Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Vor den Türen sah er eine halbdurchsichtige, schwärzliche Substanz, die ihm anfangs Rätsel aufgab. Sie war etwa fünf Zentimeter tief und sah fast wie eine geologische Formation aus. Aber das konnte nicht sein… oder? Wenn das, was er da sah, real gewesen wäre (zumindest in der Form, wie Gegenstände auf der Ebene der Kurzfristigen real waren), dann hätte die Substanz die Türen versperrt, aber das tat sie nicht. Vor Ralphs Augen wateten zwei Fernsehtechniker bis zu den Knöcheln durch die Substanz, als wäre sie nicht greifbarer als Bodennebel.
Ralph erinnerte sich an die geisterhaften Fußspuren, welche die Leute hinterließen – die fast wie Tanzschrittdiagramme von Arthur Murray aussahen -, und plötzlich glaubte er zu verstehen. Die Spuren verschwanden wie Zigarettenrauch… Aber Zigarettenrauch verschwand nicht wirklich, sondern hinterließ einen Rückstand auf Wänden, Fenstern und in der Lunge. Offenbar hinterließen menschliche Auren ebenfalls ihre Rückstände. Wenn es sich nur um eine Person handelte, konnte man wahrscheinlich nichts mehr sehen, sobald die Farben verschwanden, aber dies war der größte öffentliche Versammlungsplatz in der viertgrößten Stadt von Maine. Ralph dachte an alle Leute, die durch diese Türen gegangen sein mußten – alle Bankette, Versammlungen, Münzbörsen, Konzerte, Basketballturniere – und wußte, worum es sich bei dem halbdurchsichtigen Schlamm handelte. Er war das Äquivalent der leichten Vertiefung, die man manchmal in der Mitte vielbegangener Treppenstufen sah.
Laß das jetzt, Liebling – kümmere dich um deine Aufgabe.
In der Nähe kritzelte Connie Chung ihren Namen auf die Rückseite eines Einkaufszettels, den Lois in ihrer Handtasche gefunden hatte. Ralph betrachtete den Rückstand auf dem Betonboden vor den Türen und suchte nach einer Spur von Atropos, nach etwas, das man nicht so sehr als visuellen Eindruck wahrnahm, sondern mehr als Geruch, als widerlichen Geruch nach Fleisch, wie in der Gasse hinter Mr. Hustons Metzgerei, als Ralph ein Kind gewesen war.
»Danke«, blubberte Lois. »Ich habe zu Norton gesagt: >Sie sieht genau wie im Fernsehen aus, wie ein kleines Porzellanpüppchen.< Genau das waren meine Worte.«
»Sehr gern geschehen«, sagte Chung, »aber jetzt muß ich mich wirklich wieder an die Arbeit machen.«
»Aber gewiß. Und grüßen Sie Dan Rather von mir, ja? Sagen sie ihm, ich hätte gesagt: >Nur Mut!<«
»Mach ich ganz bestimmt.« Chung lächelte und nickte, während sie Rosenberg den Kugelschreiber zurückgab. »Wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen würden -«
Wenn es hier ist, dann weiter oben, als ich es bin, dachte Ralph. Ich muß noch etwas höher emporsteigen.
Ja, aber er mußte äußerst vorsichtig vorgehen, denn inzwischen war nicht nur die Zeit ein überaus wertvolles Gut geworden. Es war einfach so, wenn er zu weit emporstieg, würde er aus der Welt der Kurzfristigen verschwinden, und das würde selbst die Nachrichtenteams von der bevorstehenden Demonstration der Abtreibungsgegner ablenken… zumindest für eine Weile.
Ralph konzentrierte sich, aber diesmal erfolgte das schmerzlose Zucken in seinem Kopf nicht als Blinzeln, sondern wie ein langsamer Peitschenhieb. Farbe erblühte lautlos in der Welt; alles zeichnete sich mit hervorstechender Brillanz ab. Aber die deutlichste aller Farben, der überwältigende Schlüsselakkord, war das Schwarz des Leichentuchs, und das war eine Negation aller anderen Farben. Niedergeschlagenheit und das Gefühl lähmender Schwäche befielen ihn wieder und bohrten sich in sein Herz wie die Widerhaken eines Klauenhammers. Er überlegte sich, wenn er hier oben etwas zu erledigen hatte, sollte er es besser schnell erledigen und wieder auf die Ebene der Kurzfristigen zurückkehren, bevor er seiner ganzen Lebenskraft beraubt wurde.
