Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Nein, das ist nicht alles, dachte Ralph. Sie hat ihn auch mitgenommen, weil sie glaubte, es wäre sicher, nachdem Pickering und seine Irren von Daily Bread alle tot sind. Sie mußte gedacht haben, daß sie ihren Sohn schlimmstenfalls vor ein paar schilderschwingenden Abtreibungsgegnern beschützen müßte, daß sie und ihren Sohn unmöglich gleich zweimal an einem Tag der Blitz treffen konnte, Ralph hatte zur Witcham Street gesehen. Jetzt wandte er sich wieder Klotho und Lachesis zu.
[»Seid ihr sicher, daß er dort ist? Ohne Zweifel?«]
Klotho: [Ja. Er sitzt neben seiner Mutter auf dem nördlichen Balkon und hat ein Poster von McDonald’s zum Anmalen und ein paar Märchenbücher dabei. Überrascht es Sie, daß eines der Bücher The 500 Hats of Bartholomew Cubbins ist?]
Ralph schüttelte den Kopf. Im Augenblick überraschte ihn gar nichts mehr.
Lachesis: [Deepneaus Flugzeug wird die Nordseite des Bürgerzentrums angreifen. Der kleine Junge wird auf der Stelle sterben, wenn nichts unternommen wird, um es zu verhindern… aber es darf nicht geschehen. Der Junge darf auf keinen Fall vor seiner planmäßigen Zeit sterben.]
Lachesis sah Ralph ernst an. Der blaugrüne Fächer aus Licht zwischen seinen Fingern war verschwunden.
[Wir können nicht weiter diskutieren, Ralph – er ist schon in der Luft, keine hundert Meilen von hier. Bald wird es zu spät sein, ihn aufzuhalten.]
Daraufhin geriet Ralph fast außer sich, blieb aber dennoch gelassen stehen. Schließlich wollten sie, daß er außer sich geriet. Daß sie beide außer sich gerieten.
[»Ich sage euch, daß das alles keine Rolle spielt, bis ich nicht verstanden habe, worum es eigentlich geht. Ich werde nicht zulassen, daß es eine Rolle spielt.«]
Klotho: [Dann hören Sie zu. Ab und zu kommt ein Mann oder eine Frau daher, deren Leben nicht nur seine direkte Umwelt oder auch nur alle in der Welt der Kurzfristigen beeinflußt, sondern auch diejenigen auf vielen Ebenen über und unter der Welt der Kurzfristigen. Diese Menschen sind die Großen, und ihr Leben dient immer dem Plan. Wenn sie zu früh geholt werden, verändert sich alles. Die Verhältnisse sind nicht mehr im Gleichgewicht. Können Sie sich beispielsweise vorstellen, wie verändert die Welt heute aussehen würde, wenn Hitler als Baby in der Badewanne ertrunken wäre? Sie denken vielleicht, die Welt wäre besser dran, aber ich kann Ihnen sagen, die Welt würde überhaupt nicht mehr existieren, wenn das geschehen wäre. Angenommen, Winston Churchill wäre an Lebensmittelvergiftung gestorben, bevor er Premierminister werden konnte? Angenommen, Augustus wäre totgeboren worden, von seiner eigenen Nabelschnur erwürgt? Aber die Person, die Sie retten sollen, ist viel wichtiger als sie alle.]
[»Verdammt, Lois und ich haben den Jungen schon einmal gerettet! Ist der Fall damit nicht abgeschlossen und er wieder dem Plan zurückgegeben?«]
Lachesis, geduldig: [Ja, aber er ist nicht sicher vor Ed Deepneau, denn Deepneau hat weder im Plan noch im Zufall eine Bestimmung. Von allen Menschen auf der Welt kann nur Deepneau ihm ein Leid zufügen, bevor seine Zeit gekommen ist. Wenn Deepneau scheitert, ist der Junge wieder sicherer, wird seine Zeit ruhig verbringen, bis sein Augenblick gekommen ist und er die Bühne betritt, um seine kurze aber bedeutende Rolle zu spielen.]
[»Demnach bedeutet ein Leben so viel?«]
Lachesis: [Ja. Wenn dieses Kind stirbt, wird der Turm der gesamten Existenz fallen, und die Folgen dieses Falls übersteigen Ihre Vorstellungskraft. Und unsere ebenfalls.]
