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Schlaflos
  • Текст добавлен: 12 октября 2016, 02:36

Текст книги "Schlaflos"


Автор книги: Stephen Edwin King


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Ужасы

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Текущая страница: 26 (всего у книги 50 страниц)

»Sagen Sie Bill, daß Ralph angerufen hat«, sagte er. »Roberts, nicht Robbins.« Er legte auf, ohne auf ihre Antwort zu warten. Die blauen Strahlen am Hörer brachen ab und fielen torkelnd zu Boden. Ralph mußte wieder an Eiszapfen denken; diesmal, wie sie ordentlich in einer Reihe herunterfielen, wenn man nach einem warmen Wintertag mit dem Fäustling an der Unterseite eines Simses entlangstrich. Sie lösten sich auf, bevor sie auf dem Linoleum landeten. Er sah sich um. Nichts in dem Raum leuchtete, flackerte oder vibrierte. Die Auren waren wieder fort. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, und dann hatte draußen auf der Harris Avenue ein Auto eine Fehlzündung.

In dem einsamen Apartment im ersten Stock stieß Ralph Roberts einen Schrei aus.

Er wollte keinen Tee mehr, hatte aber immer noch Durst. Er fand eine halbe Flasche Pepsi Light – abgestanden, aber außen beschlagen – hinten im Kühlschrank, goß es in einen Plastikbecher mit dem verblaßten Symbol des Red Apple und nahm es mit nach draußen. Er ertrug es nicht mehr, in dem Apartment zu sein, das nach unglücklichem Wachsein zu riechen schien. Besonders nicht nach dem Zwischenfall mit dem Telefon.

Der Tag war, sofern dies überhaupt möglich war, noch schöner geworden; ein starker, milder Wind war aufgekommen, rollte Bänder aus Licht und Schatten über das westliche Derry und kämmte das Laub von den Bäumen. Der Wind wehte es wie orangefarbene, rote und gelbe heulende Derwische über die Bürgersteige.

Ralph wandte sich nach links, aber nicht, weil er den Wunsch verspürte, das Picknickgelände beim Flughafen wiederzusehen, sondern weil er den Wind im Rücken haben wollte. Dennoch betrat er zehn Minuten später wieder die kleine Lichtung. Diesmal fand er sie verlassen vor, was ihn nicht überraschte. Der Wind, der aufgekommen war, war keineswegs schneidend, so daß alte Männer und Frauen hätten aufspringen und in den Häusern Schutz suchen müssen, aber es war Schwerstarbeit, Karten auf den Tischen oder Spielfiguren auf dem Schachbrett zu halten, wenn der übermütige Wind versuchte, sie fortzuwehen. Als Ralph sich dem kleinen Tisch näherte, wo Faye Chapin für gewöhnlich Hof hielt, überraschte ihn auch nicht, daß er einen Zettel unter einem Stein vorfand, und er hatte eine deutliche Vorstellung davon, worum es gehen würde, noch bevor er den Plastikbecher aus dem Red Apple wegstellte und den Zettel aufhob.

Zwei Spaziergänge; zweimal den kahlköpfigen Arzt mit dem Skalpell gesehen; zwei alte Leute, die an Schlaflosigkeit leiden und bunte Farben sehen; zwei Zettel. Als würde Noah die Tiere auf die Arche führen, nicht einzeln, sondern in Paaren… und wird wieder harter radioaktiver Regen fallen? Was meinst du, alter Mann?

Er wußte nicht genau, was er meinte… aber Bills Zettel war eine Art in Entstehung befindlicher Nachruf gewesen, und er hatte keinen Zweifel, daß der von Faye dasselbe sein würde. Das Gefühl, als würde er mühelos und ohne Zögern vorwärts getragen werden, war so stark, daß er es nicht in Zweifel ziehen konnte; es war, als würde man auf einer unbekannten Bühne erwachen und Dialogzeilen in einem Schauspiel sprechen (oder besser gesagt, stottern), an dessen Probe man sich nicht erinnern konnte, als würde man einen Zusammenhang in etwas erkennen, das bislang wie völliger Unsinn ausgesehen hatte, oder entdecken…

Was entdecken?

»Eine heimliche Stadt, genau das«, murmelte er. »Das Derry der Auren.« Dann beugte er sich über Fayes Zettel und las ihn, während der Wind schalkhaft mit seinem schütteren Haar spielte.

