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Schlaflos
  • Текст добавлен: 12 октября 2016, 02:36

Текст книги "Schlaflos"


Автор книги: Stephen Edwin King


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Ужасы

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»Ja«, sagte sie. »Und jetzt schalt den verdammten Lautsprecher ab, Joe. Ich hab was, das nur für dich bestimmt ist.«

Wyzer gehorchte, lauschte und lachte, bis ihm Tränen in die Augen traten – für Ralph sahen sie wie strahlende flüssige Perlen aus. Dann schmatzte er zweimal ins Telefon und legte auf.

»Alles geregelt«, sagte er und gab Ralph die Visitenkarte von James Roy Hong, auf die er Tag und Uhrzeit des Termins geschrieben hatte. »Vierter Oktober, nicht toll, aber mehr konnte sie wirklich nicht tun. Annie ist ein guter Mensch.«

»Es genügt vollauf.«

»Hier ist die Karte von Anthony Forbes, falls Sie ihn in der Zwischenzeit anrufen wollen.«

»Danke«, sagte Ralph und nahm die zweite Karte. »Ich stehe in Ihrer Schuld.«

»Sie schulden mir nur einen weiteren Besuch, damit ich erfahre, wie es gelaufen ist. Ich bin besorgt. Es gibt Ärzte, die verschreiben nichts gegen Schlaflosigkeit, wissen Sie. Sie sagen, daß noch nie jemand an Schlafmangel gestorben ist, aber ich sage Ihnen, das ist Quatsch.«

Ralph nahm an, daß ihn das eigentlich hätte in Angst versetzen sollen, aber er fühlte sich ziemlich gelassen, zumindest im Augenblick. Die Erscheinungen waren verschwunden – der hellgraue Glanz in Wyzers Augen, als er über das lachte, was Hongs Vorzimmerdame zu ihm gesagt hatte, war die letzte gewesen. Er wiegte sich in dem Glauben, daß sie nur ein geistiges Zwischenspiel gewesen waren, das durch die Kombination von extremer Müdigkeit und Wyzers Anmerkungen über Hyperrealität hervorgerufen wurde. Und er hatte noch einen guten Grund für seine Zuversicht – er hatte einen Termin bei einem Mann, der diesem Mann durch eine ähnlich schlimme Zeit geholfen hatte. Ralph dachte sich, er würde sich von Hong mit Nadeln pieksen lassen bis er wie ein Stachelschwein aussah, wenn er hinterher wieder schlafen konnte, bis die Sonne aufging.

Und da war noch etwas: Die graue Aura war eigentlich gar nicht beängstigend gewesen. Sie war irgendwie… interessant.

»Andauernd sterben Menschen an Schlafmangel«, sagte Wyzer gerade, »aber der Leichenbeschauer schreibt normalerweise Selbstmord in die Spalte Todesursache, und nicht Schlaflosigkeit. Schlaflosigkeit und Alkoholismus haben vieles gemeinsam, aber das Wichtigste ist: Beides sind Krankheiten des Herzens und des Verstandes, und wenn man ihnen ihren Lauf läßt, vernichten sie die Seele normalerweise lange vor dem Körper. Daher kommt es doch vor, daß Leute an Schlafmangel sterben. Dies ist eine gefährliche Zeit für Sie, und Sie müssen gut auf sich achtgeben. Wenn Sie sich echt beschissen fühlen, rufen Sie Litchfield an. Haben Sie verstanden? Sitzen Sie nicht auf dem hohen Roß.«

Ralph verzog das Gesicht. »Ich glaube, eher werde ich Sie anrufen.«

Wyzer nickte, als hätte er fest damit gerechnet. »Die Nummer unter der von Hong ist meine«, sagte er.

Überrascht betrachtete Ralph die Karte wieder. Es stand tatsächlich eine zweite Nummer da, daneben die Buchstaben J.W.

»Tag und Nacht«, sagte Wyzer. »Wirklich. Sie werden meine Frau nicht stören; wir sind seit 1983 geschieden.«

Ralph wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Nur einen erstickten, sinnlosen Laut. Er schluckte heftig und versuchte, den Kloß in der Kehle zu beseitigen.

Wyzer sah, daß er mit den Tränen rang, und klopfte ihm auf die Schulter. »Kein Flennen im Laden, Ralph – das verschreckt die zahlungskräftigen Kunden. Möchten Sie ein Kleenex?«

»Nein, mir geht es gut.« Seine Stimme klang ein wenig wäßrig, aber verständlich und beherrscht.