Ralph betrachtete einen Moment seine Schuhe. Sein Kopf schien tausend Pfund zu wiegen. Er hatte es hier mit einer Ironie zu tun, die er trotz seiner Müdigkeit mühelos begreifen konnte. Atropos hatte Ed in Bewegung gesetzt, indem er einen möglicherweise bereits latent vorhandenen Messiaskomplex zu hellen Flammen entfacht hatte. Ed sah nicht – und würde es auch nicht glauben, wenn man es ihm sagen würde -, daß Atropos und seine Bosse auf den höheren Ebenen ihn nicht benutzen wollten, um den Messias zu retten, sondern um ihn zu töten.
Er sah wieder in die ängstlichen Gesichter der beiden kahlköpfigen Ärzte.
[»Okay, ich habe keine Ahnung, wie ich Ed aufhalten soll, aber ich werde es versuchen.«]
Klotho und Lachesis sahen einander an und ließen beide dasselbe (und ausgesprochen menschliche) Lächeln der Erleichterung sehen. Ralph hob mahnend einen Finger.
[»Moment. Ihr habt noch nicht alles gehört.«]
Das Lächern erlosch.
[»Ich will etwas von euch zurück. Ein Leben. Ich tausche das Leben eures vierjährigen Jungen gegen -«]
Sie hörte das Ende davon nicht mehr; seine Stimme sank einen Augenblick unter die Schwelle des Hörbaren, aber als Lois sah, wie zuerst Klotho und dann Lachesis die Köpfe senkten, verließ sie der Mut.
Lachesis: [Ich verstehe Ihre Zwickmühle, zumal Atropos ganz sicher tun kann, was er angedroht hat. Aber Sie müssen einsehen, daß dieses eine Leben kaum so bedeutend ist wie -]
Ralph: [»Aber für mich schon, begreift ihr nicht? Für mich schon. Ihr Jungs müßt in die Köpfe bekommen, daß für mich beide Leben gleich wichtig sind -«]
Sie verstand wieder nicht alles, aber Klotho konnte sie deutlich verstehen; er war dermaßen verzweifelt, daß er fast winselte.
[Aber das ist etwas anderes! Das Leben dieses Jungen ist etwas anderes!]
Jetzt hörte sie Ralph deutlich sprechen (wenn man es überhaupt als sprechen bezeichnen konnte), und zwar mit einer furchtlosen, unerbittlichen Logik, bei der Lois an ihren Vater denken mußte.
[»Alle Leben sind verschieden. Alle sind wichtig oder keines ist wichtig. Das ist selbstverständlich nur meine engstirnige Kurzfristigenansicht, aber ich denke, ihr Jungs werdet euch damit abfinden müssen, da ich derjenige mit dem Hammer bin. Es läuft darauf hinaus: Ich mache einen Tausch. Das Leben, das euch wichtig ist, gegen das Leben, das mir wichtig ist. Ihr müßt mir nur euer Wort geben, dann sind wir uns einig.«]
Lachesis: [Ralph, bitte! Bitte verstehen Sie doch, daß wir das wirklich nicht dürfen!]
Es folgte ein langer Augenblick des Schweigens. Als Ralph wieder das Wort ergriff, war seine Stimme leise, aber trotzdem hörbar. Es war allerdings das letzte völlig deutlich Verständliche, das Lois von der Unterhaltung mitbekam.
[»Es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen nicht können und nicht dürfen, meint ihr nicht auch?«]
Klotho sagte etwas, aber Lois verstand nur den zusammenhanglosen Ausdruck:
[Handel könnte möglich sein.]
Lachesis schüttelte heftig den Kopf. Ralph antwortete, und Lachesis antwortete mit einer grimmigen knappen Schneidegeste mit den Fingern.
Überraschenderweise reagierte Ralph darauf mit einem Lachen und einem Nicken.
Klotho legte seinem Kollegen eine Hand auf den Arm und unterhielt sich ernst mit ihm, bevor er sich wieder an Ralph wandte.
Lois verschränkte die Hände im Schoß und wünschte sich, sie würden zu einer Art Einigung gelangen. Irgendeiner Einigung, die Ed Deepneau daran hindern würde, die vielen Menschen zu töten, während sie hier nur herumstanden und redeten.
Plötzlich wurde der Hügel von gleißendem weißen Licht erhellt. Zuerst glaubte Lois, es käme vom Himmel herab, aber das lag nur daran, daß Mythos und Religion ihr beigebracht hatten zu glauben, daß der Himmel Ursprung aller übernatürlichen Erscheinungen war. In Wirklichkeit schien es von überall zu kommen – den Bäumen, dem Himmel, dem Boden, sogar aus ihr selbst, es strömte wie ein helles Nebelband aus ihrer Aura.
Dann ertönte eine Stimme… oder besser gesagt, eine STIMME. Sie sprach nur drei Worte, aber die hallten in Lois’ Kopf wie eherne Glocken.
