355 500 произведений, 25 200 авторов.

Электронная библиотека книг » Stephen Edwin King » Schlaflos » Текст книги (страница 49)
Schlaflos
  • Текст добавлен: 12 октября 2016, 02:36

Текст книги "Schlaflos"


Автор книги: Stephen Edwin King


Жанры:

   

Ужасы

,

сообщить о нарушении

Текущая страница: 49 (всего у книги 50 страниц)

Es ist fast vorbei, sagte seine innere Stimme. Sie gehörte nicht mehr Carolyn oder Bill oder seinem jüngeren Selbst; sie war jetzt völlig eigenständig, die Stimme eines Fremden, allerdings nicht unbedingt eines unfreundlichen. Darum bist du so traurig, Ralph. Es ist völlig normal, traurig zu sein, wenn die Uhr abläuft.

Nichts ist fast vorbei! schrie er zurück. Warum sollte es? Bei meiner letzten Untersuchung hat Dr. Pickard gesagt, ich wäre kerngesund! Mir geht es gut! Ich habe mich nie besser gefühlt!

Die innere Stimme schwieg. Aber es war ein wissendes Schweigen.

»Okay«, sagte Ralph eines Nachmittags Ende Juli laut. Er saß auf einer Bank nicht weit von der Stelle entfernt, wo bis 1985 der Wasserturm von Derry gestanden hatte, als der große Sturm ihn umwarf. Am Fuß des Hügels, in der Nähe des Vogelbads, machte sich ein junger Mann (ein gewissenhafter Vogelbeobachter, dem Fernglas, das er um den Hals trug, und dem Stapel Taschenbücher neben sich im Gras nach zu urteilen, gewissenhaft Notizen in eine Art Tagebuch. »Okay, sag mir, warum es fast vorbei ist. Sag mir nur das.«

Es erfolgte keine unmittelbare Antwort, aber das machte nichts; Ralph war bereit zu warten. Der Spaziergang hierher war anstrengend gewesen, der Tag war heiß, und Ralph war müde. Er wachte jetzt jeden Morgen gegen 3:30 Uhr auf. Er machte wieder lange Spaziergänge, aber nicht in der Hoffnung, sie würden ihm helfen, besser oder länger zu schlafen; er glaubte, daß er Pilgerfahrten unternahm, daß er seine ganzen Lieblingsplätze in Derry ein letztes Mal besuchte. Daß er Lebewohl sagte.

Weil die Zeit des Versprechens fast gekommen ist, antwortete die Stimme, und die Narbe pochte wieder mit ihrer starken, konzentrierten Hitze. Das dir gegeben wurde, und das du als Gegenleistung gegeben hast.

»Was war das?« fragte er aufgeregt. »Bitte, wenn ich ein Versprechen gegeben habe, warum kann ich mich daran nicht erinnern?«

Das hörte der gewissenhafte Vogelbeobachter und sah den Hügel hinauf. Er sah einen Mann auf einer Parkbank sitzen und anscheinend Selbstgespräche führen. Der gewissenhafte Vogelbeobachter zog verächtlich die Mundwinkel nach unten und dachte: Ich hoffe, ich sterbe, bevor ich so alt werde. Wirklich. Dann drehte er sich wieder zu dem Vogelbad um und setzte seine Notizen fort.

Plötzlich kam tief im Inneren von Ralphs Kopf dieses verkrampfte Gefühl wieder – das Blinzeln -, und obwohl er sich nicht von der Bank fortbewegte, spürte er doch, wie er rapide in die Höhe getragen wurde… schneller und höher als jemals zuvor.

Ganz und gar nicht, sagte die Stimme. Einmal warst du viel höher als jetzt, Ralph – und Lois. Aber du kommst wieder hin. Bald wirst du bereit sein.