Wyzer betrachtete ihn mit einem kritischen Blick. »Noch nicht, aber bald.« Wyzers gewaltige Hand verschluckte die von Ralph noch einmal, und diesmal machte sich Ralph keine Sorgen. »Versuchen Sie sich erst einmal zu entspannen. Und vergessen Sie nicht, seien Sie dankbar für den Schlaf, den Sie bekommen.«

»Okay. Nochmals danke.«_

Wyzer nickte und ging wieder hinter seinen Tresen.

Ralph ging durch den Gang 3 zurück, bog an dem formidablen Kondomschaukasten links ab und ging durch eine Tür hinaus, über deren Griff mit Abziehbuchstaben die Worte. DANKE, DASS SIE BEI RITE AID EINGEKAUFT HABEN standen. Zuerst dachte er sich nichts dabei, daß er in der grellen Helligkeit die Augen zukneifen mußte – immerhin war es Mittag, und womöglich war es in der Drogerie dunkler gewesen, als er gemerkt hatte. Dann machte er die Augen wieder weit auf, und der Atem stockte ihm in der Kehle.

Ein Ausdruck des Erstaunens, als wäre er vom Donner gerührt, breitete sich in seinem Gesicht aus. Es war der Ausdruck eines Entdeckers, der sich durch ein letztes Dickicht von Büschen gekämpft hat und plötzlich eine sagenhafte versunkene Stadt vor sich sieht, oder eine atemberaubende geologische Formation eine Diamantklippe oder einen spiralförmigen Wasserfall.

Ralph drückte sich an einen blauen Briefkasten, der neben dem Eingang der Drogerie stand, atmete immer noch nicht, und sein Blick schweifte hektisch von einer Seite auf die andere, während das Gehirn dahinter versuchte, die wunderbaren und schrecklichen Eindrücke zu verstehen, die es empfing.

Die Auren waren wieder da, aber das war etwa so, als würde man sagen, daß Hawaii ein Ort ist, wo man keinen Mantel tragen muß. Diesmal war das Licht überall, grell und fließend, seltsam und wunderschön.

Ralph hatte nur ein einziges Mal in seinem Leben ein Erlebnis gehabt, das mit diesem vergleichbar war. Im Sommer 1941, dem Jahr, als er achtzehn geworden war, war er per Daumen von Derry zur Farm seines Onkels in Poughkeepsie, New York, gereist, eine Strecke von rund vierhundert Meilen. Als am zweiten Tag seiner Reise ein Gewitter aufgekommen war, war er zum nächstbesten Unterschlupf gelaufen – einer verfallenen alten Scheune, die trunken am Ende einer langen Wiese schwankte. An diesem Tag war er mehr zu Fuß gegangen als gefahren, und er war fest in einer der längst verlassenen Pferdenischen der Scheune eingeschlafen, noch bevor das Donnergrollen droben am Himmel aufgehört hatte.

Am nächsten Tag war er am frühen Vormittag nach vierzehn Stunden Schlaf erwacht, hatte sich staunend umgesehen und im ersten Augenblick nicht gewußt, wo er sich befand. Er wußte nur, es war ein dunkler, süßlich riechender Ort, und in der Welt über ihm und ringsum waren funkelnde, leuchtende Nähte aufgeplatzt. Dann erinnerte er sich, wie er Zuflucht in der Scheune gesucht hatte, und dann merkte er, daß die seltsame Vision durch die Ritzen und Fugen in Wänden und Dach der Scheune, verbunden mit dem hellen Sommersonnenschein, verursacht worden war… nur das, sonst nichts. Trotzdem saß er weitere fünf Minuten stumm staunend da, ein Teenager mit großen Augen und Heu im Haar und von Spreu staubigen Armen; er saß da und sah zum flutenden Gold winziger Staubkörnchen hinauf, die träge in den schrägen Strahlen der Sonne tanzten. Er wußte noch, er hatte gedacht, daß es wie in einer Kirche war.

Dies war dasselbe Erlebnis in der zehnten Potenz. Und das Verflixte daran: Er konnte nicht genau beschreiben, was geschehen war, wie die Welt sich verändert hatte und so wunderschön werden konnte. Gegenstände und Menschen, besonders die Menschen, hatten Auren, ja, aber das war nur der Anfang dieses erstaunlichen Phänomens. Die Dinge waren noch niemals so gleißend gewesen, so durch und durch da. Die Autos, Telefonmasten, die Einkaufswagen vor dem Supermarkt, die Holzhäuser auf der anderen Straßenseite – das alles schien ihn anzuspringen wie 3 D-Bilder aus alten Filmen. Mit einem Mal war das schäbige kleine Einkaufszentrum in der Witcham Street zu einem Wunderland geworden, und obwohl Ralph es unmittelbar vor sich sah, war er nicht hundertprozentig sicher, was er sah, nur daß es bunt und atemberaubend und auf wundersame Weise fremdartig war.