Wer Jimmy Vandermeer die letzte Ehre erweisen möchte, sollte es bis spätestens morgen tun. Pater Coughlin kam heute mittag vorbei, als ich die Aufstellungfür das Schachturnier durchsah, und erzählte mir, daß sich der Zustand des armen Kerls zusehends verschlechtert. Aber er KANN Besucher empfangen. Er liegt auf der Intensivstation des Derry Home, Zim—

P.S. Vergeßt nicht, die Zeit wird knapp. 414

Ralph las den Zettel zweimal, legte ihn mit dem Stein darauf wieder auf den Tisch, damit ihn der nächste Altvordere lesen konnte, der hierher kam, dann blieb er einfach mit den Händen in den Taschen und gesenktem Kopf stehen und betrachtete Startbahn 3 unter seinen buschigen Brauen hervor. Ein trockenes Blatt, orangefarben wie die Halloweenkürbisse, die bald die Straßen schmücken würden, kam aus dem tiefblauen Himmel heruntergeschwebt und landete in seinem schütteren Haar. Ralph wischte es zerstreut weg und dachte an zwei Zimmer auf der Intensivstation, zwei Zimmer nebeneinander. Bob Polhurst in einem, Jimmy V. im anderen. Und das nächste Zimmer in diesem Flur? Das war 217, das Zimmer, in dem seine Frau gestorben war.

»Das ist kein Zufall«, sagte er leise. »Nichts von alledem ist Zufall.«

Aber was war es? Umrisse im Nebel? Eine heimliche Stadt? Beides waren bedeutungsschwangere Ausdrücke, beide, aber sie beantworteten keine Fragen.

Ralph setzte sich auf den Picknicktisch neben dem, auf dem Faye seine Nachricht hinterlassen hatte, zog die Schuhe aus und schlug die Beine übereinander. Der böige Wind zerzauste ihm das Haar. Er saß zwischen den fallenden Blättern, hielt den Kopf leicht gesenkt und hatte die Stirn nachdenklich gerunzelt. Er sah wie eine Winslow-Homer-Version des meditierenden Buddha mit den Händen auf den Knien aus, während er gründlich über seine Eindrücke von Doc Nr. 1 und Doc Nr. 2 nachdachte… und sie dann mit denen verglich, die er von Doc Nr. 3 gewonnen hatte.

Erster Eindruck: Alle drei Docs hatten ihn an die Außerirdischen in Sensationsblättern wie Inside View und an Bilder erinnert, die stets die Legende »Vorstellung des Künstlers« trugen. Ralph wußte, daß diese Bilder geheimnisvoller kahlköpfiger, dunkeläugiger Besucher viele Jahre zurückreichten; schon seit langer Zeit berichteten Menschen von Begegnungen mit kleinwüchsigen Kahlköpfen – den sogenannten »kleinen Ärzten« -, möglicherweise schon so lange, wie von UFOSichtungen berichtet wurde. Er war ziemlich sicher, daß er mindestens einen derartigen Bericht schon in den sechziger Jahren gelesen hatte.

»Okay, also sind einige von diesen Burschen unterwegs«, sagte Ralph zu einem Sperling, der sich auf einem der Abfalleimer des Picknickplatzes niedergelassen hatte. »Nicht nur drei Docs, sondern dreihundert. Oder dreitausend. Lois und ich sind nicht die einzigen, die sie gesehen haben. Und…«

Und sprachen die meisten Leute, die solche Begegnungen schilderten, nicht auch von scharfen Gegenständen?

Ja, aber nicht von Scheren oder Skalpellen – jedenfalls glaubte Ralph das nicht. Die meisten Leute, die behaupteten, von den kleinen kahlköpfigen Ärzten entführt worden zu sein, sprachen von Sonden, oder nicht?

Der Sperling flog weg. Ralph bemerkte es nicht. Er dachte an die kleinen kahlköpfigen Ärzte, die May Locher in der Nacht ihres Todes besucht hatten. Was wußte er sonst noch von ihnen? Was hatte er noch gesehen? Sie waren in weiße Kittel gekleidet, wie sie Ärzte in Fernsehserien der fünfziger und sechziger Jahre getragen hatten und Apotheker sie heute noch trugen. Aber ihre Kittel waren, im Gegensatz zu dem von Doc Nr. 3, sauber gewesen. 3 hatte ein rostiges Skalpell gehabt; wenn die Schere in der rechten Hand von Doc Nr. 1 rostig gewesen war, hatte Ralph es nicht bemerkt. Nicht einmal durch das Fernglas.

Noch etwas – wahrscheinlich nicht so wichtig, aber immerhin ist es dir aufgefallen. Der scherentragende Doc war Rechtshänder, jedenfalls der Art nach zu urteilen, wie er seine Waffe gehalten hat. Der skalpellschwingende Doc war Linkshänder.

