerufen.«
»Ich war auf der Extension spazieren«, sagte McGovern. »Hab versucht, meinen Motor etwas abzukühlen, denke ich. Mir war schlecht, und ich hatte Kopfweh seit Johnny Leydecker und der andere Ed mitgenommen haben.«
Ralph nickte. »Ich auch.«
»Wirklich?« McGovern sah ihn überrascht und ein wenig skeptisch an.
»Wirklich«, antwortete Ralph mit einem knappen Lächeln.
»Wie auch immer, Faye Chapin war draußen beim Picknickgelände, wo die alten Tattergreise normalerweise herumhängen, wenn es warm ist, und hat mich zu einer Partie Schach eingeladen. Das ist vielleicht eine Marke, Ralph – er hält sich für die Reinkarnation von Ruy Lopez, dabei spielt er Schach mehr wie Soupy Sales… und hält nicht eine Sekunde lang den Mund.«
»Aber Faye ist in Ordnung«, sagte Ralph leise.
McGovern schien ihn nicht gehört zu haben. »Und dieser gruselige Dorrance Marstellar war auch dort«, fuhr er fort. »Wenn wir alt sind, dann ist der ein Fossil. Er steht einfach mit einem Gedichtband in der Hand am Zaun zwischen dem Picknickplatz und dem Flughafen und schaut den Flugzeugen beim Starten und Landen zu. Was meinst du, liest er die Bücher wirklich, die er herumträgt, oder sind sie nur Requisiten?«
»Gute Frage«, sagte Ralph, aber er dachte über das Wort nach, das McGovern benutzt hatte, um Dorrance zu beschreiben -gruselig. Er selbst hätte es nicht benützt, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß der alte Dor ein Original war. Er war nicht senil (jedenfalls glaubte Ralph das nicht); es war mehr, als wären seine wenigen Bemerkungen das Produkt eines leicht verschrobenen Geistes und einer leicht gekrümmten Wahrnehmung.
Er erinnerte sich, daß Dorrance letzten Sommer dabeigewesen war, als Ed mit dem Fahrer des Lastwagens aneinandergeraten war. Damals hatte er geglaubt, daß Dorrance’ Ankunft den Festivitäten die Krone des Irrsinns aufsetzte. Und Dorrance hatte etwas Komisches gesagt. Ralph versuchte, sich daran zu erinnern, konnte es aber nicht.
McGovern sah wieder die Straße entlang, wo ein pfeifender junger Mann im Overall gerade aus dem Haus gekommen war, vor dem der Kleinbus von Medical Services parkte. Dieser junge Mann, der aussah, als wäre er höchstens vierundzwanzig und hätte in seinem ganzen Leben noch keinen medizinischen Beistand gebraucht, schob einen Wagen, auf den eine lange grüne Gasflasche geschnallt war.
»Das ist die leere«, sagte McGovern. »Du hast verpaßt, wie sie die volle reingebracht haben.«
Ein zweiter junger Mann, ebenfalls in einen Overall gekleidet, kam zur Eingangstür des kleinen Hauses heraus, das gelbe Farbe und dunkelrosa Verzierungen auf unschöne Weise miteinander verband. Er blieb einen Moment auf der Stufe stehen, Hand auf dem Türknauf, und sprach offenbar mit jemand im Inneren. Dann zog er die Tür zu und lief leichtfüßig den Fußweg entlang. Er kam gerade rechtzeitig, daß er seinem Kollegen helfen konnte, den Wagen, auf dem noch die festgeschnallte Flasche lag, ins Heck des Kleinbusses zu heben.
»Sauerstoff?« fragte Ralph.
McGovern nickte.
»Für Mrs. Locher?«
McGovern nickte wieder und sah zu, wie die Arbeiter von Medical Services die Tür des Kleinbusses zuschlugen und dann davor stehenblieben und sich im Dämmerlicht leise unterhielten. »Ich war in der Grundschule und der Junior High mit May Locher zusammen. Drüben in Cardville, Heimat der Tapferen und Land der Kühe. Nur fünf von uns waren in der Abschlußklasse. Damals, in den alten Zeiten, galt sie als ein toller Käfer, und Burschen wie mich nannte man >einen fröhlichen Stutzer.< In dieser heiteren alten Zeit gebrauchte man den Ausdruck >gay< für den Weihnachtsbaum, wenn er geschmückt war, und nicht für Schwule.«
Ralph betrachtete nervös und befangen seine Hände. Er wußte selbstverständlich, daß McGovern homosexuell war, das wußte er schon seit Jahren, aber bis zum heutigen Abend hatte er es nie laut ausgesprochen. Er wünschte sich, Bill hätte es sich für einen anderen Tag aufgehoben… vorzugsweise einen, an dem Ralph selbst sich nicht fühlte, als wäre der größte Teil seines Gehirns durch Watte ersetzt worden.