Der Vogelbeobachter, der, ohne es zu wissen, inmitten einer prachtvollen Aura aus gesponnenem Gold lebte, sah sich verstohlen um – möglicherweise wollte er sicherstellen, daß sich der senile alte Mann auf der Bank da oben auf dem Hügel nicht mit einem stumpfen Gegenstand an ihn heranschlich. Aber bei dem Anblick, der sich ihm bot, entspannte sich die verkrampfte, verbissene Linie seines Mundes. Er riß die Augen auf. Ralph erblickte plötzlich kreisende, indigoblaue Speichen in der Aura des gewissenhaften Vogelbeobachters und wußte, daß er einen Mann vor sich sah, der gerade einen Schock erlitten hatte.

Was ist los mit ihm? Was sieht er?

Aber das stimmte nicht. Es ging nicht darum, was der Vogelbeobachter sah, sondern was er nicht sah. Er sah Ralph nicht, denn Ralph war so weit aufgestiegen, daß er aus dieser Ebene verschwunden war – er war zum visuellen Gegenstück des Tons einer Hundepfeife geworden.

Wenn sie jetzt hier wären, könnte ich sie mühelos sehen.

Wer, Ralph? Wenn wer hier wäre?

Klotho. Lachesis. Und Atropos.

Plötzlich fügten sich die Teile wie im Flug in seinem Geist zusammen, wie die Stücke eines Puzzles, das viel komplizierter aussah, als es in Wirklichkeit war.

Ralph, flüsternd: [»O mein Gott. O mein Gott. O mein Gott.«]

Sechs Tage später erwachte Ralph um Viertel nach drei Uhr morgens und wußte, daß der Zeitpunkt des Versprechens gekommen war.

»Ich glaube, ich gehe zum Red Apple, mir ein Eis holen«, sagte Ralph. Es war fast zehn Uhr. Sein Herz schlug viel zu schnell, und seine Gedanken waren unter dem konstanten weißen Rauschen der Todesangst, die er jetzt verspürte, kaum zu finden. Ihm war in seinem ganzen Leben noch nie weniger nach Eis zumute gewesen, aber es war eine einleuchtende Ausrede für einen Spaziergang zum Red Apple; man schrieb die erste Augustwoche, der Wetterbericht hatte gesagt, daß die Quecksilbersäule am frühen Nachmittag wahrscheinlich über zweiunddreißig steigen und am frühen Abend Gewitter auf ziehen würden.

Ralph glaubte, daß er sich wegen des Gewitters keine Sorgen mehr zu machen brauchte.

Neben der Küchentür stand ein Bücherregal auf Zeitungen. Lois hatte es rot gestrichen. Jetzt stand sie auf, stemmte die Hände unten in den Rücken und streckte sich. Ralph konnte das leise Knacken der Wirbelsäule hören. »Ich komme mit dir. Wenn ich nicht eine Weile von der Farbe wegkomme, werde ich heute nacht Kopfschmerzen haben. Ich weiß sowieso nicht, warum ich an so einem schwülen Tag etwas anstreichen wollte.«

Ralph hatte als Allerletztes vor, sich von Lois zum Red Apple begleiten zu lassen. »Das mußt du nicht, Liebling; ich bringe dir ein Kokoseis am Stiel mit, das du so magst. Ich wollte nicht mal Rosalie mitnehmen, weil es so schwül ist. Warum setzt du dich nicht hinten auf die Veranda?«

»Wenn du an so einem Tag ein Eis am Stiel bis hierher trägst, fällt es wahrscheinlich vom Stiel, bis du hier bist«, sagte sie. »Komm schon, gehen wir, solange noch Schatten auf dieser Seite der…«

Sie verstummte langsam. Das verhaltene Lächeln verschwand von ihrem Gesicht. Es wich einem bestürzten Ausdruck, und das Grau ihrer Aura, das in den Jahren, als Ralph es nicht sehen konnte, nur ein bißchen dunkler geworden war, erstrahlte nun mit Scharen rötlich-rosafarbener Fünkchen.

»Ralph, was ist los? Was hast du wirklich vor?«

»Nichts«, sagte er, aber die Narbe in seinem Arm glühte, und das Ticken der Todesuhr war überall, laut und allgegenwärtig. Es sagte ihm, daß er eine Verabredung einhalten mußte. Ein Versprechen.