Nein, wahrscheinlich nicht wichtig, aber etwas daran auch einer dieser Umrisse im Nebel, ein kleinerer – ließ ihm keine Ruhe. Etwas über die Dichotomie von links und rechts.

»Gehen Sie nach links, und Sie haben recht«, murmelte Ralph und wiederholte die Pointe eines Witzes, an den er sich nicht mehr erinnern konnte. »Gehen Sie nach rechts, und man läßt Sie links liegen.«

Unwichtig. Was wußte er sonst noch über die Docs?

Nun, sie waren selbstverständlich von Auren umgeben gewesen – ziemlich hübschen grüngoldenen -, und sie hatten diese (Spuren des weißen Mannes)

Tanzdiagramme wie von Arthur Brown hinterlassen. Und ihre Züge waren ihm völlig anonym vorgekommen, aber die Auren hatten ein Gefühl von Macht vermittelt… und Aufrichtigkeit… und…

»Und Würde, gottverdammt«, sagte Ralph. Der Wind wehte wieder böig, noch mehr Blätter wurden von den Bäumen gewirbelt. Fünfzig Meter vom Picknickplatz, nicht weit von den alten Eisenbahnschienen entfernt, schien ein verkrümmter, halb entwurzelter Baum in Ralphs Richtung zu greifen und Zweige auszustrecken, die tatsächlich ein wenig wie zupackende Hände aussahen.

Plötzlich überlegte sich Ralph, daß er in jener Nacht eine ganze Menge gesehen hatte für einen alten Burschen, der sich angeblich an der Schwelle zum letzten Lebensabschnitt eines Menschen befand, den Shakespeare (und Bill McGovern) »den ausgerutschten Hanswurst« nannte. Und nichts – nicht die kleinste Einzelheit – deutete auf Gefahr oder böse Absicht hin. Daß Ralph etwas Böses unterstellt hatte, war nicht gerade überraschend. Sie waren körperlich mißgebildete Fremde; er hatte sie zu nachtschlafender Zeit aus dem Haus einer todkranken Frau kommen sehen, wo Besucher normalerweise nichts zu suchen hatten; er hatte sie, wenige Minuten nachdem er aus einem Alptraum von epischer Breite erwacht war, gesehen.

Aber jetzt, als er Revue passieren ließ, was er gesehen hatte, fielen ihm auch andere Einzelheiten ein. Zum Beispiel, wie sie auf Mrs. Lochers Veranda standen, als hätten sie ein Recht, dort zu sein; der Eindruck, den er gehabt hatte, als würden zwei alte Freunde noch ein kleines Schwätzchen halten, bevor sie ihres Weges gingen. Zwei Kumpel bei einer abschließenden Besprechung, bevor sie nach getaner Arbeit nach Hause gingen.

Das war dein Eindruck, ja, aber es ist nicht gesagt, daß du dich darauf verlassen kannst, Ralph.

Aber Ralph fand, er konnte sich darauf verlassen. Alte Freunde, langjährige Kollegen, deren Arbeit für die Nacht beendet war. May Locher war ihre letzte Anlaufstelle gewesen.

Nun gut, Doc Nr. 1 und 2 unterschieden sich vom dritten wie der Tag von der Nacht. Sie waren sauber, er war schmutzig, sie besaßen eine Aura, er dagegen keine (jedenfalls keine, die Ralph gesehen hätte), sie trugen Scheren, er ein Skalpell, sie wirkten so ernst und normal wie zwei geachtete Dorfälteste, während Nr. 3 so verrückt wie eine Scheißhausratte zu sein schien.

Aber eines ist vollkommen klar, oder nicht? Deine Spielkameraden sind übernatürliche Wesen, und abgesehen von Lois scheint der einzige andere Mensch, der von ihrer Anwesenheit weiß, Ed Deepneau zu sein. Wollen wir Wetten abschließen, wieviel Schlaf Ed in letzter Zeit bekommt?

»Nein«, sagte Ralph. Er hob die Hände von den Knien und hielt sie vor die Augen. Sie zitterten ein wenig. Ed hatte kahlköpfige Ärzte erwähnt, und sie waren kahlköpfige Ärzte. Hatte er auch von den Docs gesprochen, als er die Zenturionen erwähnt hatte? Ralph wußte es nicht. Er hoffte es fast, denn das Wort -Zenturionen – beschwor jedesmal, wenn es ihm einfiel, ein weitaus erschreckenderes Bild vor seinem inneren Auge: das der Ringgeister aus Tolkiens Fantasy-Trilogie. Gestalten mit Kapuzen auf skelettgleichen Pferden mit rotglühenden Augen, die sich auf die kleine Gruppe ängstlicher Hobbits vor dem Gasthaus zum Tänzelnden Pony in Bree stürzten.