[SO SEI ES.]
Sie sah Klotho, dessen kleines Gesicht eine Maske des Grauens und der Ehrfurcht war, in die Tasche greifen und die Schere herausholen. Er zitterte und ließ sie fast fallen, ein Zeichen von Nervosität, bei dem sich Lois richtig mit ihm verbunden fühlte. Dann hielt er sie aufgeklappt hoch, in jeder Hand einen Griff.
Die drei Worte ertönten wieder:
[SO SEI ES.]
Diesmal folgte aber ein so grelles Leuchten, daß Lois einen Moment glaubte, sie wäre blind geworden. Sie schlug die Hände vor die Augen, sah aber – im letzten Augenblick, als sie noch etwas sehen konnte -, daß sich das Licht in der Schere sammelte, die Klotho wie einen zweizackigen Blitzableiter hochhielt.
Es gab kein Entrinnen vor diesem Licht; es verwandelte ihre Lider und ihre erhobenen, die Augen abschirmenden Hände in Glas. Das Leuchten zeichnete die Knochen ihrer Finger wie bei einer Röntgenaufnahme ab, als es durch ihre Hand strömte. Weit entfernt hörte sie eine Frau, die sich verdächtig nach Lois Chasse anhörte, innerlich mit lauter Stimme sprechen:
[»Abschalten! Mein Gott, bitte schaltet es ab, bevor es mich umbringt!«]
Und als sie glaubte, sie könne es nicht mehr länger aushalten, begann das Licht endlich zu verblassen. Als es erloschen war -abgesehen von einem leuchtenden blauen Phantombild, das in der Dunkelheit schwebte wie eine Geisterschere -, schlug sie langsam die Augen auf. Einen Augenblick sah sie nichts als das gleißende blaue Kreuz und dachte, sie wäre wirklich erblindet. Dann kehrte die Welt zurück, zuerst vage wie bei einer Fotografie, die gerade entwickelt wird. Sie sah Ralph, Klotho und Lachesis, die ebenfalls die Hände sinken ließen und sich mit der blinden Bestürzung von Maulwürfen umsahen, deren Bau von einer Pflugschar freigelegt worden ist.
Lachesis betrachtete die Schere in der Hand seines Kollegen, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen, und Lois wäre jede Wette eingegangen, daß er sie noch nie wie jetzt gesehen hatte. Die Scherenblätter leuchteten immer noch und verströmten geisterhaften Feenschimmer von Licht wie Nebeltröpfchen.
Lachesis: [Ralph! Das war…]
Den Rest bekam sie nicht mit, aber er sprach im Tonfall eines gewöhnlichen Bauern, der zur Tür geht, weil es geklopft hat, und feststellt, daß der Papst auf ein Gebet und eine kleine Beichte vorbeigekommen ist.
Klotho starrte immer noch die Blätter seiner Schere an. Ralph ebenfalls, aber sein Blick wanderte zu den kleinen Ärzten.
Ralph: [»… die Schmerzen?«]
Lachesis, wie ein Mann, der aus einem tiefen Traum erwacht: [Ja… wird nicht lange dauern, aber… Schmerzen werden gewaltig sein… Meinung geändert, Ralph?]
Plötzlich hatte Lois Angst vor dieser leuchtenden Schere. Sie wollte Ralph zurufen, er solle sein Leben vergessen und den beiden einfach ihres geben, den kleinen Jungen, den sie unbedingt haben wollten. Sie wollte ihm sagen, daß er alles tun sollte, was sie wollten, damit sie die Schere wieder wegsteckten.
Aber weder aus ihrem Mund noch aus ihrem Geist kamen Worte.
Ralph: [»… im geringsten… wollte nur wissen, was ich zu erwarten habe.«]
Klotho: [… fertig?… muß sein…]
Sag nein, Ralph, dachte sie. Sag NEIN!
Ralph: [»… bereit.«]
Lachesis: [Verstehen… seine Bedingungen… und den Preis?] Ralph, jetzt sichtlich ungeduldig: [»Ja, ja. Können wir jetzt bitte«]
Klotho, mit großem Ernst: [Nun gut, Ralph. So sei es.]
Lachesis legte einen Arm um Ralphs Schultern; er und Klotho führten ihn ein Stück weiter bergab zu der Stelle, wo die jüngeren Kinder im Winter ihre Schlittenfahrten begannen. Dort befand sich eine flache, kreisrunde Stelle, etwa so groß wie die Bühne eines Nachtclubs. Als sie dort angekommen waren, hielt Lachesis Ralph auf, dann drehte er ihn herum, so daß er und Klotho einander gegenüberstanden.
