Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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»Hnh? Ar? Ral?« fragte Helen. Sie sah Natalie in Ralphs Armen, und da verschwand die Ausdruckslosigkeit teilweise aus ihrem guten Auge. Sie hob die Hände zu dem Kind, und in Ralphs Armen ahmte Natalie die Bewegung mit ihren eigenen Patschhändchen nach. Dann stolperte Helen, stieß gegen die Hauswand und torkelte einen Schritt zurück. Ein Fuß verfing sich im anderen (Ralph sah Blutspritzer auf ihren weißen Turnschuhen, und es war erstaunlich, wie hell auf einmal alles war; die Farbe war in die Welt zurückgekommen, zumindest vorübergehend), und sie wäre gestürzt, hätte Sue sich nicht in diesem Augenblick entschieden, auch endlich nach draußen zu kommen. Daher fiel Helen statt umzukippen einfach gegen die offene Tür und lehnte sich daran wie ein Betrunkener an einen Laternenpfahl.
»Ral?« Der Ausdruck in ihren Augen war jetzt ein wenig schärfer, und Ralph sah, daß es weniger Neugier als vielmehr Fassungslosigkeit war. Sie holte tief Luft und bemühte sich mit äußerster Anstrengung, verständliche Worte über die geschwollenen Lippen zu bringen. »Gi. Gi mi mein Bäh-bie. Gi mi Nah-lie.«
»Jetzt nicht, Helen«, sagte Ralph. »Im Augenblick bist du nicht sicher genug auf den Beinen.«
Sue stand immer noch auf der anderen Seite der Tür und stemmte sich dagegen, damit Helen nicht fiel. Wangen und Stirn des Mädchens waren aschfahl, Tränen standen in ihren Augen.
»Kommen Sie raus«, sagte Ralph. »Stützen Sie sie.«
»Ich kann nicht«, blubberte sie. »Sie ist ganz bluh-bluhblutig!«
»Um Himmels willen, hören Sie auf! Das ist Helen! Helen Deepneau, die hier in der Straße wohnt!«
Obwohl Sue das gewußt haben mußte, schien allein der Klang des Namens Wirkung zu zeigen. Sie kam um die offene Tür herum, und als Helen wieder rückwärts taumelte, legte Sue ihr einen Arm um die Schultern und stützte sie. Der Ausdruck ungläubiger Überraschung schwand nicht von Helens Gesicht. Ralph fiel es immer schwerer, sie anzusehen. Er fühlte sich durch und durch elend.
»Ralph? Was ist passiert? War das ein Unfall?«
Er drehte sich um und sah Bill McGovern am Rand des Parkplatzes stehen. Er trug eines seiner piekfeinen blauen Hemden, bei dem die Bügelfalten noch an den Ärmeln zu sehen waren, und hielt eine seiner seltsam zierlichen Hände mit den langen Fingern hoch, um die Augen abzuschirmen. So sah er merkwürdig und irgendwie nackt aus, aber Ralph hatte keine Zeit, über den Grund dafür nachzudenken; zuviel spielte sich hier ab.
»Es war kein Unfall«, sagte er. »Sie ist verprügelt worden. Hier, nimm das Kind.«
Er hielt Natalie zu McGovern hin, der zuerst zurückzuckte, dann aber das Baby nahm. Natalie fing sofort wieder an zu kreischen. McGovern, der aussah, als hätte ihm gerade jemand eine randvolle Kotztüte in die Hand gedrückt, hielt sie mit baumelnden Füßen auf Armeslänge von sich. Hinter ihm fand sich eine kleinere Menschenmenge ein, darunter zahlreiche Kinder in Baseballtrikots, die von ihrem nachmittäglichen Spiel auf dem Sportplatz um die Ecke zurückkamen. Sie betrachteten Helens geschwollenes und blutiges Gesicht mit einem ungesunden Interesse, und Ralph mußte an die Geschichte in der Bibel denken, wie sich Noah auf der Arche betrunken hatte
– an die guten Söhne, die sich von dem nackten alten Mann auf seinem Bett abgewendet hatten, und den böse Sohn, der hingesehen… und gelacht hatte.
Sanft schob er Sues Arm weg und seinen eigenen hin. Helens unversehrtes Auge drehte sich zu ihm. Diesmal sprach sie seinen Namen deutlicher aus, positiver, und als Ralph die Dankbarkeit in der nuschelnden Stimme hörte, war ihm zum Weinen zumute.
»Sue – nehmen Sie das Baby. Bill hat keine Ahnung.«
Sie gehorchte und nahm Nat sanft und geübt in die Arme. McGovern schenkte ihr ein dankbares Lächeln, und plötzlich merkte Ralph, was an seinem Äußeren nicht stimmte. McGovern trug seinen Panamahut nicht, der ebenso zu ihm zu gehören schien (jedenfalls im Sommer) wie die Geschwulst auf seinem Nasenansatz.