Er sah wieder zu den Türen. Einen Augenblick konnte er immer noch nicht mehr als die verblassenden Auren der Kurzfristigen erkennen, wie er einer war… aber dann wurde plötzlich deutlich, wonach er suchte, es erschien wie eine mit Zitronensaft geschriebene Geheimbotschaft, wenn man sie dicht an eine Kerzenflamme hält.
Er hatte mit etwas gerechnet, das wie die verfaulenden Innereien in den Abfallbehältern hinter der Metzgerei von Mr. Huston riechen und aussehen würde, aber die Wirklichkeit war noch schlimmer, wahrscheinlich deshalb, weil es so unerwartet kam. Auf den Türen selbst befanden sich Schlieren einer blutigen, schleimigen Substanz – möglicherweise Spuren von Atropos’ rastlosen Fingern -, und eine abstoßend große Pfütze desselben Materials sank in die hartgewordenen Rückstände auf dem Boden vor den Türen ein. Das Zeug hatte etwas so Schreckliches an sich – etwas so Fremdartiges -, daß die farbigen Käfer im Vergleich dazu fast normal wirkten. Wie eine Lache Erbrochenes von einem Hund, der an einer neuen und gefährlichen Form von Tollwut litt. Eine Spur derselben Substanz führte von der Lache weg, zuerst in trocknenden Flecken und Spritzern, dann in kleineren Tropfen, wie verschüttete Farbe.
Logisch, dachte Ralph. Darum ist er hergekommen. Der kleine Dreckskerl kann nicht anders. Für ihn ist das wie Rauschgift für einen Drogensüchtigen. Er konnte sich vorstellen, wie Atropos genau da stand, wo er, Ralph, sich gerade befand, wie er hinsah… grinste… dann weiterging und die Hände auf die Türen legte. Sie streichelte. Die schmutzigen, klebrigen Abdrücke hinterließ. Er konnte sich vorstellen, wie Atropos Kraft und Energie aus eben der Schwärze bezog, die Ralph seiner Vitalität beraubte.
Natürlich muß er noch anderswo hin und andere Taten vollbringen – wenn man ein übernatürlicher Psychopath wie er ist, hat man zweifellos jeden Tag alle Hände voll zu tun -, aber es muß ihm schwerfallen, sich lange von hier fernzuhalten, so beschäftigt er auch sein mag. Und wie fühlt er sich dabei? Wie bei einem tollen Fick an einem Sommernachmittag, genau so.
Lois zupfte ihn von hinten am Ärmel, und er drehte sich zu ihr um. Sie lächelte immer noch, aber durch den fiebrigen Ausdruck in ihren Augen sah das Lächeln verdächtig wie ein Schrei aus. Hinter ihr schlenderten Connie Chung und Rosenberg zu dem Gebäude.
»Du mußt mich hier wegbringen«, flüsterte Lois. »Ich kann es nicht mehr ertragen. Mir ist, als würde ich den Verstand verlieren.«
[»Okay – kein Problem.«]
»Ich kann dich nicht hören, Ralph – und ich glaube, ich kann die Sonne durch dich hindurchscheinen sehen. Mein Gott, das kann ich tatsächlich!«
[»Oh – warte -«]
Er konzentrierte sich und spürte, wie die Welt um ihn herum einen leichten Ruck machte. Die Farben verblaßten; Lois’ Aura schien in ihre Haut hineinzuschrumpfen.
»Besser?«
»Nun, auf jeden Fall solider.«
Er lächelte kurz. »Gut. Komm mit.«
Er nahm sie am Ellbogen und führte sie zu der Stelle zurück, wo Joe Wyzer sie abgesetzt hatte. In dieselbe Richtung führten auch die blutigen Spuren.
»Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«
»Ja.«
Sie strahlte sofort. »Das ist toll! Ich habe gesehen, wie du emporgestiegen bist, weißt du – es war ziemlich seltsam, als hätte ich gesehen, wie du dich in eine sepiafarbene Fotografie verwandelst. Und dann… als ich dachte, ich könnte die Sonne durch dich hindurchscheinen sehen… das war sehr seltsam.« Sie sah ihn streng an.
»Schlimm, hm?«
»Nein… nicht gerade schlimm. Nur seltsam. Diese Käfer dagegen… die waren schlimm. – Igitt!«
»Ich weiß, was du meinst. Aber ich glaube, die sind alle da hinten.« »Vielleicht, aber wir haben das Schlimmste noch lange nicht überstanden, oder?« »Ja – es ist ein weiter Weg zurück ins Paradies, hätte Carol gesagt.«
»Bleib nur bei mir, Ralph Roberts, und verirre dich nicht.« »Ralph Roberts? Nie gehört. Norton ist mein Name.« Und das, stellt er glücklich fest, brachte sie zum Lachen.