Das einzige, das er isolieren konnte, waren die Auren der Leute, die in die Geschäfte gingen und herauskamen, die Tüten im Kofferraum verstauten oder in ihre Autos einstiegen und wegfuhren. Manche der Auren waren heller als andere, aber selbst die trübsten waren hundertmal heller als bei seinen ersten Blicken auf dieses Phänomen.

Aber es ist das, worüber Wyzer gesprochen hat, kein Zweifel. Es ist die Hyperrealität, und was du vor dir siehst, ist nichts weiter als die Halluzinationen von Leuten, die unter Einfluß von LSD stehen. Du siehst nur ein weiteres Symptom deiner Schlaflosigkeit, nicht mehr und nicht weniger. Schau es dir an, Ralph, und staune soviel du willst – es ist wunderbar -, nur glaub nicht daran.

Aber er mußte sich nicht zum Staunen ermuntern – es gab überall etwas zu staunen. Ein Bäckerwagen fuhr aus einem Parkplatz vor dem Day Break, Sun Down, und eine strahlende kastanienfarbene Substanz – fast die Farbe von getrocknetem Blut – kam aus dem Auspuff. Es handelte sich weder um Rauch noch um Dampf, aber es besaß einige Charakteristiken von beidem. Die Helligkeit nahm in allmählich steigenden Wellenspitzen zu, wie die Kurven eines EEG-Ausdrucks. Ralph schaute zu Boden und sah die Reifenspuren des Lasters im selben Kastanienton auf den Asphalt geprägt. Der Lastwagen beschleunigte, als er den Parkplatz verlassen hatte, und dabei nahm das geisterhafte Diagramm aus dem Auspuff die helle Farbe von arteriellem Blut an.

Allerorten war vergleichbar Seltsames zu sehen, Phänomene, die einander in schrägen Pfaden überschnitten, wobei Ralph wieder an das schräge Sonnenlicht denken mußte, das vor langer Zeit durch die Ritzen in Dach und Wänden der alten Scheune geschienen hatte. Aber das größte Wunder waren die Menschen, und um sie herum schienen die Auren am deutlichsten und schärfsten umrissen zu sein.

Ein Botenjunge kam aus dem Supermarkt; er schob einen Einkaufswagen voll Lebensmitteln vor sich her und war in den Nimbus eines so brillanten Weiß gehüllt, daß er wie ein wandelnder Scheinwerfer aussah. Im Vergleich dazu war die Aura der Frau neben ihm schäbig: die graugrüne Farbe von Käse, der zu schimmeln angefangen hat.

Ein junges Mädchen rief dem Botenjungen aus dem offenen Fenster eines Subaru etwas zu und winkte; ihre linke Hand hinterließ grelle Kondensstreifen, rosa wie Zuckerwatte, als sie sie in der Luft bewegte. Sie verblaßten, kaum daß sie erschienen waren. Der Junge grinste und winkte zurück; seine Hand hinterließ einen gelb-weißen Fächer hinter sich. Für Ralph sah er wie die Flosse eines tropischen Fischs aus. Auch der Fächer begann zu verblassen, aber langsamer.

Ralphs Angst vor dieser verwirrenden, funkelnden Vision war beträchtlich, aber zumindest im Augenblick nahm die Angst nach Staunen, Ehrfurcht und schlichter Fassungslosigkeit den vierten Platz ein. Aber das ist nicht real, ermahnte er sich. Vergiß das nicht, Ralph. Er versprach sich, daß er es versuchen würde, aber im Moment schien diese mahnende Stimme sehr weit entfernt zu sein.

Jetzt fiel ihm noch etwas auf: Eine Linie dieser lichten Helligkeit kam aus dem Kopf jedes Menschen, den er sehen konnte. Sie verlief nach oben wie eine Girlande aus Flaggen oder buntem Kreppapier, bis sie sich verjüngte und verschwand. Bei manchen Leuten verschwand sie anderthalb Meter über dem Kopf; bei anderen drei oder vier. In den meisten Fällen entsprach die Farbe der hellen, aufsteigenden Linie der restlichen Aura – zum Beispiel grellweiß bei dem Botenjungen, käsig graugrün bei der Kundin neben ihm -, aber es gab einige auffällige Ausnahmen. Ralph sah eine rostrote Linie von einem Mann in mittleren Jahren aufsteigen, der inmitten einer dunkelblauen Aura dahinschritt, und eine Frau mit hellgrauer Aura, deren aufsteigende Linie eine erstaunliche (und etwas beunruhigende) Magentafärbung hatte. In einigen Fällen -zweien oder dreien, nicht besonders vielen – waren die aufsteigenden Linien fast schwarz. Diese gefielen Ralph nicht, und er stellte fest, daß die Leute, zu denen diese »Ballonschnüre« gehörten (so einfach und schnell gab er ihnen im Geiste einen Namen), alle unwohl aussahen.