»Das war vor schätzungsweise tausend Jahren«, sagte McGovern. »Wer hätte gedacht, daß wir einmal beide ans Ufer der Harris Avenue gespült werden würden.«
»Sie hat ein Emphysem, ist es nicht so? Habe ich jedenfalls gehört.«
»Jawohl. Eine dieser Krankheiten, von denen man immer etwas hat. Alt zu werden ist sicher nichts für Memmen, oder?«
»Ganz bestimmt nicht«, sagte Ralph, und dann erkannte sein Verstand die Wahrheit mit plötzlicher Wucht. Er dachte an Carolyn, an die Angst, die er verspürt hatte, als er in seinen durchnäßten Converse-Turnschuhen ins Apartment geputscht kam und sie halb in und halb außerhalb der Küche liegen sah… genau an der Stelle, wo er den größten Teil seines Gesprächs mit Helen gestanden hatte. Ed Deepneau gegenüberzutreten war nichts verglichen mit der Angst, die er in dem Augenblick verspürte, als er glaubte, Carolyn wäre tot.
»Ich kann mich erinnern, als sie May alle zwei Wochen oder so Sauerstoff brachten«, sagte McGovern. »Jetzt kommen sie jeden Dienstag-und Donnerstagabend, wie ein Uhrwerk. Ich gehe sie besuchen wenn ich kann. Manchmal lese ich ihr vor -die langweiligste Frauenzeitschriftenscheiße, die du dir vorstellen kannst -, und manchmal sitzen wir nur da und reden. Sie sagt, es fühle sich an, als würden sich ihre Lungen mit Seetang füllen. Es wird nicht mehr lange dauern. Eines Tages werden sie kommen, und statt einer leeren Sauerstoffflasche werden sie May auf ihren Wagen laden. Sie werden sie ins Derry Home bringen, und das ist das Ende.«
»Waren es Zigaretten?« fragte Ralph.
McGovern bedachte ihn mit einem Ausdruck, der dem schmalen, sanften Gesicht so fremd war, daß Ralph einige Augenblicke brauchte, bis ihm klar wurde, daß es sich um Verachtung handelte. »May Perrault hat in ihrem ganzen Leben keine einzige Zigarette geraucht. Sie bezahlt hier für zwanzig Jahre Arbeit in der Färberei einer Fabrik in Corinna, und weitere zwanzig am Webstuhl einer Fabrik in Newport. Sie versucht, durch Baumwolle, Wolle und Nylon zu atmen, nicht durch Seetang.«
Die beiden jungen Männer von Derry Medical Services stiegen in ihren Kleinbus ein und fuhren davon.
»Maine ist der nordöstliche Anker der Appalachen, Ralph das ist vielen Leuten nicht klar, aber es stimmt – und May stirbt an einer typischen Appalachenkrankheit. Die Ärzte nennen sie Textillunge.«
»Eine Schande. Ich glaube, sie bedeutet dir viel.«
McGovern lachte reumütig. »Nee. Ich besuche sie, weil sie das letzte sichtbare Überbleibsel meiner mißratenen Jugend ist. Manchmal lese ich ihr vor, und ich bringe es immer fertig, einen oder zwei ihrer trockenen alten Weizenschrotkekse runterzuwürgen, aber das ist auch schon alles. Ich versichere dir, mein Mitgefühl ist selbstredend selbstsüchtiger Natur.«
Selbstredend selbstsüchtig, dachte Ralph. Was für ein wirklich seltsamer Ausdruck. Was für ein typischer McGovem-Ausdruck.
»Vergessen wir May«, sagte McGovern. »Die Frage, die Amerikanern allerorten unter den Nägeln brennt, ist die: Was sollen wir deinetwegen unternehmen, Ralph? Der Whiskey hat nicht funktioniert, was?«
»Nein«, sagte Ralph. »Leider nicht.« »Hast du ihm auch eine echte Chance gegeben?«
Ralph nickte.