Kapitel 24
Sie gingen langsam über den asphaltierten Parkplatz mit seinem Gitter aufgesprühter gelber Linien. Ralph wußte, heute abend würden die meisten Plätze besetzt sein. Kommt, seht, hört zu… und, am allerwichtigsten, zeigt eurer Stadt und den Fernsehzuschauern im ganzen Land, daß ihr euch nicht von den Charlie Pickerings dieser Welt einschüchtern laßt. Selbst die Minderheit, die die Angst abhalten würde, würde durch die von morbider Neugier Angelockten wieder wettgemacht werden, vermutete Ralph.
Als sie sich der Rennbahn näherten, näherten sie sich auch dem Rand des Leichentuchs. Es war dort dicker, und Ralph konnte langsame, wuselnde Bewegungen darin erkennen, als bestünde das Leichentuch aus winzigen Fetzen verkohlter Substanz. Es sah ein wenig wie die Luft über einem offenen Kohleofen aus, wo Stücke verbrannten Papiers über der flimmernden Hitze schweben.
Und er konnte zwei Geräusche hören, die einander überlagerten. Das obere war ein silbernes Seufzen. Der Wind könnte so ein Geräusch hervorbringen, dachte Ralph, wenn er lernen würde, wie man weint. Es war ein unheimliches Geräusch, aber das darunterliegende war regelrecht unangenehm – ein schlabberndes Kaugeräusch, als würde ganz in der Nähe ein riesiger Mund gewaltige Mengen Essen in sich hineinschaufeln.
Lois blieb stehen, als sie sich der dunklen, von Teilchen wimmelnden Haut des Leichentuchs näherten, und sah mit ängstlichen, bekümmerten Augen zu Ralph auf. Als sie ihn ansprach, sprach sie mit der Stimme eines kleinen Mädchens. »Ich glaube nicht, daß ich da durch kann.« Sie machte eine Pause, rang mit sich und brachte schließlich auch den Rest heraus: »Weißt du, es lebt. Das ganze Ding. Es sieht sie« – Lois zeigte mit dem Daumen über die Schulter auf die Leute auf dem Parkplatz und die Nachrichtenteams in der Nähe des Gebäudes -, »und das ist schlimm, aber es sieht auch uns, und das ist schlimmer… weil es weiß, daß wir es auch sehen können. Gefällt ihm nicht, wenn man es sieht. Wenn man es fühlt vielleicht, aber nicht, wenn man es sieht.«
Jetzt schien das unterschwellige Geräusch – das schmatzende Eßgeräusch – fast artikulierte Worte zu bilden, und je länger Ralph zuhörte, desto mehr wuchs seine Überzeugung, daß er recht hatte.
[Hinausss. Forrttt. Zieeeeht abb]
»Ralph«, flüsterte Lois. »Hörst du das?«
[Hasss euch. Töttt euch. Fressss euch.]
Er nickte und hielt sie wieder am Ellbogen. »Komm mit, Lois.« »Komm -? Wohin?«
»Runter. Bis ganz runter.«
Einen Moment sah sie ihn nur an und verstand nicht; dann dämmerte es ihr, und sie nickte. Ralph spürte, wie das Blinzeln in seinem Inneren stattfand – ein wenig stärker als das Liderflattern vor kurzer Zeit -, und plötzlich wurde der Tag um ihn herum klar. Die wirbelnde Smogbarriere vor ihnen schmolz und verschwand. Dennoch machten sie die Augen zu und hielten den Atem an, als sie sich der Stelle näherten, wo sich, wie sie wußten, der Rand des Leichentuchs befand. Ralph spürte, wie Lois seine Hand fester drückte, als sie durch die unsichtbare Barriere hastete, und als er selber hindurchging, schien ein dunkler Wirrwarr von Erinnerungen – der langsame Tod seiner Frau, der Verlust eines Lieblingshundes, als er noch ein Kind war, der Anblick von Bill McGovern, wie er sich bückte und die Hand auf die Brust drückte – zuerst seinen Geist einzuhüllen und ihn dann zu umklammern wie eine unbarmherzige Hand. Das silberne Schluchzen ertönte in seinen Ohren, so konstant und so grauenhaft leer; die weinende Stimme eines von Geburt an Schwachsinnigen.
Dann waren sie durch.
Kaum hatten sie den hölzernen Bogen auf der gegenüberliegenden Seite des Parkplatzes passiert (WIR SIND ZUM RENNEN IM BASSEY PARK! stand auf der Rundung geschrieben), zog Ralph Lois zu einer Bank und ließ sie sich setzen, obwohl sie vehement darauf beharrte, daß es ihr gut gehe.