Logisch. Diese Ballonschnüre sind Indikatoren für Gesundheit… oder Krankheit, in manchen Fällen. Wie die Kirilian-Auren, von denen die Leute Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre so sehr fasziniert waren.

Ralph, warnte ihn eine andere Stimme, du siehst das alles nicht, okay? Ich meine, ich wiederhole mich nur ungern, aber -aber wäre es nicht mindestens möglich, daß das Phänomen doch echt war? Daß seine hartnäckige Schlaflosigkeit in Verbindung mit dem stabilisierenden Einfluß seiner lichten, zusammenhängenden Träume ihm einen Blick in eine sagenhafte Dimension eröffnet hatte, die außerhalb der Reichweite gewöhnlicher Wahrnehmung lag?

Hör auf damit, Ralph, und zwar sofort. Du solltest dir etwas Besseres einfallen lassen, sonst sitzt du am Ende im selben Boot wie der arme alte Ed Deepneau.

Als er an Ed dachte, wurden einige Assoziationen wachgerufen

– etwas, das er an dem Tag gesagt hatte, als er wegen Mißhandlung seiner Frau verhaftet worden war -, aber bevor Ralph sie isolieren konnte, sprach eine Stimme fast direkt neben seinem linken Ellbogen.

»Mom? Mommy? Können wir wieder die Honey-Nut Cheerios kaufen?«

»Das werden wir sehen, wenn wir drinnen sind, Liebes.«

Eine junge Frau und ein kleiner Junge gingen Hand in Hand vor ihm vorbei. Der Junge, der vier oder fünf zu sein schien, hatte gesprochen. Seine Mutter schritt in einer fast grellweißen Umhüllung dahin. Die »Ballonschnur«, die von ihrem kastanienfarbenen Haar aufstieg, war ebenfalls weiß und sehr breit – mehr wie das Band um eine hübsche Geschenkbox als eine Schnur. Sie stieg bis zu einer Höhe von mindestens sechs Metern hoch und wehte beim Gehen leicht hinter ihr her. Ralph mußte an Brautschmuck denken – Schleppen, Schleier, weiße, bauschige Röcke.

Die Aura ihres Sohns war gesund und dunkelblau, fast violett, und als die beiden vorübergingen, sah Ralph etwas Faszinierendes. Fäden der Auras stiegen auch von ihren ineinander verschlungenen Händen auf: weiß von der Frau, dunkelblau von dem Jungen. Sie waren verflochten wie ein Zopf, stiegen empor, verjüngten sich und verschwanden.

Mutter und Sohn, Mutter und Sohn, dachte Ralph. Die beiden Bänder, die umeinander geflochten waren wie wilder Wein, der an einem Pflock im Garten hinaufwuchs, hatten etwas Perfektes, etwas schlicht Symbolisches. Als er sie sah, jubilierte sein Herz – kitschig, aber genau so empfand er. Mutter und Sohn, blau-und-weiß, Mutter und»Mom, warum schaut der Mann so?«

Die Frau mit dem kastanienfarbenen Haar sah Ralph nur kurz an, aber ihm entging nicht, wie sie die Lippen zusammenkniff, bevor sie sich abwandte. Aber wichtiger war, daß er sah, wie die brillante Aura, die sie umgab, plötzlich dunkler wurde, sich zusammenzog und dunkelrote, spiralförmige Schattierungen bekam.

Das ist die Farbe der Angst, dachte Ralph. Oder vielleicht der Wut.

»Ich weiß nicht, Tim. Komm mit, hör auf herumzutrödeln.« Sie ging schneller, und ihr Pferdeschwanz wippte hin und her und hinterließ kleine graue, rotgemusterte Fächer in der Luft. Für Ralph sahen sie wie die Halbkreise aus, die Scheibenwischer manchmal auf schmutzigen Windschutzscheiben hinterließen.

»He, Mom, laß mich leben! Hör auf, so zu ziehen!« Der kleine Junge mußte laufen, damit er Schritt halten konnte.