Als er an Hobbits dachte, mußte er an Lois denken, und das Zittern seiner Hände wurde schlimmer.

Carolyn: Es ist ein langer Weg zurück ins Paradies, Liebling, also hör auf, dich über Kleinigkeiten aufzuregen.

Lois: In meiner Familie stirbt man jung, wenn man mit achtzig stirbt.

Joe Wyzer: Der Leichenbeschauer schreibt normalerweise Selbstmord in die Spalte Todesursache, und nicht Schlaflosigkeit.

Bill: Sein Fachgebiet war der Bürgerkrieg, und heute weiß er nicht einmal mehr, was ein Bürgerkrieg ist, geschweige denn, wer unseren gewonnen hat.

Denise Polhurst: Der Tod ist ziemlich blöd. Ein Geburtshelfer, der einem Baby so langsam die Nabelschnur durchschneidet…

Es war, als hätte plötzlich jemand einen grellen Scheinwerfer in seinem Kopf angezündet, und Ralph schrie in den sonnigen Herbsttag hinaus. Nicht einmal die Delta 727, de zur Landung auf Rollbahn 3 ansetzte, konnte diesen Schrei völlig übertönen.

Den Rest des Nachmittags verbrachte er damit, auf der Veranda des Hauses zu sitzen, das er sich mit McGovern teilte, und ungeduldig darauf zu warten, daß Lois von ihrem Kartenspiel zurückkam. Er hätte noch einmal versuchen können, McGovern im Krankenhaus zu erreichen, ließ es aber sein. Es bestand keine Notwendigkeit mehr, mit McGovern zu reden. Ralph verstand noch nicht alles, aber er verstand wesentlich mehr als vorher, und wenn an seiner plötzlichen Erleuchtung auf dem Picknickplatz irgend etwas dran war, hätte es absolut keinen Zweck, McGovern zu erzählen, was mit seinem Panama passiert war, selbst wenn Bill ihm geglaubt hätte.

Ich muß den Hut zurückholen, dachte Ralph. Und ich muß auch Lois’ Ohrringe zurückbekommen.

Es war ein erstaunlicher später Nachmittag und früher Abend. Einerseits passierte gar nichts. Andererseits passierte alles. Die Welt der Auren kam und ging um ihn herum wie die majestätische Prozession der Wolkenschatten über der West Side. Ralph saß da und beobachtete alles gebannt, und er machte nur einmal eine Pause, um eine Kleinigkeit zu essen und aufs Klo zu gehen. Er sah die alte Mrs. Bennigan in ihrem hellroten Mantel auf der vorderen Veranda stehen, wo sie den Krückstock umklammert hielt und eine Bestandsaufnahme ihrer Herbstblumen machte. Er sah die Aura, die sie umgab – das geschrubbte und gesunde Rosa eines frischgebadeten Säuglings – und hoffte, sie würde nicht viele Verwandte haben, die nur darauf warteten, daß sie starb. Er sah einen jungen Mann um die Zwanzig, der auf der anderen Straßenseite zum Red Apple ging. In seinen verblichenen Jeans und der ärmellosen Jacke der Celtics strotzte er vor Gesundheit, aber Ralph konnte das Leichentuch sehen, das wie ein Ölfilm um ihn lag, und seine Ballonschnur, die vom Scheitel aufstieg und wie eine verrottete Vorhangkordel in einem Spukhaus aussah.

Er sah keine weiteren kahlköpfigen Ärzte, aber kurz nach halb sechs bemerkte er einen erstaunlichen purpurnen Lichtstrahl, der aus einem Kanaldeckel in der Mitte der Harris Avenue emporschoß; er ragte etwa drei Minuten himmelwärts wie ein Spezialeffekt in einem Bibelepos von Cecil B. DeMille, dann erlosch er einfach wieder. Außerdem sah Ralph einen großen Vogel, der wie ein prähistorischer Falke aussah, zwischen den Schornsteinen der alten Molkerei an der Ecke Howard Street schweben, und dazu abwechselnde rote und blaue Aufwinde, die wie lange, träge Bänder über dem Strawford Park flatterten.

Als das Fußballtraining der Grundschule Fairmount um Viertel vor sechs zu Ende war, kamen rund ein Dutzend Kinder auf den Parkplatz des Red Apple geströmt, wo sie tonnenweise Süßigkeiten vor dem Essen und Kartons voll Sammelkarten kaufen würden – um diese Jahreszeit Footballkarten, vermutete Ralph. Zwei blieben stehen und zankten sich wegen etwas, worauf ihre Auren, eine grün, die andere von einer vibrierenden orangeroten Farbe, intensiver wurden und sich zusammenzogen; anschwellende Spiralen scharlachroter Fäden wurden darin sichtbar.