»Gut. Aber ich brauche einen Moment, bis ich mich wieder unter Kontrolle habe.«
Sie strich eine Haarlocke aus seiner Schläfe und hauchte einen sanften Kuß auf die Vertiefung darunter. »Laß dir soviel Zeit, wie du brauchst, Liebling.«
Das waren, wie sich herausstellte, fünf Minuten. Als er hinreichend sicher war, daß er aufstehen konnte, ohne in den Knien einzuknicken, nahm Ralph wieder ihre Hand, und sie erhoben sich gemeinsam.
»Hast du sie gefunden, Ralph? Hast du seine Spur gefunden?«
Er nickte. »Damit wir sie sehen können, müssen wir zwei Sprünge nach oben machen. Zuerst habe ich versucht, nur soweit aufzusteigen, daß ich die Auren sehen kann, weil dann nicht alles schneller abzulaufen scheint, aber das hat nicht geklappt. Es muß ein wenig höher sein.«
»Gut.«
»Aber wir müssen vorsichtig sein. Denn wenn wir sehen können
–«
»Können wir auch gesehen werden. Ja. Und wir dürfen auch nicht vergessen, daß die Zeit verrinnt.«
»Auf gar keinen Fall. Bist du bereit?«
»Fast. Ich glaube, vorher brauche ich noch einen Kuß. Ein kleiner würde schon genügen.«
Er lächelte und gab ihr einen.
»Jetzt bin ich bereit.«
»Okay – gehen wir.«
Blinzel
Die rötlichen Farbflecken führten sie über den Bereich gestampfter Erde, wo während der Kirmeswoche die Mittelstraße verlief, dann zur Rennbahn, wo von Mai bis September Trabrennen stattfanden. Lois stand einen Moment vor dem brusthohen Bretterzaun, sah sich um und vergewisserte sich, daß niemand in der Nähe war, und dann zog sie sich hoch. Zuerst bewegte sie sich so behende wie ein junges Mädchen, aber als sie ein Bein auf die andere Seite geschwungen hatte und breitbeinig auf dem Zaun saß, hielt sie inne. Ein Ausdruck von Überraschung und Mißfallen beherrschte ihr Gesicht.
[»Lois? Alles in Ordnung?«]
[»Ja, bestens. Es ist meine verfluchte alte Unterwäsche! Ich muß abgenommen haben, weil sie einfach nicht bleiben will, wo sie hingehört! Um Himmels willen!«]
Ralph stellte fest, daß er nicht nur den Spitzensaum von Lois’ Slip sehen konnte, sondern acht oder neun Zentimeter rosa Nylon. Er unterdrückte ein Grinsen, während sie auf der breiten Abschlußplanke des Zauns saß und an dem Stoff zerrte. Er überlegte, ob er ihr sagen sollte, daß sie niedlicher als ein kleines Kätzchen aussah, entschied aber, daß das wahrscheinlich keine so gute Idee wäre.
[»Dreh dich gefälligst um, bis ich diesen verdammten Slip wieder richtig anhabe, Ralph. Und hör auf, so albern zu grinsen.«]
Er drehte ihr den Rücken zu und sah zum Bürgerzentrum. Wenn er gegrinst hätte (er hielt es für wahrscheinlicher, daß sie seiner Aura das Grinsen angesehen hatte), hätte der Anblick des dunklen, langsam kreisenden Leichentuchs ihm dies ziemlich schnell ausgetrieben.
[»Lois, vielleicht wäre es einfacher, wenn du ihn ausziehen würdest.«]
[»Bitte vielmals um Entschuldigung, Ralph Roberts, aber ich gehöre nicht zu den Frauen, die ihre Unterwäsche ausziehen und auf Rennbahnen herumliegen lassen, und wenn du jemals ein Mädchen gekannt hast, das das getan hat, dann hoffentlich bevor du Carolyn kennengelernt hast. Ich wünschte nur, ich hätte eine -«]
Das undeutliche Bild einer glänzenden Sicherheitsnadel in Ralphs Kopf.
[»Ich nehme nicht an, daß du eine hast, Ralph, oder?«]
Er schüttelte den Kopf und schickte selbst ein Bild zurück: Sand, der durch ein Stundenglas rieselte.