»He, Mister, was ist denn passiert?« fragte einer der Baseballjungs.
»Nichts, das dich etwas angehen würde«, sagte Ralph.
»Sieht aus, als hätte sie ein paar Runden mit Riddick Bowe hinter sich.«
»Nee, Tyson«, sagte einer der anderen Baseballjungs, und dann lachten sie unvorstellbarerweise.
»Verschwindet!« schrie Ralph sie plötzlich wütend an. »Geht eure Zeitungen austragen! Kümmert euch um eure Angelegenheiten!«
Sie schlurften ein paar Schritte zurück, aber keiner entfernte sich. Immerhin sahen sie echtes Blut hier, und nicht auf einer Kinoleinwand.
»Helen, kannst du gehen?«
»Ja«, sagte sie. »Glaube son.«
Er führte sie vorsichtig um die offene Tür herum und ins Red Apple. Sie bewegte sich langsam und schlurfte von einem Fuß auf den anderen wie eine alte Frau. Der Geruch von Schweiß und verbrauchtem Adrenalin drang als saurer Gestank aus ihren Poren, und Ralph spürte, wie sich ihm wieder der Magen umdrehte. Es lag nicht an dem Geruch, wirklich nicht; es lag an seinem Bemühen, diese Helen mit der adretten und attraktiven Frau in Einklang zu bringen, mit der er erst gestern gesprochen hatte, als sie in ihrem Vorgarten gearbeitet hatte._
Plötzlich fiel Ralph noch etwas von gestern ein. Helen hatte blaue Shorts getragen, ziemlich weit oben abgeschnitten, und da waren ihm zwei Blutergüsse an ihren Beinen aufgefallen ein großer, gelber Fleck oben am linken Oberschenkel und ein frischerer, dunkler an der rechten Wade.
Er ging mit Helen auf den kleinen Bürobereich hinter der Registrierkasse zu. Als er in den konvexen Überwachungsspiegel in der Ecke sah, erblickte er McGovern, der Sue die Tür aufhielt.
»Schließ die Tür ab«, sagte er über die Schulter.
»Herrgott, Ralph, ich darf nicht…«
»Nur ein paar Minuten«, sagte Ralph. »Bitte.«
»Nun… okay. Denke ich.«
Ralph hörte das Klicken des Schlosses, als er Helen auf den Plastiksessel hinter dem unordentlichen Schreibtisch sinken ließ. Er griff zum Telefon und schlug auf die Taste 911. Aber bevor das Telefon am anderen Ende läuten konnte, wurde eine blutige Hand ausgestreckt und drückte auf den grauen Unterbrechungsknopf.
»Gicht… Ral.« Helen schluckte gequält und versuchte es noch einmal. »Nicht.«
»Doch«, sagte Ralph. »Ich werde anrufen.«
Jetzt sah er Angst in ihrem guten Auge, das nichts Stumpfes mehr an sich hatte.
»Nein«, sagte sie. »Bitte, Ralph. Nicht.« Sie sah an ihm vorbei und streckte wieder die Hände aus. Als Ralph den unterwürfigen, flehenden Ausdruck in ihrem Gesicht sah, zuckte er vor Mißfallen zusammen.
»Ralph?« fragte Sue. »Sie will das Baby.«
»Ich weiß. Nur zu.«
Sue gab Natalie an Helen, und Ralph sah zu, wie das Baby -das inzwischen etwas über ein Jahr alt sein mußte, da war er ziemlich sicher – die Arme um den Hals seiner Mutter schlang und das Gesicht an ihre Schulter drückte. Helen küßte Nats Kopf. Es tat ihr eindeutig weh, aber sie machte es noch einmal. Und noch einmal. Ralph, der auf sie hinunterschaute, konnte geronnenes Blut wie Schmutz auf Helens Nacken erkennen. Als er das sah, pochte wieder die Wut in ihm.
»Es war Ed, richtig?« fragte er. Natürlich war er es gewesen -man hinderte niemanden daran, 911 anzurufen, wenn man von einem Wildfremden zusammengeschlagen worden war -, aber er mußte es fragen.
»Ja«, sagte sie. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, die Antwort ein Geheimnis, das sie ins feine, seidige Haar ihres Babys hauchte. »Ja, es war Ed. Aber das darfst du nicht der Polizei erzählen.« Jetzt sah sie mit Augen voll Angst und Elend zu ihm auf. »Bitte ruf die Polizei nicht an, Ralph. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß Natalies Dad im Gefängnis sitzt wegen… wegen…«
Helen fing an zu weinen. Natalie sah ihre Mutter einen Moment mit einem Ausdruck komischer Überraschung an, dann stimmte sie ein.