Plötzlich wollte Lois die Augen schließen, stellte aber fest, daß sie es nicht konnte. Sie konnte nur zusehen und beten, daß Ralph wußte, was er tat.
Klotho unterhielt sich murmelnd mit ihm. Ralph nickte und zog den Pullover aus. Er faltete ihn zusammen und legte ihn ordentlich auf das laubbedeckte Gras. Als er sich wieder aufrichtete, ergriff Klotho seinen rechten Arm am Handgelenk und hielt ihn starr ausgestreckt. Dann nickte er Lachesis zu, der Ralphs Manschettenknopf öffnete und mit drei raschen Bewegungen den Ärmel bis zum Ellbogen hochkrempelte. Als das geschehen war, drehte Klotho Ralphs Arm so, daß das Handgelenk nach oben zeigte. Die feinen blauen Adern dicht unter der Haut des Unterarms waren deutlich zu sehen und von feinen Schnörkeln der Aura betont. Das alles kam Lois schrecklich vertraut vor: als würde sie sehen, wie ein Patient in einer Krankenhausfernsehserie für die Operation vorbereitet wurde.
Aber dies war nicht das Fernsehen.
Lachesis beugte sich nach vorne und sagte wieder etwas. Sie konnte die Worte immer noch nicht hören, aber Lois wußte, er sagte Ralph, daß dies seine letzte Chance war.
Ralph nickte, und obwohl seine Aura Lois verriet, daß er große Angst vor dem hatte, was ihm bevorstand, brachte er sogar ein Lächeln zustande. Als er sich zu Klotho umdrehte und auf ihn einsprach, schien er keine Beruhigung zu suchen, sondern tatsächlich ein Wort des Trostes zu sprechen. Klotho versuchte, Ralphs Lächeln zu erwidern, aber ohne Erfolg.
Lachesis legte eine Hand um Ralphs Handgelenk, allerdings (so kam es Lois jedenfalls vor) mehr um den Arm zu stützen, als um ihn tatsächlich reglos zu halten. Er erinnerte sie an eine Schwester, die einem Patienten beisteht, der eine schmerzhafte Injektion bekommt. Dann sah er seinen Partner mit ängstlichen Augen an und nickte. Klotho nickte ebenfalls, holte tief Luft und beugte sich dann über Ralphs Unterarm mit dem geisterhaften Baum blauer Venen, die unter der Haut zu sehen waren. Er hielt einen Moment inne, dann klappte er langsam die Schere auf, mit der er und sein alter Freund das Leben gegen den Tod eintauschten.
Lois kam schwankend auf die Füße und stand unsicher auf Beinen, die sich wie toter Ballast anfühlten. Sie wollte die Lähmung überwinden, die sie in diesem schrecklichen Schweigen gefangenhielt, wollte Ralph zurufen, daß er aufhören sollte – ihm sagen, daß er nicht wußte, was sie mit ihm vorhatten.
Aber er wußte es. Sie sah es an seinem blassen Gesicht, den halb geschlossenen Augen, den schmerzlich zusammengepreßten Lippen. Am deutlichsten aber sah sie es an den schwarzen und roten Flecken, die durch seine Aura rasten wie Meteore, und an der Aura selbst, die sich zu einer harten, blauen Hülle zusammengezogen hatte.
Ralph nickte Klotho zu, der die Schere senkte, bis sie Ralphs Unterarm dicht unter dem Knick des Ellbogens berührte. Einen Augenblick wurde die Haut nur eingedrückt, dann bildete sich eine glatte, dunkle Blutblase, wo die Falte gewesen war. Die Schneide glitt in diese Blase. Als Klotho die Finger spannte und die Scherenblätter zusammendrückte, schnellte die Haut auf beiden Seiten des Längsschnitts zurück wie Jalousien. Das Unterhautfettgewebe glänzte wie schmelzendes Eis im grellen blauen Leuchten von Ralphs Aura. Lachesis hielt Ralphs Handgelenk fester, aber soweit Lois sehen konnte, unternahm Ralph nicht einmal ansatzweise den Versuch, sie zurückzuziehen, er senkte nur den Kopf und ballte die linke Hand zur Faust wie ein Mann, der den Black-Power-Gruß ausführt. Sie konnte die Sehnen an seinem Hals wie Kabel hervortreten sehen. Aber kein Laut kam über seine Lippen.