[»Schon gut, ich hab verstanden. Ich denke, ich hab es soweit hingekriegt, daß es zumindest noch eine Weile hält. Du kannst dich jetzt wieder umdrehen.«]
Er gehorchte. Sie ließ sich auf der anderen Seite des Zauns herunter, und zwar mit müheloser Selbstsicherheit, aber ihre Aura war sichtlich blasser geworden, und Ralph konnte wieder dunkle Ringe unter ihren Augen sehen. Die Revolution der Unterbekleidung war im Keim erstickt worden, jedenfalls vorübergehend.
Ralph zog sich hoch, schwang ein Bein über den Zaun und ließ sich auf der anderen Seite herunter. Es gefiel ihm, was er dabei empfand – alte, längst vergessene Erinnerungen schienen tief in seinen Zellen zu erwachen.
[»Wir müssen Energie tanken, bevor wir wieder emporsteigen, Lois.«]
Lois nickte resigniert: [»Ich weiß. Komm, gehen wir.«]
Sie folgten der Spur über die Rennbahn, kletterten über einen zweiten Bretterzaun und schlitterten dann einen überwucherten Hang zur Neibolt Street hinunter. Ralph sah, wie Lois durch ihren Rock verbissen den Slip hochhielt, während sie sich den Hang hinabquälten, und überlegte noch einmal, ob sie nicht besser dran wäre, wenn sie das verfluchte Ding einfach ausziehen würde, aber dann beschloß er erneut, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Wenn es sie ausreichend störte, würde sie es auch ohne weitere Anregung von ihm tun.
Ralphs größte Sorge – daß Atropos’ Spur einfach verschwinden würde – erwies sich als unbegründet. Die blassen rosa Flecken führten zwischen ungestrichenen Mietshäusern, die man schon vor Jahren hätte abreißen sollen, direkt zur unebenen und löchrigen Oberfläche der Neibolt Street hinunter. Zerrissene Wäschestücke flatterten an durchhängenden Leinen; die Autos, die am Bordstein parkten (in diesem Teil von Derry gab es keine Einfahrten oder Garagen), waren alt, rostig und größtenteils verdreckt. Schmutzige Kinder mit Rotznasen sahen von verstaubten Vorgärten aus hinter ihnen her. Einbildhübscher, etwa dreijähriger Junge mit zerzaustem Haar betrachtete sie zutiefst argwöhnisch von der Treppenstufe seiner Veranda, dann griff er sich mit einer Hand zwischen die Beine und machte mit dem Mittelfinger der anderen eine obszöne Geste.
Die Neibolt Street endete als Sackgasse am alten Bahnhofsgelände, und da verloren Ralph und Lois die Spur vorübergehend aus den Augen. Sie standen vor einem der Sägeböcke, mit denen ein uraltes, rechteckiges Kellerloch blockiert wurde – mehr war von dem alten Passagierbahnhof nicht mehr übrig -, und ließen die Blicke über den großen Halbkreis eines völlig verwilderten Brachgrundstücks schweifen. Rostrote Rangiergleise lugten unter einem Dickicht aus Sonnenblumen und Dornenranken hervor; Scherben von hundert zertrümmerten Flaschen funkelten im nachmittäglichen Sonnenlicht. Auf der Seite des alten Schuppens für die Dieselloks waren mit greller, pinkrosa Leuchtfarbe die Worte geschrieben: SUZY HAT MEIN DICKES ROHR GELUTSCHT. Diese sentimentale Botschaft stand in einem Kreis aus tanzenden Hakenkreuzen.
Ralph: [»Verdammt, wohin ist er gegangen?«]
[»Da unten, Ralph – siehst du?«]
Sie deutete auf das, was bis 1963 die Hauptverkehrsader gebildet hatte, heute aber nur ein rostiges Gleis unter vielen war, die ins Nichts führten. Sogar die meisten Schwellen waren verschwunden; sie waren entweder von den hiesigen Pennern als Lagerfeuer verbrannt worden, oder von Wanderarbeitern auf dem Weg zu den Kartoffelfeldern von Aroostook County und den Apfelhainen oder Fischgründen der Maritimes. Auf einer der wenigen verbliebenen Schwellen sah Ralph Flecken der rosa Sporen. Sie sahen frischer aus als die, denen sie in der Neibolt Street nachgegangen waren.
Er folgte dem Verlauf der halb verdeckten Schienen und versuchte, sich zu erinnern. Wenn ihn sein Gedächtnis nicht im Stich ließ, führte dieses Gleis um den städtischen Golfplatz herum zurück zur… nun, zurück zur West Side. Ralph vermutete, daß dies dasselbe stillgelegte Gleis war, das am Rand des Flughafens und an dem Picknickgelände vorbeiführte, wo Faye Chapin in diesem Augenblick möglicherweise über die Aufstellung des bevorstehenden Startbahn Drei Classic brütete.