7
»Ralph?« fragte McGovern zögernd. »Möchtest du ihr eine Tylenol oder so was geben?«
»Besser nicht«, sagte er. »Wir wissen nicht, was ihr fehlt, wie schlimm die Verletzungen sind.« Sein Blick wanderte zum Schaufenster, er wollte nicht sehen, was da draußen war, hoffte, es nicht zu sehen, und sah es trotzdem: neugierige Gesichter in einer Reihe bis zu der Stelle, wo der Kühlschrank mit dem Bier den Blick ins Innere verdeckte. Manche hielten die Hände seitlich ans Gesicht, um das Gleißen zu mildern.
»Was sollen wir tun, Männer?« fragte Sue. Sie betrachtete die Gaffer und zupfte nervös am Saum der Red Apple-Schürze, die Angestellte tragen mußten. »Wenn die Firmenleitung herausfindet, daß ich während der Geschäftszeit die Tür abgeschlossen habe, können sie mich feuern.«
Helen zupfte an seiner Hand. »Bitte, Ralph«, wiederholte sie, aber mit ihren geschwollenen Lippen hörte es sich wie Biii, Raff an. »Ruf niemand an.«
Ralph sah sie unsicher an. Er hatte im Lauf seines Lebens viele Frauen mit Blutergüssen gesehen, und einige (aber um ehrlich zu sein, nicht viele), die schlimmer zusammengeschlagen worden waren als Helen. Aber es hatte nicht immer so schlimm ausgesehen. Sein Denken und seine Moralvorstellungen waren in einer Zeit geprägt worden, als die Leute glaubten, was hinter verschlossenen Türen zwischen Mann und Frau in der Ehe vor sich ging, sei ausschließlich deren Sache, das galt auch für den Mann, der mit den Fäusten zuschlug, und die Frau, die mit ihrer spitzen Zunge Schaden zufügte. Man konnte die Leute nicht zwingen, sich zu benehmen, und wenn man sich in ihre Angelegenheiten einmischte – selbst mit besten Absichten -, wurden nicht selten Freunde zu Feinden.
Aber dann dachte er daran, wie sie Natalie getragen hatte, als sie über den Parkplatz gestolpert war: achtlos auf der Hüfte wie ein Schulbuch. Wenn sie das Baby auf dem Parkplatz fallengelassen hätte, oder als sie die Harris Avenue überquerte, hätte sie es wahrscheinlich nicht gemerkt; Ralph vermutete, daß nur ein Instinkt Helen veranlaßt hatte, das Baby überhaupt mitzunehmen. Sie hatte Nat nicht in der Obhut des Mannes zurücklassen wollen, der sie so schlimm verprügelt hatte, daß sie nur noch aus einem Auge sehen und nuschelnde, verschliffene Silben von sich geben konnte.
Er dachte aber auch noch an etwas anderes, etwas, das mit Carolyns Tod Anfang des Jahres zu tun hatte. Das Ausmaß seines Kummers hatte ihn überrascht – immerhin hatte er mit ihrem Tod rechnen können; er hatte geglaubt, er hätte den größten Teil seines Kummers noch zu Carolyns Lebzeiten aufgebraucht -, und dieser Kummer hatte ihn linkisch und hilflos gemacht, als es um die letzten Vorkehrungen gegangen war, die getroffen werden mußten. Es war ihm gelungen, das Bestattungsinstitut Brookings-Smith anzurufen, aber Helen hatte die Todesanzeige in die Derry News gesetzt und ihm geholfen, sie abzufassen, Helen war mit ihm gegangen, einen Sarg auszuwählen (McGovern, der den Tod verabscheute, und alles, was damit zusammenhing, hatte sich dünne gemacht); und Helen hatte ihm geholfen, ein Blumenbukett auszusuchen -auf dem Meiner geliebten Frau stand. Und selbstverständlich hatte Helen den Leichenschmaus hinterher organisiert, Sandwiches bei Frank’s Lieferservice bestellt und alkoholfreie Getränke und Bier aus dem Red Apple geholt.
Helen hatte ihm geholfen, als er sich selbst nicht helfen konnte. War er nicht verpflichtet, ihr diese Freundlichkeit zu vergelten, selbst wenn Helen es im Augenblick nicht als Hilfe ansah?