»O doch, und es geht schon seit zwei oder drei Monaten so, vielleicht länger. Ich bin eine dumme Frau – ich hab gewußt, daß etwas in der Luft lag, hab es aber nicht fertiggebracht, mich ihm direkt zu stellen. Weil ich Angst hatte. Und ich hatte recht, Angst zu haben, oder nicht? Ich hatte recht.«

»Lois —«

Plötzlich kam sie durch das Zimmer auf ihn zu, kam schnell, sprang fast, die alte Rückenverletzung hinderte sie nicht im geringsten, und bevor er sie aufhalten konnte, hatte sie seinen rechten Arm gepackt, streckte ihn und betrachtete ihn gebannt.

Die Narbe leuchtete in einem heftigen, strahlenden Rot.

Ralph hoffte kurz, daß es nur ein Leuchten der Aura war, das sie nicht sehen konnte. Dann sah sie mit runden Augen voller Angst auf. Angst und noch etwas. Ralph fand, daß dieses Andere Wiedererkennen war.

»O mein Gott«, flüsterte sie. »Die Männer im Park. Die mit den komischen Namen… Klothes und Lashes oder so… und einer hat dich geschnitten. O Ralph, o mein Gott, was sollen wir tun?«

»Lois, jetzt reg dich nicht auf -«

»Komm mir nicht mit. Reg dich nicht auf!« kreischte sie ihm ins Gesicht. »Wage es nicht! Wage es JA nicht!«

Beeil dich, flüsterte die innere Stimme. Du hast keine Zeit, hier herumzustehen und dich darüber zu unterhalten; irgendwo hat es schon angefangen, und die Todesuhr, die du hörst, tickt möglicherweise nicht nur für dich.

»Ich muß gehen.« Er drehte sich um und stapfte zur Tür. In seiner Aufregung bemerkte er eine gewisse Sherlock Holmessche Einzelheit dieser Szene nicht: Ein Hund, der hätte bellen müssen – ein Hund, der immer mißbilligend bellte, wenn in diesem Haus Stimmen erhoben wurden -, bellte nicht. Rosalie lag nicht an ihrem Lieblingsplatz neben der Tür… und die Tür selbst war angelehnt.

Aber im Augenblick lag Ralph nichts ferner als Rosalie. Er kam sich vor, als stünde er knietief in Melasse und glaubte, es wäre eine reife Leistung, wenn er nur bis zur Veranda käme, geschweige denn die Straße hinauf zum Red Apple. Sein Herz pochte und raste in der Brust; seine Augen brannten.

»Nein!« schrie Lois. »Nein, Ralph, bitte! Bitte verlaß mich nicht!«

Sie lief hinter ihm her und hielt ihn am Arm fest. Sie hielt noch den Pinsel in der Hand, und die feinen Farbspritzer auf seinem Hemd sahen wie Blut aus. Jetzt weinte sie, und der Ausdruck völligen, allumfassenden Kummers brach ihm fast das Herz. Er wollte sie nicht so verlassen; war nicht sicher, ob er sie so verlassen konnte.

Er drehte sich um und hielt sie an den Unterarmen. »Lois, ich muß gehen.«

»Du hast nicht geschlafen«, stammelte sie. »Ich wußte es, und ich wußte, es bedeutet, daß etwas nicht stimmt, aber das macht nichts, wir gehen fort, wir können gleich aufbrechen, noch in dieser Minute, wir nehmen nur Rosalie und unsere Zahnbürsten und gehen -«

Er drückte ihre Arme, worauf sie verstummte und mit feuchten Augen zu ihm aufsah. Ihre Lippen bebten.

»Lois, hör mir zu. Ich muß es tun.«

»Ich habe Paul verloren, ich kann nicht auch noch dich verlieren!« schluchzte sie. »Ich könnte es nicht ertragen! O Ralph, ich könnte es nicht ertragen!«

Du wirst es können, dachte er. Kurzfristige sind viel zäher, als sie aussehen. Das müssen Sie sein.