»Nun, etwas mußt du gegen die Tränensäcke unter den Augen unternehmen, sonst wirst du nie bei der reizenden Lois landen.« McGovern studierte Ralphs Mienenspiel darauf und seufzte. »Nicht besonders komisch, hm?«
»Nee. Es war ein langer Tag.«
»Entschuldige.«
»Macht nichts.«
Sie blieben eine Zeitlang in behaglichem Schweigen sitzen und betrachteten das Kommen und Gehen in ihrem Abschnitt der Harris Avenue. Drei kleine Mädchen spielten auf der anderen Straßenseite Hüpfkästchen auf dem Parkplatz vor dem Red Apple. Mrs. Perrine stand aufrecht wie ein Wachtposten in der Nähe und beobachtete sie. Ein Junge, der seine Red Sox-Baseballmütze verkehrt herum aufgesetzt hatte, ging vorbei und wippte zur Musik seines Walkmans. Zwei Kinder warfen vor Lois’ Haus einen Frisbee hin und her. Ein Hund bellte. Irgendwo rief eine Frau, daß Sam sich seine Schwester schnappen und hereinkommen sollte. Die übliche Serenade des Straßenlebens, nicht mehr und nicht weniger, aber Ralph kam alles seltsam falsch vor. Er vermutete, es lag daran, daß er sich in letzter Zeit so sehr daran gewöhnt hatte, die Harris Avenue verlassen zu sehen.
Er drehte sich zu McGovern um und sagte: »Weißt du, was ich als erstes dachte, als ich dich heute nachmittag auf dem Parkplatz des Red Apple gesehen habe? Obwohl soviel los war?«
McGovern schüttelte den Kopf.
»Ich habe mich gefragt, wo du bloß deinen Hut hast. Den Panama. Ohne ihn bist du mir ziemlich seltsam vorgekommen. Fast nackt. Also rück raus damit – wo hast du ihn gelassen, Junge?«
McGovern berührte seinen Kopf, wo die verbliebenen Strähnen seines feinen weißen Babyhaars sorgsam von links nach rechts über den rosa Schädel gekämmt waren. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich habe ihn heute morgen vermißt. Ich denke fast immer daran, daß ich ihn auf den Tisch neben der Eingangstür werfe, wenn ich reinkomme, aber dort ist er nicht. Ich vermute, ich habe ihn diesmal anderswo abgelegt, und der exakte Standort ist mir vorübergehend entfallen. Laß mir noch ein paar Jahre Zeit, dann werde ich in der Unterwäsche herumlaufen, weil mir nicht mehr einfällt, wo ich meine Hosen gelassen habe. Gehört alles zum wunderbaren Erlebnis des Alterns, richtig, Ralph?«
Ralph nickte und lächelte und dachte bei sich, daß von allen älteren Menschen, die er kannte – und er kannte mindestens drei Dutzend auf einer oberflächlichen Spaziergang-im-Park-, Hallo-wie-geht’s-Basis -, McGovern sich am meisten darüber beschwerte, wie es war, in die Jahre zu kommen. Er schien seine entschwundene Jugend und die mittleren Jahre, die er hinter sich gelassen hatte, so zu betrachten wie ein General ein paar Soldaten, die am Vorabend einer großen Schlacht desertiert sind. Aber das hätte er selbstverständlich niemals zugegeben. Jeder hatte seine kleinen exzentrischen Macken; das theatralisch morbide Gehabe wegen des Älterwerdens war einfach die von McGovern.
»Hab ich was Komisches gesagt?« fragte McGovern.
»Pardon?«
»Du hast gelächelt, daher dachte ich, ich müßte etwas Komisches gesagt haben.« Er hörte sich ein bißchen empfindlich an, besonders für einen Mann, dem es so großen Spaß machte, seinen Hausgenossen wegen einer hübschen Witwe aufzuziehen, aber Ralph dachte daran, daß es auch für McGovern ein langer Tag gewesen war.
»Ich habe überhaupt nicht an dich gedacht«, sagte Ralph. »Ich habe daran gedacht, daß Carolyn praktisch immer dasselbe gesagt hat – älter werden ist, als würde man ein schlechtes Dessert nach einer wirklich guten Mahlzeit bekommen.«
Das war zumindest eine halbe Lüge. Carolyn hatte es gesagt, aber sie hatte damit ihren Gehirntumor gemeint, und nicht ihr Leben als ältere Frau. So alt war sie überhaupt auch gar nicht gewesen, erst vierundsechzig, als sie starb, und bis zu den letzten sechs oder acht Wochen hatte sie immer behauptet, daß sie sich an den meisten Tagen nur halb so alt fühlte.