»Bill?« fragte er. »Was denkst du?«
McGovern sah von Ralph zu Helen, die mit gesenktem, zerschlagenem Gesicht auf dem Stuhl saß, und dann wieder zu Ralph. Er holte ein Taschentuch heraus und strich sich nervös über die Lippen. »Ich weiß nicht. Ich mag Helen sehr, und ich will nichts falsch machen – das weißt du -, aber bei so etwas… wer weiß da schon, was richtig ist?«
Ralph fiel plötzlich ein, was Carolyn immer gesagt hatte, wenn er sich über eine Aufgabe beschwerte, die er nicht ausführen, eine Besorgung, die er nicht machen oder einen Pflichtbesuch, den er nicht erledigen wollte: Es ist ein langer Weg zurück ins Paradies, Liebes, also hör auf, dich über Kleinigkeiten aufzuregen.
Er griff wieder zum Telefon, und als Helen diesmal nach seiner Hand griff, stieß er sie weg.
»Sie haben das Polizeirevier Derry angerufen«, sagte eine Stimme vom Band. Drücken Sie eins für Notfälle. Drücken Sie zwei für Polizeiberatung. Drücken Sie drei für die Information.«
Ralph, dem plötzlich klar wurde, daß er alle drei Nummern benötigte, zögerte einen Moment und drückte dann zwei. Das Telefon summte, und eine Frauenstimme sagte: »Hier ist der Polizeinotruf 911, wie kann ich Ihnen helfen?«
Er holte tief Luft und sagte: »Hier spricht Ralph Roberts. Ich befinde mich im Red Apple Laden in der Harris Avenue mit einer Nachbarin aus der Straße. Ihr Name ist Helen Deepneau. Sie ist ziemlich übel zusammengeschlagen worden.« Er legte Helen behutsam die Hand ans Gesicht, worauf sie die Stirn an seine Seite drückte. Er konnte ihre warme Haut durch das Hemd spüren. »Bitte kommen Sie so schnell Sie können.«
Er legte den Hörer auf, dann kauerte er sich neben Helen. Natalie sah ihn, krähte vor Freude und streckte die Hand aus, um ihn freundschaftlich in die Nase zu kneifen. Ralph lächelte, küßte ihre winzige Handfläche und sah Helen ins Gesicht.
»Es tut mir leid, Helen«, sagte er, »aber es mußte sein. Ich konnte es nicht lassen. Das verstehst du doch? Ich konnte es nicht lassen.«
»Ich verste gar nichts mehr!« sagte sie. Ihre Nase hatte aufgehört zu bluten, aber als sie die Hand hob, um darüberzustreichen, zuckte sie unter der eigenen Berührung zusammen.
»Helen, warum hat er es getan? Warum hat Ed dich so verprügelt?« Er mußte an andere Blutergüsse denken, überwiegend auf Helens Armen – möglicherweise war es häufiger vorgekommen. Falls es häufiger vorgekommen war, war es ihm bis heute nicht aufgefallen. Wegen Carolyns Tod. Und wegen der Schlaflosigkeit, die danach gekommen war. In jedem Fall glaubte er nicht, daß Ed heute zum erstenmal Hand an seine Frau gelegt hatte. Heute mochte die drastische Eskalation stattgefunden haben, aber das erstemal war es nicht. Er konnte den Gedanken begreifen und seine zwingende Logik einsehen, aber er konnte sich trotzdem nicht vorstellen, wie Ed es tat. Er konnte Eds rasches Grinsen sehen, seine lebhaften Augen, wie er beim Sprechen rastlos die Hände bewegte… aber er konnte sich nicht vorstellen, wie Ed seine Frau mit diesen Händen krankenhausreif schlug, so sehr er es sich auch vorstellte.
Dann kam eine Erinnerung an die Oberfläche zurück, die Erinnerung daran, wie Ed steifbeinig auf den Mann zuging, der den blauen Pritschenwagen gefahren hatte – ein Ford Ranger war es gewesen, oder nicht? -, und dem Mann dann mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen hatte. Als er sich daran erinnerte, war es, als hätte er die Tür von Fibber McGees Schrank in der alten Rundfunksendung aufgemacht, aber heraus kam kein Erdrutsch von Plunder, sondern eine Folge lebhafter Bilder von diesem Tag im letzten Juli. Die Gewitterwolken über dem Flughafen. Eds Arm, der zum Fenster des Datsun herausragte und auf und ab winkte, als könnte er damit das Tor veranlassen, sich schneller zu öffnen. Der Schal mit den chinesischen Symbolen darauf.
Hey, hey, Susan Day, how many kids did you kill today? dachte Ralph, aber es war Eds Stimme, nur Eds Stimme, die er hörte, und er wußte ziemlich genau, was Helen sagen würde, noch bevor sie den Mund aufmachte.