Alles ist ein großer Kreis, dachte er. Wir haben fast drei verfluchte Tage gebraucht, aber ich glaube, letzten Endes werden wir wieder genau dort landen, wo wir angefangen haben… nicht im Paradies, sondern in der Harris Avenue.
»Hallo Leute! Was treibt ihr’n hier?«
Ralph glaubte fast, daß er die Stimme kannte, und dieser Eindruck wurde verstärkt, als er den Mann ansah, dem sie gehörte. Er stand hinter ihnen an der Stelle, wo der Bürgersteig der Neibolt Street schließlich den Geist aufgab. Er sah aus wie fünfzig, aber Ralph schätzte, daß er in Wirklichkeit fünf, vielleicht sogar zehn Jahre jünger sein konnte. Er trug ein Sweatshirt und alte, zerschlissene Jeans. Die Aura, die ihn umgab, war so grün wie ein Glas St. Patrick’s Day Bier. Das half Ralph endgültig auf die Sprünge. Es war der Penner, der ihn und Bill an dem Tag angesprochen hatte, als er Bill im Strawford Park fand, wo er wegen seines alten Freundes Bob Polhurst weinte… der ihn, wie sich herausstellte, doch noch überlebt hatte. Manchmal war das Leben komischer als Groucho Marx.
Ein eigentümliches Gefühl von Fatalismus stahl sich über Ralph, und damit einher ging ein intuitives Begreifen der Mächte, die sie nun umgaben. Er hätte darauf verzichten können. Es spielte kaum eine Rolle, ob diese Mächte gut oder böse waren, Plan oder Zufall; sie waren gigantisch, darauf kam es an, und vor ihnen wirkte alles, was Klotho und Lachesis über freie Entscheidung und freien Willen gesagt hatten, wie ein Witz. Ihm kam es so vor, als wären er und Lois mit Stricken an die Speichen eines gigantischen Rads gefesselt – eines Rads, das sie dorthin zurückrollte, woher sie gekommen waren, während es sie zugleich immer tiefer und tiefer in diesen schrecklichen Tunnel führte.
»Hamse ‘n bißchen Kleingeld übrig, Mister?«
Ralph sank ein kleines Stück herunter, damit der Penner ihn auch bestimmt hören konnte, wenn er sprach.
»Ich wette, Ihr Onkel hat Sie aus Dexter angerufen«, sagte Ralph. »Hat Ihnen gesagt, Sie könnten Ihren alten Job in der Fabrik wiederhaben… aber nur, wenn Sie heute noch dort aufkreuzen. Kommt das in etwa hin?«
Der Penner sah ihn überrascht und argwöhnisch blinzelnd an. »Nun… ja. So was in der Art.« Er suchte nach der Geschichte -die er wahrscheinlich inzwischen selbst mehr glaubte als alle, denen er sie erzählt hatte – und fand ihren zerschlissenen Faden wieder. »Iss’n guter Job, wissense? Und ich könnt ihn wiederha’m. Um zwei fährt’n Bus von Bangor nach Aroostook, kost aber fünffuffzich, uns bis jetzt hab ich nur’n Vierteldollar -«
»Sechsundsiebzig Cent haben Sie«, sagte Lois. »Zwei Vierteldollarmünzen, zwei Dimes, einen Nickel und einen Penny. Aber wenn man bedenkt, wieviel Sie trinken, sieht Ihre Aura überraschend gesund aus, das kann ich Ihnen sagen. Sie müssen die Konstitution eines Ochsen haben.«
Der Penner warf ihr einen verwirrten Blick zu, dann wich er einen Schritt zurück und wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab.
»Keine Bange«, beruhigte Ralph ihn, »meine Frau sieht überall Auren. Sie ist eine ausgesprochen spirituelle Person.«
»Tatsache?«
»Hm-hmm. Außerdem ziemlich großzügig, und ich glaube, sie hat was Besseres als nur ein bißchen Kleingeld für Sie. Richtig, Alice?«
»Er wird es nur versaufen«, sagte sie. »Es gibt keinen Job in Dexter.«
»Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte Ralph und faßte sie scharf ins Auge, »aber seine Aura sieht extrem gesund aus. Extrem.«
»Schätze, Sie ha’m auch Ihre spirituelle Ader, was?-«-sagte der Penner. Sein Blick glitt immer noch argwöhnisch zwischen Ralph und Lois hin und her, aber jetzt flackerte schwache Hoffnung in seinen Augen.