Jetzt, wo der schreckliche Vorgang tatsächlich begonnen hatte, handelte Klotho mit einer Schnelligkeit, die barmherzig und brutal zugleich war. Er führte rasch einen Schnitt an Ralphs Arm entlang bis zum Handgelenk aus, so wie ein Mann ein fest zugeklebtes Päckchen mit einer Schere öffnen würde, wobei er die Schneide mit den Fingern führte und mit dem Daumen niederdrückte. In Ralphs Arm glänzten Sehnen wie die Schnittflächen von Steaks. Blut lief in Rinnsalen herab, und jedesmal, wenn eine Ader durchschnitten wurde, spritzte es auf. Bald verunzierten Spritzer die weißen Kittel der beiden kleinen Männer, wodurch sie mehr denn je wie kleine Ärzte aussahen.
Als die Schere schließlich die Bänder an Ralphs Handgelenken durchschnitt (die »Operation« dauerte keine drei Sekunden, kam Lois aber wie eine Ewigkeit vor), nahm Klotho die tropfende Schere weg und gab sie Lachesis. Ralphs nach oben gedrehter Arm war vom Ellbogen bis zum Handgelenk aufgeschnitten worden, eine dunkle Furche. Klotho preßte die Hand auf den Ursprung dieser Furche, und Lois dachte: Jetzt wird der andere Ralphs Pullover aufheben und einen Druckverband daraus machen. Aber Lachesis tat nichts dergleichen; er hielt nur die Schere und sah zu.
Einen Augenblick floß das Blut noch zwischen Klothos Fingern hervor, dann hörte es auf. Er zog langsam die Hand an Ralphs Arm hinunter, und die Haut, die unter seinem Griff hervorkam, war unversehrt und fest, aber von einem dicken, weißen Strang Narbengewebe verunziert.
[Lois… Lo-isssss…]
Diese Stimme kam weder aus ihrem Kopf noch von der Stelle bergab; sie kam von hinter ihr. Eine leise Stimme, fast einschmeichelnd. Atropos? Nein, ganz und gar nicht. Sie sah nach unten und erblickte ein grünes und irgendwie versunkenes Licht, das um sie herum schwebte – es strahlte zwischen ihren Armen und Beinen, sogar zwischen ihren Fingern hindurch. Es versetzte ihren hageren und irgendwie verzerrten Schatten in wallende Bewegung, wie den Schatten einer Gehenkten. Es liebkoste sie mit kalten Fingern, die die Farbe von graugrünen Flechten hatten.
[Dreh dich um, Lo-isss… ]
In diesem Augenblick wollte sich Lois als allerletztes auf der Welt umdrehen und die Quelle dieses grünen Lichts ansehen.
[Dreh dich um, Lo-isss… sieh mich an, Lo-isss… komm ins Licht, Lo-isss… komm ins Licht… sieh mich an und komm ins Licht… ]
Es war unmöglich, der Stimme zu widerstehen. Lois drehte sich so langsam wie eine Ballerina um, deren Gelenke eingerostet sind, und in ihren Augen schien Elmsfeuer zu flackern.
Lois kam ins Licht.
Kapitel 28
Klotho: [Jetzt haben Sie Ihr sichtbares Zeichen, Ralph-sind Sie zufrieden?]
Ralph betrachtete seinen Arm. Die Schmerzen, die ihn verschluckt hatten, wie der Wal Jonas verschluckt hatte, kamen ihm bereits wie ein Traum oder ein Trugbild vor. Er vermutete, daß derselbe Akt der Distanzierung es Frauen ermöglichte, viele Babys zu bekommen, weil sie nach jeder vollbrachten Geburt die starken Schmerzen und Anstrengungen vergaßen. Die Narbe sah wie eine unregelmäßige weiße Kordel aus, die sich über die Wölbungen seiner kümmerlichen Muskeln spannte.
»Ja. Ihr wart tapfer und sehr schnell. Für beides danke ich euch.«]
Klotho lächelte, sagte aber nichts.
Lachesis: [Ralph, sind Sie bereit? Die Zeit wird jetzt sehr knapp.]
[»Ja, ich bin -«]
[»Ralph! Ralph!«]
Das war Lois, die oben auf dem Hügel stand und ihm winkte. Einen Augenblick hatte ihre Aura den normalen taubengrauen Farbton verloren und eine andere, dunklere Tönung angenommen, aber dann verschwand der Eindruck, der zweifellos von dem Schock und seiner Müdigkeit herrührte. Er stapfte den Hügel hinauf zu ihr.
Lois’ Augen waren distanziert und benommen, als hätte sie gerade ein erstaunliches Wort vernommen, das ihr Leben verändern würde.
[»Lois, was ist denn? Was hast du? Ist es mein Arm? Wenn ja, mußt du dir keine Sorgen machen. Schau her! So gut wie neu!«]
Er hielt ihn hoch, damit sie sich selbst vergewissern konnte, aber Lois sah ihn nicht an. Statt dessen sah sie ihm ins Gesicht, und er erkannte das Ausmaß ihres Schocks.