»So dumm«, sagte sie traurig. »Er hat mich geschlagen, weil ich eine Petition unterschrieben habe – das war alles. Die Listen gehen in der ganzen Stadt herum. Jemand hat sie mir vors Gesicht gehalten, als ich vorgestern in den Supermarkt gegangen bin. Er sagte etwas von einer Benefizveranstaltung für Woman-Care, und das schien mir völlig in Ordnung zu sein.
Außerdem war das Baby unruhig, darum habe ich eben… «
»Du hast unterschrieben«, sagte Ralph leise.
Sie nickte und fing wieder an zu weinen.
»Was für eine Petition?« fragte McGovern.
»Susan Day nach Derry zu holen«, antwortete Ralph. »Sie ist eine Feministin -«
»Ich weiß, wer Susan Day ist«, sagte McGovern gereizt.
»Jedenfalls wollen ein paar Leute sie hierher holen, damit sie eine Rede hält. Zugunsten von Woman-Care.«
»Als Ed heute nach Hause kam, war er bester Laune«, sagte Helen unter Tränen. »Das ist er donnerstags fast immer, weil das sein halber Tag ist. Er hat davon gesprochen, daß er den Nachmittag über so tun würde, als ob er ein Buch lese, in Wirklichkeit aber nur dem Rasensprenger zusehen, wie er sich im Kreis herumdrehte… du weißt ja, wie er ist…«
»Ja«, sagte Ralph, der sich erinnerte, wie Ed den Arm in eines der Fässer des vierschrötigen Mannes gebohrt hatte, und an sein verschlagenes Grinsen (Ich kenne bessere Tricks als den) im Gesicht. »Ja, ich weiß, wie er ist.«
»Ich habe ihn weggeschickt, um etwas Babypuder zu holen…«Ihre Stimme schwoll an, wurde furchtsam und ängstlich. »Ich wußte nicht, daß er sich so aufregen würde… ich hatte schon fast vergessen, daß ich das verdammte Ding unterschrieben hatte, um ehrlich zu sein… und ich verstehe immer noch nicht, warum er sich so aufgeregt hat… aber… aber als er zurückkam… « Sie zitterte und drückte Natalie an sich.
»Pssst, Helen, beruhige dich, alles ist gut.«
»Nein, nichts ist gut!« Sie sah zu ihm auf, und Tränen rannen aus dem einen Auge und quollen unter dem geschwollenen Lid des anderen hervor. »Ni-ni-nihichts ist gut l Warum hat er diesmal nicht aufgehört? Und was soll aus mir und dem Baby werden? Wohin sollen wir gehen? Ich habe kein Geld, abgesehen von dem auf dem gemeinsamen Girokonto… ich habe keinen Job… O Ralph, warum hast du die Polizei gerufen? Das hättest du nicht tun sollen!« Und sie schlug ihm mit einer kraftlosen kleinen Faust auf den Unterarm.
»Du wirst das prima überstehen«, sagte er. »Du hast eine Menge Freunde in der Nachbarschaft.«
Aber er hörte kaum, was er sagte, und ihren kleinen Knuff hatte er überhaupt nicht gespürt. Der Zorn pochte in seiner Brust und in den Schläfen wie ein zweiter Herzschlag.
Nicht: Warum hat er nicht aufgehört; das hatte sie nicht gesagt. Sie hatte gesagt: Warum hat er diesmal nicht aufgehört?
Diesmal.
»Helen, wo ist Ed jetzt?«
»Zu Hause, denke ich«, sagte sie niedergeschlagen.
Ralph tätschelte ihr die Schulter, dann drehte er sich um und ging zur Tür.
»Ralph?« fragte Bill McGovern. Er hörte sich erschrocken an. »Wo gehst du hin?«
»Schließen Sie die Tür hinter mir ab«, sagte Ralph zu Sue.
»Herrje, ich weiß nicht, ob ich das kann.« Sue sah zweifelnd zu der Reihe der Schaulustigen, die zu dem schmutzigen Fenster hereinsahen. Jetzt waren es noch mehr geworden.
»Sie können«, sagte er, dann legte er den Kopf schief, als er das erste Heulen der näherkommenden Sirene hörte. »Hören Sie das?«
»Ja, aber… «
»Die Polizisten werden Ihnen sagen, was Sie tun sollen, und Ihr Boss wird auch nicht wütend auf Sie sein – wahrscheinlich gibt er Ihnen einen Orden, weil Sie alles genau richtig gemacht haben.«
»Wenn er das tut, dann teile ich ihn mit Ihnen«, sagte sie, dann betrachtete sie Helen wieder. »Herrje, Ralph, sehen Sie sie an. Hat er sie wirklich so verprügelt, weil sie ein blödes Stück Papier bei Shaw’s unterschrieben hat?«
»Sieht so aus«, sagte Ralph. Die Unterhaltung ergab durchaus einen Sinn für ihn, schien aber aus weiter Ferne zu kommen. Seine Wut war viel näher; ihm kam es vor, als hätte sie die Arme um seinen Hals geschlungen. Er wünschte sich, er wäre noch einmal vierzig, höchstens fünfzig, damit er Ed eine Dosis seiner eigenen Medizin verabreichen könnte. Und er hatte eine Ahnung, als würde er es trotzdem versuchen.