Das ist meine Schuld, dachte Ralph und sah ein Bild vor sich, wie er für die junge Mutter ausgesehen haben mußte: alter Mann, müdes Gesicht, große, purpurne Tränensäcke unter den Augen. Er steht – lauert – am Briefkasten neben der Rite Aid Drogerie und starrt sie und ihren kleinen Jungen an, als wären sie das Bemerkenswerteste auf der Welt.

Was Sie auch ganz genau sind, Ma’am, wenn Sie es nur wüßten.

Für sie mußte er wie der größte Perversling aller Zeiten ausgesehen haben. Er mußte es wieder loswerden. Echt oder Halluzination spielte keine Rolle – er mußte dafür sorgen, daß es aufhörte. Wenn es ihm nicht gelang, würde jemand die Polizei oder die Männer mit den Schmetterlingsnetzen rufen. Möglicherweise würde die hübsche Mutter die Münzfernsprecher gleich neben der Haupttür des Markts zu ihrem ersten Ziel machen.

Er fragte sich gerade, wie man etwas zum Verschwinden bringen konnte, das sich nur im eigenen Kopf abspielte, als ihm klar wurde, daß es schon geschehen war. Ob übersinnliches Phänomen oder Halluzination, es war einfach verschwunden, während er darüber nachgedacht hatte, wie schrecklich er für die hübsche junge Mutter ausgesehen haben mußte. Der Tag war in sein normales Altweibersommerleuchten zurückgefallen, das wunderbar war, aber immer noch weit von diesem strahlenden, allumfassenden Glanz entfernt. Die Menschen, die über den Parkplatz der Einkaufspassage gingen, waren wieder nur Menschen: keine Auren, keine Ballonschnüre, kein Feuerwerk. Nur Menschen auf dem Weg, Lebensmittel im Shop ‘n Save einzukaufen oder ihre letzten Urlaubsbilder bei PhotoMat abzuholen oder einen Kaffee zum Mitnehmen im Day Break, Sun Down zu bestellen. Manche gingen vielleicht sogar ins Rite Aid, um eine Packung Fromms zu kaufen oder, Gott beschütze uns und stehe uns bei, ein SCHLAFMITTEL.

Nur gewöhnliche, alltägliche Mitbürger aus Derry, die ihren gewöhnlichen Alltagsverrichtungen nachgingen.

Ralph stieß den angehaltenen Atem mit einem Stoßseufzer aus und wappnete sich für eine Woge der Erleichterung. Die Erleichterung kam, aber nicht die Sturzflut, mit der er gerechnet hatte. Kein Gefühl, daß er gerade noch rechtzeitig vom Rand des Wahnsinns weggekommen war; kein Gefühl, daß er überhaupt am Rand eines Abgrunds gestanden hatte. Und doch wußte er genau, daß er nicht lange in einer so grellen und wunderbaren Welt leben konnte, ohne seine geistige Gesundheit in Gefahr zu bringen; es wäre, als hätte man einen Orgasmus, der vier Stunden dauert. So erlebten möglicherweise Genies und große Künstler die Welt, aber für ihn war das nichts; soviel Saft würde binnen kürzester Zeit seine Sicherungen durchbrennen, und wenn die Männer mit den Schmetterlingsnetzen kamen, ihm eine Spritze gaben und ihn mitnahmen, wäre er vielleicht froh darüber.

Sein am deutlichsten zu identifizierendes Gefühl war nicht Erleichterung, sondern eine Art angenehmer Melancholie, die er, wie er sich erinnerte, manchmal als sehr junger Mann nach dem Geschlechtsverkehr verspürt hatte. Die Melancholie war nicht tief, aber breit, sie schien die leeren Stellen seines Körpers und Geistes zu füllen, so wie eine zurückweichende Flut eine Schicht lockerer, fruchtbarer Erde zurückläßt. Er fragte sich, ob er jemals wieder einen so erschreckenden, erhabenen Augenblick der Epiphanie erleben würde. Er dachte, daß die Chancen ziemlich gut standen… zumindest bis nächsten Monat, bis James Roy Hong seine Nadeln in ihn steckte, oder bis Anthony Forbes seine goldene Taschenuhr vor seinen Augen schwenkte und ihm sagte, daß er sehr… sehr… müde werde. Möglicherweise würde es weder Hong noch Forbes gelingen, ihn von seiner Schlaflosigkeit zu heilen, aber falls doch, vermutete Ralph, würde er nach der ersten durchschlafenen Nacht aufhören, Auren und Ballonschnüre zu sehen. Und nach einem Monat oder so voll ruhiger Nächte, würde er wahrscheinlich vergessen, daß dies jemals geschehen war. Soweit es ihn betraf, war das ein ausreichend guter Grund, einen Anflug von Melancholie zu spüren.