Paß auf! rief Ralph dem Jungen in der orangefarbenen Hülle aus Licht im Geiste zu, aber da ließ der Grüne auch schon die Schulbücher fallen und schlug dem anderen auf den Mund. Die beiden prügelten sich, wirbelten in einem unbeholfenen, aggressiven Tanz herum und purzelten dann auf den Bürgersteig. Ein kleiner Kreis johlender, schreiender Jungs bildete sich um sie herum. Über der Stätte des Kampfes entstand eine purpurfarbene Kuppel, wie eine Gewitterwolke. Ralph fand diesen Umriß, der langsam gegen den Uhrzeigersinn kreiste, schrecklich und wunderschön zugleich, und fragte sich, wie wohl die Aura über einer militärischen Schlacht aussehen würde. Er kam zum Ergebnis, daß er die Antwort darauf lieber nicht wissen wollte. Als Junge Orange gerade auf Junge Grün kletterte und anfing, ihn richtig zu bearbeiten, kam Sue aus dem Laden heraus und schrie sie an, sie sollten aufhören, sich auf dem verdammten Parkplatz zu prügeln.

Junge Orange ließ widerwillig ab. Die Kontrahenten standen auf und betrachteten einander argwöhnisch. Junge Grün, der sich bemühte, nonchalant zu wirken, drehte sich um und ging in den Laden. Nur sein rascher Blick über die Schulter, ob sein Gegner ihm auch nicht folgte, verdarb die Wirkung.

Die Zuschauer folgten Junge Grün entweder in den Laden, um ihre Süßigkeiten nach dem Training zu kaufen, oder scharten sich um Junge Orange und gratulierten ihm. Über ihnen brach der unsichtbare purpurrote Pilz auseinander wie eine Wolkenbank bei starkem Wind. Stücke rissen ab, lösten sich und verschwanden.

Die Straße ist ein Karneval der Energie, dachte Ralph. Der Saft, den die beiden Jungs in den neunzig Sekunden ihres Kampfs abgegeben haben, hätte ausgereicht, Derry eine Woche zu beleuchten, und wenn jemand die Energie hätte anzapfen können, die die Zuschauer erzeugt hatten – die Energie in der Pilzwolke -, hätte man wahrscheinlich den ganzen Staat Maine eine Woche lang beleuchten können. Kannst du dir vorstellen, wie es sein muß, an Silvester zwei Minuten vor Mitternacht auf dem Times Square in die Welt der Auren überzuwechseln?

Er konnte es nicht, und er wollte es nicht. Er vermutete, daß er die Ausläufer einer so gewaltigen und vitalen Kraft gesehen hatte, daß sämtliche seit 1945 gebauten Atomwaffen dagegen etwa so wirkungsvoll wie der Pfropfen eines Kindergewehrs schienen, der in eine leere Konservendose geschossen wurde. Ausreichend Energie, um das Universum zu zerstören… oder ein neues zu schaffen.

Ralph ging nach oben, kippte eine Dose Bohnen in einen Topf und ein Paar Hot Dogs in einen anderen, dann ging er ungeduldig durch die Wohnung, schnippte mit den Fingern und strich sich ab und zu mit ihnen durchs Haar, während er darauf wartete, daß sein improvisiertes Junggessellenmahl warm wurde. Die bodenlose Müdigkeit, die seit Mittsommer wie unsichtbare Bleigewichte an ihm hing, war zumindest vorübergehend vollkommen verschwunden; er fühlte sich von einer manischen, wahnsinnigen Energie erfüllt, randvoll davon. Er vermutete, daß manche Leute deshalb Benzedrin oder Kokain mochten, hatte aber das Gefühl, als wäre dies ein weitaus besserer Rausch, weil er sich nicht verbraucht und mißhandelt fühlen würde, wenn er zu Ende ging, mehr benutzt von der Droge als ihr Benutzer.