[»Ralph, ein grüner Mann ist gekommen.«]
Ein grüner Mann? Er ergriff sofort besorgt ihre Hände.
[»Grün? Bist du sicher? War es nicht Atropos oder -«]
Er führte den Gedanken nicht zu Ende. Es war nicht nötig.
Lois schüttelte langsam den Kopf.
[»Es war ein grüner Mann. Wenn es in diesem Spiel Seiten gibt, weiß ich nicht, auf welcher dieser… diese Person… steht. Er schien gut zu sein, aber ich könnte mich irren. Ich konnte ihn nicht sehen. Seine Aura war zu grell. Er sagte mir, daß ich dir die hier wiedergeben soll.«]
Sie streckte die Hand aus und ließ zwei kleine, glitzernde Gegenstände auf seine Handfläche fallen: ihre Ohrringe. Er konnte auf einem einen kastanienfarbenen Fleck sehen und vermutete, daß das Atropos’ Blut war. Er wollte die Hand darum schließen, zuckte aber zusammen, als er einen stechenden Schmerz verspürte. Er betrachtete seine Fingerspitze und sah wieder Blut – diesmal sein eigenes.
[»Du hast die Verschlüsse vergessen, Lois.«]
Sie sprach langsam und nuschelnd, wie eine Frau in einem Traum.
[»Nein, habe ich nicht – ich habe sie weggeworfen. Der grüne Mann hat es gesagt. Sei vorsichtig. Er schien… gütig…zu sein, aber ich bin mir nicht sicher, oder? Mr. Chasse hat immer gesagt, ich wäre die leichtgläubigste Frau auf der Welt und immer bereit, von allen nur das Beste zu denken. Von jedem.«]
Sie streckte langsam die Hand aus und ergriff seine Handgelenke, während sie ihm ununterbrochen ernst ins Gesicht sah.
»Ich weiß es einfach nicht.«
Daß sie den Gedanken laut aussprach, schien sie aufzuwecken, und sie schaute ihn blinzelnd an. Ralph vermutete, es wäre möglich – gerade noch denkbar -, daß sie tatsächlich geschlafen, daß sie diesen sogenannten »grünen Mann« geträumt hatte. Aber vielleicht wäre es klüger, einfach die Ohrringe zu nehmen. Sie bedeuteten vielleicht nichts, aber andererseits konnte es auch nicht schaden, Lois’ Ohrringe in der Tasche zu haben… das heißt, wenn er sich nicht daran piekste.
Lachesis: [Ralph, was ist denn? Stimmt etwas nicht?]
Er und Klotho waren langsam nachgekommen und hatten daher Ralphs Gespräch mit Lois nicht mitbekommen. Ralph schüttelte den Kopf und drehte die Hand, um die Ohrringe vor ihnen zu verbergen. Klotho hatte seinen Pullover aufgehoben und strich die wenigen bunten Blätter weg, die daran klebten. Dann hielt er ihn Ralph hin, der unauffällig Lois’ Ohrringe ohne die Verschlüsse in der Tasche verschwinden ließ, bevor er ihn wieder anzog.
Es wurde Zeit zu handeln, und die warme Linie in der Mitte seines Arms – entlang der Narbe – sagte ihm, womit er anfangen mußte.
[»Lois?«]
[»Ja, Darling?«]
[»Ich muß von deiner Aura nehmen, und zwar eine Menge. Verstehst du das?«]
[»Ja.«]
[»Ist das in Ordnung?«]
[»Ja, selbstverständlich.«]
[»Sei tapfer – es wird nicht lange dauern.«]
Er legte die Arme um ihre Schultern und verschränkte die Hände hinter ihrem Nacken. Sie wiederholte die Geste, dann beugten sie sich langsam zueinander, bis sie sich mit der Stirn berührten und ihre Lippen keine drei Zentimeter mehr auseinander waren. Er konnte noch Parfüm an ihr riechen -möglicherweise aus den dunklen, süßen Vertiefungen hinter ihren Ohren.
[»Bist du bereit, Liebste?«]
Was sie antwortete, fand er seltsam und tröstlich zugleich.