Du solltest dich in Bewegung setzen, Kumpel – wenn dein neuer Freund zum Schaufenster der Drogerie heraussieht und du immer noch wie ein Trottel hier stehst, wird er wahrscheinlich selbst die Männer mit den Schmetterlingsnetzen rufen.

»Eher Dr. Litchfield anrufen«, murmelte Ralph und ging über den Parkplatz zur Harris Avenue.

5

Er steckte den Kopf zu Lois’ Eingangstür hinein und rief: »Yo! Jemand zu Hause?«

»Komm rein, Ralph!« rief Lois zurück. »Wir sind im Wohnzimmer!«

Ralph hatte sich immer vorgestellt, daß eine Hobbithöhle wie Lois Chasses Haus aussehen müßte, das etwa einen halben Block bergab vom Red Apple lag – hübsch und vollgestellt, möglicherweise ein bißchen zu dunkel, aber makellos sauber. Und er vermutete, ein Hobbit wie Bilbo Beutlin, dessen Interesse an seinen Vorfahren nur noch von dem Interesse übertroffen wurde, was es zum Essen gab, wäre bezaubert gewesen von dem winzigen Wohnzimmer, wo von jeder Wand Verwandte heruntersahen. Den Ehrenplatz über dem Fernseher beanspruchte eine verblaßte Studiofotografie des Mannes, den Lois stets als »Mr. Chasse« bezeichnete.

McGovern saß vornübergebeugt auf der Couch und balancierte einen Teller Makkaroni mit Käse auf den knochigen Knien. Der Fernseher war eingeschaltet, eine Spielshow ging gerade in die Bonusrunde.

»Was meint sie damit, wir sind im Wohnzimmer?« fragte Ralph, aber bevor McGovern antworten konnte, kam Lois mit einem dampfenden Teller in der Hand herein.

»Hier«, sagte sie. »Setz dich und iß. Ich habe mit Simone geredet, und sie sagte, daß es wahrscheinlich gleich in den Mittagsnachrichten kommen muß.«

»Herrje, Lois, das wäre doch nicht nötig gewesen«, sagte er, als er den Teller nahm, aber sein Magen knurrte laut, als der Geruch von Zwiebeln und geschmolzenem Cheddar aufstieg. Er sah auf die Uhr an der Wand – die man gerade noch zwischen Fotos eines Mannes im Waschbärmantel und einer Frau, die aussah, als würde Ju-du-di-huu-du zu ihrem Vokabular gehören, erkennen konnte – und stellte erstaunt fest, daß es fünf Minuten vor zwölf war.

»Ich habe nichts weiter getan, als ein paar Reste in die Mikrowelle zu stellen«, sagte sie. »Eines Tages, Ralph, werde ich einmal für dich kochen. Und jetzt setz dich.«

»Aber nicht auf meinen Hut«, sagte McGovern, ohne einen Blick von der Bonusrunde zu nehmen. Er nahm den Fedora von der Couch, warf ihn neben sich auf den Boden und machte sich wieder über seine Portion der Mahlzeit her. »Schmeckt ausgezeichnet, Lois.«

»Danke.« Sie sah gerade lange genug zu, bis eine der Kandidatinnen eine Reise nach Barbados und ein neues Auto eingesackt hatte, dann eilte sie wieder in die Küche. Die kreischende Gewinnerin wurde ausgeblendet und von einem Mann im zerknitterten Pyjama ersetzt, der sich im Bett herumwarf und wälzte. Er richtete sich auf und sah zur Uhr auf dem Nachttisch. Die zeigte 3:18, eine Tageszeit, mit der Ralph inzwischen ziemlich vertraut geworden war.

»Können Sie nicht schlafen?« fragte ein Sprecher teilnahmsvoll. »Haben Sie es satt, Nacht für Nacht wachzuliegen?« Eine kleine leuchtende Tablette kam zum Fenster des Schlaflosen hereingeschwebt. Ralph fand, sie sah wie die kleinste fliegende Untertasse der Welt aus, und es überraschte ihn nicht im geringsten, daß sie blau war.

Ralph setzte sich neben McGovern. Beide Männer waren schlank (hager wäre bei Bill sicher der zutreffendere Ausdruck gewesen), beanspruchten aber dennoch fast den gesamten Platz auf der Couch.