»Wissen Sie, das stimmt«, sagte Ralph. »Und die ist in letzter Zeit so richtig aufgeblüht.« Er schürzte die Lippen, als wäre ihm gerade ein interessanter Gedanke gekommen, und atmete ein. Ein hellgrüner Lichtstrahl schoß aus der Aura des Penners, überquerte die drei Meter zwischen ihm und Lois und drang in Ralphs Mund ein. Der Geschmack war deutlich und sofort zu identifizieren: Boone’s Farm Apfelwein. Rauh und derb, aber dennoch irgendwie angenehm – das Funkeln eines Arbeiters haftete ihm an. Mit dem Geschmack stellte sich auch ein Gefühl der Kraft ein, das war gut, außerdem eine scharf umrissene Klarheit des Denkens, und das war noch besser.
Inzwischen hielt Lois ihm einen Zwanzigdollarschein hin. Der Penner sah ihn aber nicht gleich; er sah stirnrunzelnd zum Himmel hinauf. In dem Moment schoß ein zweiter hellgrüner Strahl aus seiner Aura. Er schoß wie der gleißende Lichtstrahl einer Taschenlampe über das Unkraut neben dem Kellerloch und verschwand in Lois’ Mund und Nase. Der Geldschein in ihrer Hand zitterte kurz.
[»O Gott, das ist so gut! Schmeckt wie der Wein, den Paul immer getrunken hat, wenn er sich Samstag abends die Red Sox angesehen hat!«]
»Gottverdammte Düsenjäger von der Charleston Air Force Base!« schrie der Penner mißbilligend. »Solln die Schallmauer erst durchbrechen, wenn sie draußen über’m Meer sind! Ich hab mir fast in die Hose -« Sein Blick fiel auf den Geldschein zwischen Lois’ Fingern, und das Stirnrunzeln wurde noch tiefer. »Jetzt aber, wollnse mich verscheißern, oder was? Ich bin nich’ dumm, wissense. Ich trink vielleicht ab und zu mal gern einen, aber das macht mich noch lang nich’ dumm.«
Warten Sie nur ab, Mister, dachte Ralph. Das kommt noch.
»Niemand findet, daß Sie dumm sind«, sagte Lois. »Und es ist kein Witz. Nehmen Sie das Geld, Sir.«
Der Penner versuchte, seine finstere, argwöhnische Miene beizubehalten, aber nach einem weiteren eingehenden Blick auf Lois (und einem raschen Seitenblick zu Ralph), wurde sie von einem strahlenden, einnehmenden Lächeln verdrängt. Er ging auf Lois zu und streckte die Hand nach dem Geld aus, das er verdient hatte, ohne es überhaupt zu wissen.
Lois hob die Hand, bevor er den Geldschein nehmen konnte. »Aber denken Sie daran, daß Sie sich nicht nur etwas zu trinken, sondern auch etwas zu essen besorgen. Und Sie sollten sich vielleicht mal fragen, ob die Art und Weise, wie Sie leben, Sie glücklich macht.«
»Da haben Sie vollkommen recht!« rief der Penner enthusiastisch. Er ließ den Geldschein zwischen Lois’ Fingern nicht aus den Augen. »Auf jeden Fall, Ma’am! Auf der anderen Seite des Flusses ham sie ein Programm, Entziehung und Resozialisierung, wissense. Ich denk drüber nach. Wirklich. Ich denk jeden verdammten Tag drüber nach.« Aber sein Blick klebte nach wie vor an dem Zwanziger, und er sabberte fast. Lois warf Ralph einen kurzen, zweifelnden Blick zu, dann zuckte sie die Achseln und gab ihm den Schein. »Danke! Danke, Lady!« Er sah zu Ralph. »Diese Lady is ‘ne echte Prinzessin. Ich hoffe, Sie wissen das!«
Ralph schenkte Lois einen verliebten Blick. »Ja, das weiß ich durchaus«, sagte er.