[»Ja, Ralph. Sieh mich an. Komm ins Licht. Komm ins Licht und nimm das Licht.«]
Ralph schürzte die Lippen und begann einzuatmen. Ein breites Band rauchigen Lichts strömte aus ihrem Mund und ihrer Nase in ihn. Seine Aura wurde augenblicklich heller, so lange, bis sie eine grelle, wolkige Korona um ihn herum bildete. Und immer noch inhalierte er weiter, atmete etwas jenseits des Atems und spürte, wie die Narbe an seiner Hand immer heißer und heißer wurde, bis sie einem unter seiner Haut begrabenen Starkstromkabel glich. Er hätte nicht aufhören können, selbst wenn er gewollt hätte… aber er wollte nicht.
Sie taumelte einmal. Er sah, wie ihr Blick verschwamm, und spürte, sie sich der Griff ihrer Hände in seinem Nacken kurz lockerte. Dann sah sie ihn wieder mit ihren großen, glänzenden Augen voll Vertrauen an, und ihr Griff wurde wieder fest. Als sich sein titanisches Einatmen schließlich dem Höhepunkt näherte, stellte er fest, daß ihre Aura so blaß geworden war, daß er sie kaum noch sehen konnte. Ihre Wangen waren leichenblaß, und ihr Haar so grau, daß das Schwarz fast nicht mehr zu sehen war. Er mußte aufhören, mußte, oder er würde sie umbringen.
Es gelang ihm, die linke Hand von der rechten zu lösen, und das schien gleichsam den Stromkreis zu unterbrechen; nun konnte er von ihr zurückweichen. Lois schwankte und wäre beinahe gestürzt, aber Klotho und Lachesis, die große Ähnlichkeit mit den Liliputanern aus Gullivers Reisen hatten, hielten sie an den Armen und ließen sie vorsichtig auf die Bank sinken.
Ralph ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder. Er war außer sich vor Angst und Schuldgefühlen, gleichzeitig aber von einem so gewaltigen Gefühl der Macht durchdrungen, daß er den Eindruck hatte, als könnte ihn ein heftiger Ruck wie eine Flasche Nitroglyzerin zur Explosion bringen. Jetzt hätte er mit der Karateschlag-Geste ein Gebäude zum Einsturz bringen können – möglicherweise eine ganze Reihe davon.
Dennoch hatte er Lois verletzt. Möglicherweise schwer.
[»Lois! Lois, kannst du mich hören? Es tut mir leid!«]
Sie sah benommen zu ihm auf, eine vierzigjährige Frau, die innerhalb von Sekunden sechzig Jahre alt geworden war… und dann immer älter bis weit über Siebzig, wie eine Rakete, die über ihr anvisiertes Ziel hinausschießt. Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht besonders gut.
[»Lois, es tut mir leid. Ich wußte es nicht, und als ich es merkte, konnte ich nicht mehr aufhören.«]
Lachesis: [Wenn Sie überhaupt noch eine Chance haben wollen, Ralph, dann müssen Sie jetzt gehen. Er ist fast da.]
Lois nickte zustimmend.
[» Geh, Ralph – ich bin nur schwach, das ist alles. Ich komme schon wieder auf die Beine. Ich bleibe einfach hier sitzen, bis ich wieder bei Kräften bin.«]
Ihre Augen sahen nach links, und Ralph folgte ihrem Blick. Er sah den Penner, den sie vorhin in die Flucht getrieben hatten. Er war zurückgekehrt und suchte in den Abfalleimern auf dem Hügel weiter nach Pfandflaschen und -dosen, und auch wenn seine Aura nicht ganz so gesund aussah wie die des Burschen, den sie vorhin bei den alten Gleisen getroffen hatten, schätzte Ralph, daß er es für den Notfall tun würde… und für Lois war das eindeutig ein solcher.
Klotho: [Wir werden dafür sorgen, daß er hierher kommt, Ralph wir haben nicht viel Einfluß auf die stofflichen Aspekte der Welt der Kurzfristigen, aber ich denke, soviel werden wir schaffen.]
[»Sicher?«]
[Ja.]
[»Okay. Gut.«]
Ralph warf einen raschen Blick auf die beiden kahlköpfigen Männer, bemerkte ihre ängstlichen, furchtsamen Augen und nickte. Dann bückte er sich und küßte Lois’ kalte, runzlige Wange. Sie schenkte ihm das Lächeln einer müden alten Großmutter.
Ich habe ihr das angetan, dachte er. Ich.
Dann solltest du gefälligst dafür sorgen, daß es nicht umsonst war, sagte Carolyns Stimme brüsk.
Ralph sah die drei – Klotho und Lachesis flankierten Lois mittlerweile schützend auf der Bank – ein letztesmal an, dann ging er wieder den Hügel hinab.