Ralph Roberts, der nicht bemerkte, daß das Haar, durch das seine Finger strichen, dichter geworden war und man zum erstenmal seit fünf Jahren schwarze Strähnen darin sehen konnte, tänzelte auf den Ballen durch sein Apartment, summte zuerst und sang dann einen alten Rock-andRoll Song aus den sechziger Jahren: »Hey, pretty bay-bee, you can’t sit down… ya gotta hop-bop hip-hop slip-slop all around…«

Die Bohnen blubberten im einen Topf, die Würstchen im anderen-aber für Ralph sah es aus, als würden sie tanzen, den Bristol Stomp zur alten Melodie der Dovells. Ralph, der immer noch aus vollem Hals sang (»When you hear the hippy with the backbeat, you can’t sit down«), schnitt die Würstchen in die Bohnen, kippte eine halbe Flasche Ketchup hinein, fügte etwas Chilisoße hinzu, rührte alles heftig um und ging zur Tür. Sein Essen trug er im Topf in einer Hand. Er lief so behende wie ein Kind die Treppe hinunter, das sich am ersten Schultag verspätet hat. Er zog eine ausgebeulte alte Weste gehörte McGovern, aber wen interessierte das? – aus dem Schrank in der Diele und ging wieder hinaus auf die Veranda.

Die Auren waren verschwunden, aber das enttäuschte Ralph nicht; im Augenblick interessierte ihn der Duft des Essens mehr. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letztenmal so hungrig gewesen war wie in diesem Augenblick. Er saß auf der obersten Stufe, streckte die langen Schenkel und knochigen Knie auf beiden Seiten von sich aus, wodurch er große Ähnlichkeit mit Ichabod Crane bekam, und begann zu essen. An den ersten Bissen verbrannte er sich Lippen und Zunge, aber statt sich abschrecken zu lassen, aß Ralph nur noch schneller, er schlang beinahe.

Als er den halben Topf Bohnen mit Würstchen verzehrt hatte, ließ er den Löffel sinken. Das Tier in seinem Magen hatte sich nicht wieder schlafen gelegt – noch nicht -, aber es war zumindest ein bißchen besänftigt. Ralph rülpste unbefangen und betrachtete die Harris Avenue mit einem Gefühl der Zufriedenheit, wie er es seit Jahren nicht mehr verspürt hatte. Unter den gegenwärtigen Umständen ergab dieses Gefühl überhaupt keinen Sinn, was aber nicht das Geringste daran änderte. Wann hatte er sich zum letztenmal so gut gefühlt? Möglicherweise nicht mehr seit dem Morgen, als er irgendwo zwischen Derry, Maine, und Poughkeepsie, New York, in jener Scheune erwacht war und die sich kreuzenden Lichtstrahlen -scheinbar Tausende – gesehen hatte, die den warmen, angenehm duftenden Unterschlupf durchdrangen, wo er sich befand.

Oder möglicherweise noch nie.

Ja, möglicherweise noch nie.

Er sah Mrs. Perrine die Straße entlangkommen, möglicherweise von A Safe Place, der Kombination aus Suppenküche und Obdachlosenasyl unten beim Kanal. Wieder faszinierte Ralph ihr seltsam gleitender Gang, den sie ohne Hilfe einer Krücke und scheinbar ohne Seitwärtsbewegung ihrer Hüften zustandebrachte. Ihr Haar, das immer noch eher schwarz als grau war, wurde jetzt von dem Haarnetz gehalten – vielleicht wäre gebändigt der zutreffendere Ausdruck gewesen -, das sie an der Essensausgabe trug. Dicke, baumwollfarbene Stützstrümpfe ragten aus ihren makellos weißen Krankenschwesterschuhen… nicht, daß Ralph viel von ihnen oder den Beinen sehen konnte, die sie bedeckten; heute abend trug Mrs. Perrine einen wollenen Herrenmantel, dessen Saum ihr fast bis zu den Knöcheln reichte. Sie schien sich beim Gehen fast ausschließlich auf die Oberschenkel zu verlassen -

Anzeichen eines chronischen Rückenleidens, vermutete Ralph -, und diese Art der Fortbewegung verlieh lone Perrine in Verbindung mit dem Mantel ein fast surrealistisches Aussehen, als sie näherkam. Sie sah wie die schwarze Dame auf dem Schachbrett aus, eine Spielfigur, die entweder von einer unsichtbaren Hand geführt wurde oder sich von ganz alleine bewegte.

Als sie sich der Stelle näherte, wo Ralph saß – er trug immer noch das zerrissene Hemd und aß obendrein seine Mahlzeit direkt aus dem Topf -, schlichen sich die Auren wieder in die Welt. Die Straßenlampen waren schon angegangen, und nun sah Ralph feine lavendelfarbene Bögen über jeder hängen. Außerdem konnte er einen roten Dunst über manchen Dächern erkennen, über anderen einen gelben, und wieder über anderen einen blaß kirschroten. Im Osten, wo die Nacht zu ihrem Sprung über den Himmel ansetzte, scharten sich dunkelgrüne Flecken am Horizont.