Auf der anderen Straßenseite sahen die Mädchen, die Hüpfkästchen gespielt hatten, auf beiden Seiten nach Autos, dann hielten sie einander an den Händen und liefen lachend über die Straße. Einen Augenblick hatte er den Eindruck, als wären sie von einem grauen Leuchten umgeben – einer Aura, die ihre Wangen und Stirnen und lachenden Augen wie ein seltsames Elmsfeuer beleuchtete. Ein wenig beängstigt kniff Ralph die Augen zu und machte sie wieder auf. Die graue Aura, die er sich um das Trio der Mädchen herum eingebildet hatte, war verschwunden, was ihn erleichterte, aber er mußte bald wieder richtig schlafen. Er mußte.
»Ralph?« McGoverns Stimme schien vom anderen Ende der Veranda zu kommen, obwohl er sich nicht bewegt hatte. »Alles in Ordnung?«
»Klar«, sagte Ralph. »Ich mußte an Ed und Helen denken, das ist alles. Hast du eine Ahnung gehabt, daß er so durchgedreht war?«
McGovem schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nicht die geringste«, sagte er. »Ich habe zwar ab und zu Helens Blutergüsse gesehen, aber ihren Erklärungen immer geglaubt. Ich habe mich nie für einen übertrieben leichtgläubigen Menschen gehalten, aber vielleicht muß ich diese Einschätzung einmal revidieren.«
»Was meinst du wird mit ihnen passieren? Irgendwelche Prognosen?«
McGovern seufzte, griff mit den Fingerspitzen auf den Kopf und tastete, ohne es zu merken, nach dem fehlenden Panamahut. »Du kennst mich, Ralph – ich bin ein Zyniker und entstamme einem Geschlecht von Zynikern. Ich glaube, normale menschliche Konflikte lösen sich selten so auf wie im Fernsehen. In Wirklichkeit kommen sie immer wieder und drehen sich in konzentrischen Kreisen, bis sie verschwinden. Aber sie verschwinden eigentlich nicht; sie trocknen aus wie Schlammpfützen in der Sonne.« McGovern machte eine Pause, dann fügte er hinzu: »Und die meisten lassen dieselben schmutzigen Rückstände zurück.«
»Herrgott«, sagte Ralph. »Das ist zynisch.«
McGovern zuckte die Achseln. »Die meisten pensionierten Lehrer sind zynisch, Ralph. Wir sehen sie kommen, so jung und stark, so überzeugt, daß es bei ihnen anders sein wird, und wir sehen, wie sie ihren eigenen Mist bauen und dann darin herumkrabbeln, genau wie ihre Eltern und Großeltern. Ich glaube, Helen wird zu ihm zurückkehren, Ed wird sich eine Weile zusammenreißen, und dann wird er sie wieder verprügeln, und sie wird wieder weggehen. Wie in einem dieser kitschigen Westernsongs in der Musicbox draußen im Nicky’s Lunch, und manche Leute müssen so einen Song eine lange, lange Zeit anhören, bis sie zu dem Ergebnis kommen, daß sie ihn nicht mehr hören wollen. Aber Helen ist eine kluge junge Frau. Ich glaube, mehr als eine Strophe braucht sie nicht mehr.«
»Mehr als eine Strophe bekommt sie vielleicht auch nicht mehr«, sagte Ralph leise. »Wir reden hier nicht von einem betrunkenen Ehemann, der seiner Frau eine runterhaut, weil er seinen Lohnscheck beim Pokern verloren hat und sie es gewagt hat, deswegen zu keifen.«
»Ich weiß«, sagte McGovern, »aber du hast mich nach meiner Meinung gefragt, und ich habe sie dir gesagt. Ich glaube, Helen braucht noch eine Strophe aus der Musicbox, bevor sie es fertigbringt und Schluß macht. Und selbst dann werden sie einander manchmal über den Weg laufen. Dies ist nach wie vor eine ziemlich kleine Stadt.« Er verstummte und sah blinzelnd die Straße hinab. »Oh, sieh mal«, sagte er und zog die linke Braue hoch. »Unsere Lois. Sie wandelt in Schönheit, wie die Nacht.«
Ralph warf ihm einen ungeduldigen Blick zu, aber McGovern bemerkte ihn entweder nicht oder wollte ihn nicht bemerken. Er stand auf und griff mit den Fingern wieder an die Stelle, wo der Panama sitzen sollte, dann ging er die Stufen hinunter, um sie vor dem Haus zu empfangen.