Eine halbe Stunde später gingen die beiden zwischen den rostigen Schienen dahin, die in einer sanften Kurve am städtischen Golfplatz vorbeiführten… aber nach ihrer Begegnung mit dem Penner waren sie etwas höher über die Ebene der Kurzfristigen hinaufgestiegen (möglicherweise, weil der selbst ein bißchen high gewesen war), und sie gingen auch nicht gerade. Zum einen war wenig bis gar keine Kraftanstrengung erforderlich, und obwohl sich ihre Füße bewegten, kam es Ralph mehr wie ein Gleiten als wie ein Gehen vor. Und er war nicht sicher, ob man sie in der Welt der Kurzfristigen überhaupt sehen konnte; Eichhörnchen hüpften sorglos vor ihren Füßen herum und sammelten emsig Vorräte für den bevorstehenden Winter, und einmal sah er, wie Lois sich unvermittelt duckte, als ein Zaunkönig ihr fast einen Scheitel zog. Der Vogel wich aus und flatterte in die Höhe, als wäre ihm erst im letzten Moment klar geworden, daß sich ein Mensch in seiner Flugbahn befand. Die Golfspieler beachteten sie auch überhaupt nicht. In Ralphs Augen waren Golfspieler zwar ohnehin bis zur Besessenheit in ihr Spiel vertieft, trotzdem kam ihm dieser Mangel an Interesse extrem vor. Wenn er ein anständig angezogenes Paar gesehen hätte, das am hellichten Tag auf einem stillgelegten Gleis von GS&WM dahinspazierte, hätte er höchstwahrscheinlich eine kurze Auszeit genommen und sich gefragt, was sie im Schilde führen und wohin sie unterwegs sein mochten. Ich glaube, besonders neugierig wäre ich, weshalb die Dame ununterbrochen »Bleib, wo du bist, verflixtes Ding!« murmelte und dabei an ihrem Rock zupfte, dachte Ralph grinsend. Aber die Golfspieler warfen nicht einmal einen Blick zu ihnen herüber, obwohl ein Vierer auf dem Weg zum neunten Loch so nah an ihnen vorbei ging, daß Ralph hören konnte, wie sie sich Sorgen über eine sich abzeichnende Baisse auf dem Aktienmarkt machten. Der Gedanke, daß er und Lois wieder unsichtbar geworden waren – zumindest aber ziemlich konturlos – kam Ralph immer plausibler vor. Plausibel… und beunruhigend. Die Zeit vergeht schneller, wenn man weiter oben ist, hatte der alte Dor gesagt.
Die Spur wurde um so frischer, je weiter sie nach Westen kamen, und Ralph gefielen die Spritzer und Tropfen immer weniger. Wo der Glibber auf die Schienen getropft war, hatte er den Rost weggefressen wie ätzende Säure. Das Unkraut, auf das er getropft war, war schwarz und abgestorben-selbst das widerstandsfähigste war eingegangen. Als Ralph und Lois das dritte Grün des Golfplatzes von Derry passierten und in ein weiteres Dickicht von verkümmerten Bäumen und Unterholz eindrangen, zupfte Lois ihn am Ärmel. Sie zeigte nach vorne. Große Flecken von Atropos’ Ausscheidung glänzten wie ekelerregende Farbe auf den Stämmen der Bäume, die sich jetzt bis dicht an den Schienenstrang drängten, und in manchen Mulden zwischen den alten Schienen – wo einmal Schwellen gewesen waren, vermutete Ralph – standen ganze Lachen davon.
[»Wir nähern uns seinem Zuhause, Ralph.«]
[»Ja.«]
[»Was sollen wir tun, wenn er zurückkommt und uns dort findet?«]
Ralph zuckte die Achseln. Er wußte es nicht und war nicht sicher, ob es ihn kümmerte. Sollten sich die Mächte, die sie hier herumschoben wie Figuren auf einem Schachbrett – die Mr. K. und Mr. L. den Höheren Plan nannte -, sich darüber Gedanken machen. Sollte Atropos auftauchen, würde Ralph versuchen, dem kleinen kahlköpfigen Wichser die Zunge herauszureißen und ihn damit zu erdrosseln. Und wenn er damit jemandem auf die Füße trat, zu dumm aber auch. Er konnte keine Verantwortung für große Pläne und langfristige Geschäfte übernehmen; seine Aufgabe bestand jetzt darin, auf Lois aufzupassen, die gefährdet war, und zu versuchen, das Blutbad zu verhindern, das in wenigen Stunden hier in der Nähe stattfinden sollte. Und wer weiß? Vielleicht fand er sogar unterwegs noch etwas Zeit, seine eigene, zum Teil verjüngte Haut zu beschützen. Das alles mußte er tun, und wenn der bösartige kleine Pisser Ralph dabei in die Quere kam, würde einer von ihnen auf der Strecke bleiben. Und wenn das Mr. K. und Mr. L. nicht gefiel, hatten sie Pech gehabt.
Lois las das fast alles aus seiner Aura – er sah es ihrer eigenen an, als sie ihn am Arm berührte und er sich zu ihr umdrehte.
[»Was soll das bedeuten, Ralph? Daß du versuchen willst, ihn umzubringen, sollte er sich uns in den Weg stellen?«]
Er dachte darüber nach, dann nickte er.
[»Ja, ganz genau das soll es bedeuten.«] [»Ralph?«]
Er sah sie mit hochgezogenen Brauen an.