In unmittelbarer Nähe aber konnte er sehen, wie Mrs. Perrines Aura um sie herum zum Leben erwachte – das nüchterne Grau, das ihn an eine Kadettenuniform von West Point erinnerte. Einige dunklere Stellen, gleich geisterhaften Knöpfen, schwebten über ihrem Busen (Ralph vermutete, daß tatsächlich ein Busen irgendwo unter dem Mantel verborgen sein mußte). Er war nicht sicher, vermutete aber, daß dies Vorboten einer Krankheit sein konnten.

»Guten Abend, Mrs. Perrine«, sagte er höflich und sah, wie die Worte als Schneeflockenumrisse vor seinen Augen aufstiegen.

Sie betrachtete ihn mit einem raschen, vogelartigen Blick, musterte ihn mit den Augen und schien ihn gleichzeitig mit diesem einzigen Blick abzuschätzen und abzuurteilen. »Wie ich sehe, trägst du immer noch dasselbe Hemd, Roberts«, sagte sie.

Was sie nicht sagte – aber ganz bestimmt dachte, da war Ralph ganz sicher, war: Außerdem sehe ich, daß du da sitzt und Bohnen direkt aus dem Topf ißt wie ein zerlumpter Bettler von der Straße, der es nicht besser gelernt hat… und ich vergesse nicht, was ich sehe, Roberts.

»So ist es«, sagte Ralph. »Ich muß wohl vergessen haben, es zu wechseln.« »Hm«, sagte Mrs. Perrine, und er glaubte, daß sie sich nun Gedanken über seine Unterwäsche machte. Wann haben Sie zum letztenmal daran gedacht, die zu wechseln, Roberts? Mich schüttelt es, wenn ich nur daran denke.

»Schöner Abend, nicht wahr, Mrs. Perrine?«

Wieder einer dieser raschen, vogelähnlichen Blicke, diesmal zum Himmel hinauf. »Es wird kalt werden.«

»Glauben Sie?«

»O ja – der Indianersommer ist vorbei. Mein Rücken taugt heutzutage nur noch für Wettervorhersagen, aber darin ist er ziemlich gut.« Sie machte eine Pause. »Ich glaube, das ist die Weste von Bill McGovern.«

»Kann schon sein«, stimmte Ralph zu und fragte sich, ob sie ihn als nächstes fragen würde, ob Bill davon wüßte. Er hätte es ihr zugetraut.

Statt dessen befahl sie ihm, die Weste zuzuknöpfen. »Du möchtest doch kein Kandidat für eine Lungenentzündung sein, oder?« fragte sie, und ihr verkniffener Mund fügte hinzu: Genauso wie fürs Irrenhaus?

»Auf gar keinen Fall«, sagte Ralph. Er stellte den Topf beiseite, streckte die Hand nach den Knöpfen der Weste aus und hielt inne. Er trug immer noch einen gesteppten Topflappenhandschuh an der linken Hand. Bis jetzt war ihm das gar nicht aufgefallen.

»Es ginge leichter, wenn du den ausziehen würdest«, sagte Mrs. Perrine. Die Andeutung eines Funkeins schien in ihren Augen zu leuchten.

»Das denke ich auch«, sagte Ralph demütig. Er zog den Handschuh aus und knöpfte McGoverns Weste zu.

»Mein Angebot steht noch, Roberts.«

»Pardon?«

»Mein Angebot, dir dein Hemd zu nähen. Das heißt, wenn du es fertigbringst, dich einmal einen Tag davon zu trennen.« Pause. »Du hast doch noch ein anderes Hemd, nehme ich an? Das du tragen könntest, während ich das nähe, das du jetzt trägst?« »O ja«, sagte Ralph. »Das können Sie mir glauben. Jede Menge.«

»Scheint eine zu große Herausforderung für dich zu sein, dir jeden Tag ein neues auszusuchen. Du hast Soße am Kinn, Roberts.« Nach dieser Bemerkung richtete Mrs. Perrine die Augen geradeaus und setzte sich wieder in Bewegung.

Was Ralph nun tat, tat er ohne nachzudenken oder es zu verstehen; es war so instinktiv wie die Handbewegung, die er vorhin gemacht hatte, um Doc Nr. 3 von Rosalie fortzuscheuchen. Er hob die Hand, an der er den Topflappenhandschuh getragen hatte und formte damit eine Röhre um den Mund. Dann atmete er kräftig ein, was ein leises, flüsterndes Zischeln erzeugte.