Er drehte den Schlüssel im Schloß herum, als McGovern ihn an der Schulter packte. »Was hast du vor?«
»Ich gehe Ed besuchen.«
»Soll das ein Witz sän? Er wird dich auseinandernehmen, wenn du ihm unter die Augen kommst. Hast du nicht gesehen, was er mit ihr gemacht hat?«
»Worauf du dich verlassen kannst«, antwortete Ralph. Die Worte waren nicht gerade ein Fauchen, kamen dem aber so nahe, daß McGovern die Hand sinken ließ.
»Du bist siebzig beschissene Jahre alt, Ralph, falls du das vergessen hast. Und Helen braucht im Augenblick einen Freund, und nicht einen durch den Fleischwolf gedrehten alten Tattergreis, den sie besuchen kann, weil er im Krankenhaus nur drei Zimmer von ihrem entfernt liegt.«
Bill hatte selbstverständlich recht, aber das machte Ralph noch wütender. Er vermutete, daß seine Schlaflosigkeit auch hier die Hand im Spiel hatte, seine Wut entfachte und seine Vernunft beeinträchtige, aber das spielte keine Rolle. In gewisser Weise kam die Wut einer Erleichterung gleich. Sie war immer noch besser, als durch eine Welt zu gehen, in der alles dunkle Grautöne angenommen hatte.
»Wenn er mich genügend zusammenschlägt, geben sie mir Demerol, und ich kann endlich mal wieder eine Nacht durchschlafen«, sagte er. »Und jetzt laß mich in Ruhe, Bill.«
Er überquerte den Parkplatz des Big Apple mit raschen Schritten. Ein Polizeiauto näherte sich mit blauem Blinklicht. Fragen – Was ist passiert? Geht es ihr gut? – wurden ihm entgegengeschleudert, aber Ralph achtete nicht darauf. Er wartete auf dem Bürger steig bis das Polizeiauto auf den Parkplatz gefahren war, dann überquerte er die Harris Avenue in derselben hastigen Gangart, während McGovern ihm in einiger Entfernung ängstlich folgte.
Kapitel 3
Ed und Helen Deepneau lebten in einem kleinen Cape Cod schokoladenbraun, Verzierungen wie Schlagsahne, ein Haus, wie es ältere Frauen häufig »Darling« nennen – vier Häuser von dem entfernt, das sich Ralph und Bill McGovern teilten. Carolyn hatte immer gesagt, die Deepneaus gehörten »der Kirche der Yuppies der Letzten Tage« an, aber die Tatsache, daß sie sie wirklich gern hatte, hatte der Bemerkung vieles von ihrer Schärfe genommen. Sie waren Laissez-faire-Vegetarier, die Fisch und Milchprodukte okay fanden, sie hatten bei der letzten Wahl für Clinton gearbeitet, und das Auto, das in der Einfahrt stand – kein Datsun, sondern einer der neuen Kleinbusse -, trug Stoßstangenaufkleber wie SPALTET HOLZ, KEINE ATOME oder PELZ AN TIEREN, NICHT AN MENSCHEN.
Außerdem hatten die Deepneaus jede Platte behalten, die sie in den sechziger Jahren gekauft hatten – das war für Carolyn eine ihrer liebenswertesten Eigenheiten gewesen -, und als sich Ralph nun mit zu Fäusten geballten Händen dem Cape Cod näherte, hörte er Grace Slick eine der alten Hymnen aus San Francisco singen:
»One pull makes you larger,
One pill makes you small,
And the ones that Mother gives you Don’t do anything at all,
Go ask Alice, when she’s ten feet tall.«
Die Musik kam aus einem Gettoblaster auf der briefmarkengroßen Veranda des Cape Cod. Auf dem Rasen drehte sich ein Sprinkler, der ein Hischa-hischa-hischa von sich gab, während er Regenbogen in die Luft warf und einen schimmernden feuchten Fleck auf dem Rasen hinterließ. Ed Deepneau saß mit bloßem Oberkörper in einem Liegestuhl, hatte die Beine übereinandergeschlagen und sah mit dem nachdenklichen Ausdruck eines Mannes zum Himmel, der zu entscheiden versucht, ob eine Wolke, die vorüberzieht, mehr wie ein Pferd oder wie ein Einhorn aussieht. Ein Fuß wippte im Takt der Musik auf und ab. Das Buch, das aufgeschlagen und verkehrt herum auf seinem Schoß lag, paßte perfekt zu der Musik: Sogar Cowgirls kriegen mal Blues von Tom Robbins.