Als er die Toiletten erreichte, stand er einen Moment dazwischen, dann lehnte er den Kopf an die mit der Aufschrift FRAUEN. Er hörte nichts. Aber als er den Kopf an die blaue Plastiktür der mit der Aufschrift MÄNNER legte, hörte er eine leise, hallende, singende Stimme:
»Who believes that my wildest dreams And my craziest schemes will come true? You, baby, nobody but you.«
Herrgott, der ist völlig Banane.
Ist das etwas Neues, Liebling?
Wohl nicht, schätzte Ralph. Er ging zur Tür des Port-O-San und riß sie auf. Jetzt konnte er auch das ferne, wespenähnliche Summen eines Motorflugzeugs hören, aber es gab nichts zu sehen, das er nicht schon dutzende Male vorher gesehen hatte: die gesprungene Klobrille, die schief auf der Kloschüssel hing, eine Rolle Toilettenpapier, die einen seltsamen und irgendwie geheimnisvoll aufgequollenen Eindruck machte, und links ein Pissoir, das wie eine Träne aus Plastik aussah. Die Wände waren mit Kritzeleien vollgeschmiert. Die größte – und auffälligste – stand in dreißig Zentimeter großen Buchstaben über dem Pissoir: TONY BOYNTON HAT DEN ENGSTEN HINTERN IN DERRY! Ein betäubendes Fichtennadelaroma überlagerte die Gerüche von Scheiße, Pisse und Pennerfürzen wie Make-up das Gesicht einer Leiche. Die Stimme, die er hörte, schien aus der Kloschüssel zu kommen, möglicherweise aber auch aus den Wänden selbst:
»From the time l go to bed
Until the morning comes
I dream about you, baby, nobody but you.«
Wo ist er? fragte sich Ralph. Und wie, um alles in der Welt, kann ich zu ihm kommen?
Ralph verspürte plötzlich etwas Warmes an der Hüfte, als hätte ihm jemand eine heiße Kohle in die Tasche gesteckt. Er runzelte die Stirn, dann fiel ihm ein, was er darin hatte. Er griff mit einem Finger in die schmale Tasche, berührte den goldenen Ring, den er dort verstaut hatte, und zog ihn heraus. Er legte ihn an der Stelle, wo sich Liebes-und Lebenslinie kreuzten auf die Handfläche und berührte ihn zaghaft. Er war wieder abgekühlt. Ralph war nicht besonders überrascht.
HD-ED 15.8.87.
»Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden«, murmelte Ralph und steckte sich Eds Trauring an den Ringfinger der linken Hand. Er paßte wie angegossen. Er schob ihn hinauf, bis er den Ring berührte, den ihm Carolyn vor fünfundvierzig Jahren an den Finger gesteckt hatte. Dann sah er auf und stellte fest, daß die Rückwand des Port-O-San verschwunden war.
Zwischen den Wänden, die stehengeblieben waren, sah er einen Himmel kurz nach Sonnenuntergang und einen Ausschnitt der Landschaft von Maine, der sich im blaugrauen Dunst der Dämmerung verlor. Er schätzte, daß er aus einer Höhe von dreitausend Metern hinaussah. Er konnte schimmernde Seen und Teiche und gewaltige Flächen dunkelgrüner Wälder erkennen, die sich bis zur Toilettenschüssel des Port-O-San dahinzogen und dann verschwanden. Weit voraus – unter dem Dach der Toilettenkabine – konnte Ralph eine funkelnde Ansammlung von Lichtern sehen. Das war wahrscheinlich Derry, nicht mehr als zehn Minuten entfernt. Im linken unteren Quadranten seines Sehbereichs konnte Ralph einen Teil eines Armaturenbretts erkennen. Über dem Höhenmesser klebte ein kleines Farbfoto, bei dessen Anblick Ralph der Atem stockte. Es zeigte Helen, die unvorstellbar glücklich und unvorstellbar schön aussah. In den Armen hielt sie das Verehrte & Angebetete Baby, fest schlafend und nicht älter als vier Monate.
Er möchte, daß sie das letzte auf der Welt sind, das er sieht, dachte Ralph. Er ist in ein Monster verwandelt worden, aber offenbar vergessen nicht einmal Monster, wie man liebt.
Etwas an dem Armaturenbrett fing an zu piepsen. Eine Hand wurde sichtbar und legte einen Schalter um. Bevor sie verschwand, konnte Ralph die weiße Stelle am Ringfinger dieser Hand sehen, wo sich mindestens sechs Jahre lang der Ehering befunden hatte. Und er sah noch etwas – die Aura, die die Hand umgab, war dieselbe wie die des behinderten Babys im Krankenhausfahrstuhl, eine turbulente, rasende Membran, die so fremdartig wie die Atmosphäre eines Gasplaneten aussah.