Die Resultate waren erstaunlich. Ein bleistiftdünner grauer Lichtstrahl schoß aus Mrs. Perrines Aura wie der Stachel eines Stachelschweins. Er wurde zusehends länger und krümmte sich nach hinten, während sie vorwärts ging, bis er den laubübersäten Rasen überquert hatte und in die Röhre schnellte, die Ralphs gekrümmte Finger bildeten. Er spürte, wie der Lichtstrahl beim Inhalieren in ihn eindrang, und es war, als würde er reine Energie einsaugen. Plötzlich fühlte er sich erleuchtet wie eine Neonreklame oder das Vordach eines Großstadtkinos. Ein explosives Gefühl von Kraft – ein Eindruck von Rumms! – lief durch seine Brust und seinen Magen, und dann an den Beinen hinunter bis in die Zehenspitzen. Gleichzeitig sauste es in seinen Kopf hinauf und drohte, ihm die Schädeldecke wegzupusten wie das dünne Betondach eines Raketensilos.

Er konnte graue Lichtstrahlen wie elektrisch aufgeladenen Nebel erkennen, die zwischen seinen Fingern hervorquollen. Ein schreckliches, freudiges Gefühl der Macht entzündete seine Gedanken, aber nur einen Augenblick. Es folgten Scham und ein verblüfftes Entsetzen.

Was tust du da, Ralph? Was immer dieses Zeug ist, es gehört dir nicht. Würdest du in ihre Geldbörse greifen und ihr Geld wegnehmen, wenn sie nicht hinsieht?

Er spürte, wie er rot wurde. Er ließ die gekrümmte Hand sinken und klappte den Mund zu. Als seine Lippen und Zähne aufeinandertrafen, hörte er – und spürte sogar – deutlich, wie etwas knirschte. Es war das Geräusch, das man hörte, wenn man in eine frische Stange Rhabarber biß.

Mrs. Perrine blieb stehen, und Ralph beobachtete ängstlich, wie sie sich halb umdrehte und auf die Harris Avenue sah. Das wollte ich nicht, dachte er zu ihr. Wirklich nicht, Mrs. P. – ich lerne immer noch, mit diesen Dingen umzugehen.

»Roberts?«

»Ja?«

»Hast du etwas gehört? Hat fast wie ein Gewehrschuß geklungen.«

Ralph konnte spüren, wie heißes Blut in seinen Ohren pulsierte, als er den Kopf schüttelte. »Nein, aber meine Ohren sind nicht mehr das, was -«

»Wahrscheinlich nur eine Fehlzündung auf der Kansas Street«, sagte sie und tat seine klägliche Entschuldigung mit einer Handbewegung ab. »Aber mein Herzschlag hat einen Moment ausgesetzt, das kann ich dir sagen.«

Sie setzte sich wieder mit dem seltsam gleitenden Gang in Bewegung, der dem einer Dame beim Schach glich, aber dann blieb sie noch einmal stehen und drehte sich zu ihm um. Ihre Aura verblaßte langsam, aber Ralph hatte keine Mühe, ihre Augen zu sehen – sie waren so scharf wie die eines Turmfalken.

»Du siehst verändert aus, Roberts«, sagte sie. »Irgendwie jünger.«

Ralph, der etwas anderes erwartet hatte (Gib mir zurück, was du mir gestohlen hast, aber auf der Stelle, zum Beispiel), konnte nur stammeln. »Finden Sie… das ist sehr… ich meine, dan-«

Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. »Liegt wahrscheinlich am Licht. Ich gebe dir den guten Rat, nicht auf diese Weste zu tropfen, Roberts. Ich habe den Eindruck, als wäre Mr. McGovern ein Mann, der auf seine Sachen achtgibt.«

»Er hätte besser auf seinen Hut achtgeben sollen«, sagte Ralph.

Die klaren Augen, die sich von ihm abgewendet hatten, wurden wieder auf ihn gerichtet. »Pardon?«

»Seinen Panama«, sagte Ralph. »Er hat ihn irgendwo verloren.«

Mrs. Perrine hielt das einen Augenblick ins Licht ihres Intellekts, dann tat sie es mit einem weiteren Hm ab. »Geh ins Haus, Roberts. Wenn du noch lange hier draußen bleibst, wirst du dir den Tod holen.« Und damit glitt sie ihres Weges und sah als Folge von Ralphs gedankenlosem Diebstahl nicht schlechter aus als vorher.

Diebstahl. Ich bin ziemlich sicher, daß das nicht das richtige Wort ist, Ralph. Was du gerade getan hast, war eher -

»Vampirismus«, sagte Ralph düster. Er stellte den Topf mit Bohnen beiseite und rieb langsam die Hände aneinander. Er schämte sich… fühlte sich schuldig… und explodierte fast vor Energie.


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