Eine fast perfekte Sommervignette; eine Szene kleinstädtischen Friedens, die Norman Rockwell gemalt und mit dem Titel »Freier Tag« versehen haben könnte. Man mußte nur über das Blut auf Eds Knöcheln und den Spritzer auf dem linken Glas seiner John Lennon-Brille hinwegsehen.
»Ralph, um Gottes willen, laß dich nicht auf einen Kampf mit ihm ein!« zischte McGovern, als Ralph den Bürgersteig verließ und über den Rasen ging. Er schritt durch die feine, kalte Gischt des Rasensprengers und bemerkte sie fast nicht.
Ed drehte sich um und ließ ein sonniges Grinsen sehen. »He, Ralph!« sagte er. »Schön, dich zu sehen, Mann!«
Vor seinem geistigen Auge sah Ralph, wie er den Arm ausstreckte, Eds Stuhl umschubste und Ed auf den Rasen stieß. Er sah, wie Ed hinter der Brille die Augen erschrocken und überrascht aufriß. Die Vision war so real, daß er sogar sah, wie sich die Sonne auf dem Ziffernblatt von Eds Uhr spiegelte, als er versuchte, sich aufzurichten.
»Hol dir ein Bier und zieh dir einen Stuhl her«, sagte Ed. »Wenn dir nach einer Partie Schach zumute ist…«
»Bier? Eine Partie Schach? Herrgott, Ed, was stimmt denn nicht mit dir?«
Ed antwortete nicht gleich, sondern sah Ralph nur mit einem Ausdruck an, der furchteinflößend und nervtötend zugleich war. Es war eine Mischung aus Heiterkeit und Scham, der Ausdruck eines Mannes, der sich anschickt zu sagen: Oh, Scheiße, Liebling, hob ich schon wieder vergessen, den Müll rauszustellen?
Ralph deutete an McGovern vorbei den Hügel hinunter McGovern stand bei dem nassen Fleck, den der Rasensprenger auf dem Bürgersteig hinterlassen hatte, und hätte sich versteckt, hätte es etwas gegeben, wohinter er sich hätte verkriechen können, und beobachtete sie nervös. Zu dem ersten Polizeiauto hatte sich ein zweites gesellt, und Ralph konnte leise das Knistern von Funkverkehr hören durch die offenen Fenster hören. Die Menschenmenge war beachtlich angewachsen.
»Die Polizei ist wegen Helen hier!« sagte er und ermahnte sich, nicht zu schreien, es würde nichts nützen, zu schreien, schrie aber trotzdem. »Sie sind hier, weil du deine Frau verprügelt hast, kapierst du das?«
»Oh«, sagte Ed und rieb sich reumütig die Wangen. »Deswegen.«
»Ja, deswegen«, sagte Ralph. Er war jetzt fast besinnungslos vor Wut.
Ed sah an ihm vorbei zu den Polizeiautos, zu der Menschenmenge, die vor dem Red Apple stand… und dann sah er McGovern.
»Bill!« rief er. McGovern zuckte zusammen. Ed bemerkte es entweder nicht oder wollte es nicht bemerken. »He, Mann! Zieh dir einen Stuhl ran! Willst du ein Bier?«
Da wußte Ralph, daß er Ed schlagen, seine alberne runde Brille zerbrechen, ihm möglicherweise einen Glassplitter ins Auge treiben würde. Er würde es tun, nichts auf der Welt konnte ihn davon abhalten, aber im letzten Augenblick hielt ihn doch etwas ab. Carolyns Stimme hörte er heutzutage immer häufiger in seinem Kopf – das heißt, wenn er nicht einfach vor sich hinmurmelte -, aber es war nicht Carolyns Stimme; diese Stimme gehörte, so unwahrscheinlich es sich anhörte, Trigger Vachon, den er nur ein-oder zweimal gesehen hatte, seit dieser ihn vor dem Gewitter rettete, als Carolyn ihren ersten Anfall gehabt hatte.
Jawoll, Ralph! Sei verdammt vorsischtisch! Der ist völlisch von der Rolle! Vielleischt will er, daß du ihn ‘aust!
Ja, entschied er. Vielleicht wollte Ed genau das. Warum?
Wer weiß. Vielleicht, um das Wasser etwas zu trüben, vielleicht auch nur, weil er verrückt war.