Lois kam mit ihrem eigenen Teller herein und setzte sich auf den Schaukelstuhl am Fenster. Über die Musik vom Band und den Studioapplaus, der das Ende der Show verkündete, sagte eine Frauenstimme: »Hier ist Lisette Benson. Schlagzeile der Nachrichten am Mittag: Eine bekannte Frauenrechtlerin willigt ein, in Derry zu sprechen, was zu Protesten – und sechs Verhaftungen – in einer Klinik der Stadt führt. Außerdem haben wir Chris Altoberg mit dem Wetter und Bob McClanahan mit dem Neuesten vom Sport. Bleiben Sie dran.«

Ralph schaufelte sich Makkaroni mit Käse in den Mund, sah auf und stellte fest, daß Lois ihn beobachtete. »Gut?« fragte sie.

»Köstlich«, sagte er, und das stimmte, aber er dachte, im Augenblick hätte ihm eine große Portion kalte frankoamerikanische Spaghetti direkt aus der Dose genauso gut geschmeckt. Er war nicht nur hungrig, er war heißhungrig.

Offenbar verbrauchte man eine Menge Kalorien, wenn man Auren sah.

»Kurz gesagt ist folgendes passiert«, sagte McGovern, schluckte den letzten Happen seines Essens hinunter und stellte den Teller neben seinen Hut. »Etwa achtzehn Leute sind heute morgen um halb neun vor dem Haus von Woman-Care aufgetaucht, als gerade Arbeitsbeginn war. Lois’ Freundin Simone sagt, sie bezeichnen sich selbst als >Friends of Life<, aber den Kern der Gruppe bilden die verschiedenen Irren und Wahnsinnigen, die früher unter dem Namen Daily Bread operierten. Sie hat gesagt, einer davon sei Charlie Pickering, den die Polizei offenbar Ende letzten Jahres gefaßt hat, als er gerade dabei war, einen Sprengsatz auf das Gebäude abzufeuern. Simones Nichte hat gesagt, die Polizei hätte nur vier Personen festgenommen. Offenbar hat sie sich ein wenig verschätzt.«

»War Ed wirklich dabei?« fragte Ralph.

»Ja«, sagte Lois, »und er wurde auch festgenommen. Aber zumindest wurde kein Tränengas eingesetzt. Das war ein Gerücht. Niemand wurde verletzt.«

»Diesmal«, sagte McGovern düster.

Das Symbol der Nachrichten am Mittag erschien auf Lois’ hobbitgroßem Farbfernseher und löste sich zu Lisette Benson auf. »Guten Tag«, sagte sie. »Schlagzeile heute an diesem schönen Sommertag: Die prominente Schriftstellerin und umstrittene Frauenrechtlerin Susan Day hat eingewilligt, nächsten Monat im Bürgerhaus zu sprechen. Die Bekanntgabe dieser Absicht führte zu einer Demonstration vor Woman-Care, dem Frauenzentrum in Derry mit angeschlossener Abtreibungsklinik, die die öffentliche Meinung gespalten -«

»Da kommen sie schon wieder mit dieser Abtreibungsklinik!« rief McGovern aus. »Herrgott!«

»Still«, sagte Lois in einem herrschenden Tonfall, der sich sehr von ihrem sonstigen zaghaften Murmeln unterschied. McGovern warf ihr einen überraschten Blick zu und verstummte.

»– John Kirkland bei Woman-Care mit dem ersten von zwei Berichten«, kam Lisette Benson zum Ende, und das Bild wechselte zu einem Reporter, der vor einem langen, flachen Back-Steingebäude stand. Eine Legende am unteren Bildschirmrand informierte die Zuschauer, daß es sich hier um eine LIVE VOR ORT-Reportage handelte. An einer Seite von Woman-Care verlief eine Fensterreihe. Zwei waren eingeworfen worden, mehrere andere mit roter Farbe beschmiert, die wie Blut aussah. Gelbes Absperrungsband der Polizei war zwischen dem Reporter und dem Gebäude gespannt; drei uniformierte Polizisten aus Derry und ein Beamter in Zivil standen in einer kleinen Gruppe am anderen Ende zusammen. Es überraschte Ralph nicht besonders, daß er in dem Polizisten John Leydecker erkannte.

»Sie nennen sich selbst Friends of Life, Lisette, und sie behaupten, ihre Demonstration heute morgen sei eine spontane Bekundung ihres Mißfallens nach Bekanntwerden der Neuigkeit gewesen, daß Susan Day – die von radikalen Pro-Life-Gruppen landesweit >Amerikas Babymörderin Nummer eins< genannt wird – nächsten Monat nach Derry kommen wird, um eine Rede im Bürgerhaus zu halten. Aber mindestens ein Beamter der Polizei von Derry glaubt nicht, daß es sich tatsächlich so abgespielt hat.«

Eine Bandaufzeichnung wurde in Kirklands Bericht eingespielt, angefangen mit einer Nahaufnahme von Leydecker, der resigniert das Mikrofon vor seinem Gesicht betrachtete.