»Hör auf mit dem Scheiß«, sagte er mit fast zu einem Flüstern gesenkter Stimme. Er stellte dankbar fest, daß ihm sofort wieder Eds ungeteilte Aufmerksamkeit galt, und es freute ihn noch mehr, daß Eds angenehm vager Ausdruck verschämter Heiterkeit verschwand. Er wurde von einer verkniffenen, argwöhnischen Miene ersetzt. Es war, fand Ralph, der Ausdruck eines gefährlichen, gereizten Tieres.
Ralph bückte sich, damit er Ed direkt ansehen konnte. »War es wegen Susan Day?« fragte er mit derselben leisen Stimme. »Susan Day und dieser Abtreibungsgeschichte? Wegen der toten Babys? Hast du das alles an Helen ausgelassen?«
Eine andere Frage ging ihm durch den Kopf – Wer bist du wirklich, Ed? -, aber bevor er sie stellen konnte, streckte Ed eine Hand aus, drückte sie auf Ralphs Brust und stieß zu. Ralph fiel rückwärts auf das nasse Gras, wo er sich mit Ellbogen und Schultern abstützte. Er lag mit flach auf den Boden gepreßten Füßen und aufgestellten Knien da und beobachtete, wie Ed plötzlich aus dem Liegestuhl sprang.
»Ralph, leg dich nicht mit ihm an!« rief McGovern von seiner relativ sicheren Position auf dem Bürgersteig.
Ralph schenkte ihm keine Beachtung. Er blieb einfach, wo er war, auf die Ellbogen gestützt, und beobachtete Ed aufmerksam. Er war immer noch ängstlich und wütend, aber diese Empfindungen wurden von einer seltsam kalten Faszination überschattet. Es war Wahnsinn, was er da vor sich sah – der absolut helle Wahnsinn. Kein Comic-Bösewicht, kein Norman Bates, kein Kapitän Ahab. Nur Ed Deepneau, der unten an der Küste in den Hawking Labors arbeitete – eines der Superhirne, wie die alten Männer draußen auf dem Picknickplatz gesagt hätten, aber trotzdem ein ziemlich netter Kerl für einen Demokraten. Und jetzt war der nette Kerl verrückt geworden, total plemplem, und das war nicht erst heute nachmittag passiert, als Ed den Namen seiner Frau auf der Liste gesehen hatte, die im Shaw’s am schwarzen Brett hing. Ralph begriff jetzt, daß Eds Wahnsinn mindestens ein Jahr alt war, und dabei fragte er sich, was für Geheimnisse Helen hinter ihrem normalen, fröhlichen Verhalten und ihrem unbekümmerten Lächeln verborgen haben mochte, und welche kleinen, verzweifelten Signale – abgesehen von den Blutergüssen – ihm möglicherweise entgangen sein konnten.
Und dann ist da noch Natalie, dachte er. Was hat sie gesehen? Was hat sie erlebt? Davon abgesehen, daß sie auf der blutigen Hüfte ihrer stolpernden Mutter über den Parkplatz des Red Apple getragen worden war.
Gänsehaut bildete sich auf Ralphs Armen.
Derweil ging Ed auf und ab, überquerte ununterbrochen den Betonweg und zertrat die Zinnien, die Helen an dessen Rand entlang gepflanzt hatte. Er war wieder zu dem Ed geworden, den Ralph vor einem Jahr am Flughafen gesehen hatte, bis hin zu den knappen, ruckartigen Kopfbewegungen und den stechenden Blicken ins Leere.
Das sollte das arglose Benehmen von vorhin verbergen, dachte Ralph. Er sieht jetzt genauso aus wie damals, als er hinter dem Mann her war, der den Pickup gefahren hat. Wie ein Hahn, der sein kleines Stück des Hofs verteidigt.
»Das alles ist strenggenommen nicht ihre Schuld, das gebe ich zu.« Ed sprach hastig und schlug mit der rechten Faust in die linke Handfläche, während er durch den Gischtschleier des Rasensprengers ging. Ralph fiel auf, daß er jede Rippe von Eds Brustkorb sehen konnte; der Mann sah aus, als hätte er seit Monaten keine anständige Mahlzeit mehr eingenommen.
»Aber wenn die Dummheit einmal ein bestimmtes Maß erreicht hat, fällt es einem schwer, damit zu leben«, fuhr Ed fort. »Sie ist im Grunde genommen wie die drei Weisen, die zu König Herodes kommen und Informationen wollen. Ich meine, wie dumm kann man werden? > Wo ist der, der zum König der Juden geboren ist?< Das fragen sie Herodes. Ich meine, von wegen weise Männer! Richtig, Ralph?«