»Diese Tat war ganz und gar nicht spontan«, sagte er. »Eindeutig wurden eine Menge Vorbereitungen getroffen. Wahrscheinlich waren sie schon die ganze Woche bereit und haben nur darauf gewartet, daß Susan Days Entscheidung, hierherzukommen und eine Rede zu halten, öffentlich bekanntgegeben würde, was heute morgen durch die Zeitung geschehen ist.«

Die Kamera splittete das Bild. Kirkland warf Leydecker seinen durchdringendsten Geraldo-Blick zu. »Was meinen Sie mit eine Menge Vorbereitungen?« fragte er.

»Die meisten Schilder, die sie dabei hatten, trugen Ms. Days Namen. Außerdem hatten sie mehr als ein Dutzend hiervon bei sich.«

Eine überraschend menschliche Regung stahl sich durch Leydeckers Polizist-wird-interviewt-Maske; Ralph hielt sie für Mißfallen. Er hob einen großen Probenbeutel aus Plastik, und Ralph war einen gräßlichen Augenblick davon überzeugt, daß sich ein zerquetschtes und blutiges Baby darin befände. Dann wurde ihm klar, daß es eine Puppe war, worum auch immer es sich bei der roten Substanz handeln mochte.

»Die haben sie nicht im K-Mart gekauft«, sagte Leydecker dem Fernsehreporter. »Das kann ich Ihnen garantieren.«

Die nächste Einstellung zeigte eine Weitwinkeltotale der beschmierten und eingeworfenen Scheiben. Die Kamera fuhr langsam daran entlang. Das Zeug auf den beschmierten Scheiben sah mehr denn je wie Blut aus, und Ralph entschied, daß er die letzten zwei oder drei Gabeln Makkaroni mit Käse nicht mehr wollte.

»Die Demonstranten kamen mit Babypuppen bewaffnet, deren Inneres mit einer Mischung aus Karo-Sirup und roter Lebensmittelfarbe gefüllt worden war«, sagte Kirkland aus dem Off. »Sie warfen die Puppen auf das Gebäude, während Anti-Susan-Day-Parolen gesungen wurden. Zwei Fenster wurden zertrümmert, aber sonst kam es nicht zu nennenswerten Schäden.«

Die Kamera blieb stehen und verweilte auf einer besonders schlimm verschmierten Scheibe.

»Die meisten Puppen sind aufgeplatzt«, sagte Kirkland, »und die Substanz, die verspritzt wurde, hatte so große Ähnlichkeit mit Blut, daß die Angestellten hier, die Zeugen des Bombardements wurden, einen ziemlichen Schrecken bekamen.«

Das Bild der verschmierten Scheibe wich dem einer reizenden dunkelhaarigen Frau in weiten Hosen und Pullover.

»Oh, seht euch das an, das ist Barbie!« rief Lois. »Herrje, ich hoffe, Simone sieht zu! Vielleicht sollte ich -«

Nun war McGovern derjenige, der sie zum Schweigen brachte.

»Ich hatte schreckliche Angst«, sagte Barbara Richards zu Kirkland. »Zuerst dachte ich, sie würden wirklich tote Babys oder Embryos werfen, die sie irgendwie in die Finger bekommen hatten. Auch nachdem Dr. Harper hier vorbeigelaufen war und gesagt hatte, daß es sich nur um Puppen handelte, war ich mir nicht sicher.«

»Sie sagten, sie haben gesungen?« fragte Kirkland.

»Ja. Am deutlichsten hörte ich: >Laßt den Todesengel nicht nach Derry kommen.<«

Der Bericht wechselte wieder zu Kirkland live am Schauplatz. »Die Demonstranten wurden heute morgen gegen neun Uhr von Woman-Care zum Polizeirevier von Derry in der Maine Street abtransportiert, Lisette. Soweit ich weiß, wurden zwölf verhört und wieder freigelassen; sechs weitere wurden wegen Ruhestörung angeklagt, ein geringfügiges Vergehen. Sieht so aus, als wäre ein weiterer Schuß im andauernden Gefecht um die Abtreibung in Derry abgefeuert worden. Das war John Kirkland mit den Nachrichten auf Kanal Vier.«

>»Ein weiterer Schuß im -<«, begann McGovern und warf die Arme hoch.

Lisette Benson war wieder auf dem Bildschirm erschienen. »Wir schalten jetzt um zu Anne Rivers, die vor weniger als einer Stunde mit zwei der sogenannten Friends of Life geredet hat, die nach der Demonstration heute morgen verhaftet wurden.«


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