Ralph spürte, wie ihm zwei Tränen an den Wangen herabliefen. Er vermutete, daß eher Müdigkeit als Traurigkeit der Grund dafür war. Wenn er ihr begreiflich machen könnte, daß dies alles nichts änderte, nur schwerer machte, was er tun mußte…

Er hielt sie auf Armeslänge von sich. Die Narbe an seinem Arm pochte heftiger denn je, und das Gefühl, daß ihm die Zeit unerbittlich zwischen den Fingern verrann, wurde überwältigend.

»Dann komm zumindest ein Stück mit mir, wenn du willst«, sagte er. »Vielleicht kannst du mir sogar dabei helfen, was ich tun muß. Ich habe mein Leben gehabt, Lois, und es war ein schönes Leben. Aber sie hat noch gar nchts gehabt, und der Teufel soll mich holen, wenn ich sie diesem Dreckskerl überlasse, nur weil er noch eine alte Rechnung mit mir zu begleichen hat.«

»Was für ein Dreckskerl, Ralph? Wovon, um alles in der Welt, redest du?«

»Ich rede von Natalie Deepneau. Sie soll heute morgen sterben, aber das werde ich nicht zulassen.«

»Nat? Ralph, warum sollte jemand Nat etwas antun?«

Sie sah sehr bestürzt aus, ganz unsere Lois… aber lag nicht etwas anderes unter dem arglosen Äußeren? Etwas Überlegtes und Berechnendes? Ralph fand, daß die Antwort ja lautete. Ralph überlegte sich, daß Lois möglicherweise nicht halb so bestürzt war, wie sie tat. Sie hatte Bill McGovern jahrelang mit dieser Nummer getäuscht – ihn auch, jedenfalls manchmal -, und dies war nur eine weitere (und ziemlich brillante) Variation des alten Schwindels.

In Wirklichkeit versuchte sie, ihn hier festzuhalten. Sie liebte Nat von Herzen, aber für Lois gab es keinen Zweifel, wenn sie sich zwischen ihrem Mann und dem kleinen Mädchen am Ende der Straße entscheiden mußte. Für sie hatten weder das Alter noch Fragen der Fairness einen Einfluß auf die Situation. Ralph war ihr Mann; nur das allein zählte für Lois.

»Das funktioniert nicht«, sagte er nicht unfreundlich. Er löste sich von ihr und ging wieder zur Tür. »Ich habe ein Versprechen gegeben, und meine Zeit wird knapp.«

»Dann brich es!« schrie sie, und die Mischung aus Verzweiflung und Wut in ihrer Stimme setzte ihn in Erstaunen. »Ich kann mich kaum noch an die Zeit erinnern, aber ich weiß, wir wurden in Ereignisse verwickelt, die uns fast das Leben gekostet hätten, und zwar aus Gründen, die wir nicht einmal verstehen konnten. Also brich es, Ralph! Besser dein Versprechen als mein Herz!«

»Und was ist mit dem Kind? Was ist mit Helen, wenn wir schon dabei sind? Sie lebt nur für Nat. Verdient Helen nicht etwas Besseres von mir als ein gebrochenes Versprechen?«

»Mir ist gleich, was sie verdient! Was sie alle verdienen!« schrie sie, doch dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. »Nein, das stimmt nicht. Aber was ist mit uns, Ralph? Zählen wir nicht?« Ihre Augen, die dunklen und länglichen spanischen Augen, flehten ihn an. Wenn er zu lange in sie hineinsah, würde es ihm allzu leichtfallen, die Sache aufzugeben, daher sah er schnell weg.

»Ich werde es tun, Liebling. Nat wird bekommen, was du und ich schon gehabt haben – siebzig Jahre voller Tage und Nächte.«

Sie sah ihn hilflos an, unternahm aber keinen Versuch mehr, ihn aufzuhalten. Statt dessen fing sie an zu weinen. »Dummer alter Mann!« flüsterte sie. »Dummer, störrischer alter Mann!«

»Ja, kann sein«, sagte er und hob ihr Kinn. »Aber ich bin ein dummer, störrischer alter Mann, der zu seinem Wort steht. Komm mit mir. Das würde mir gefallen. Aber… wenn es passiert… mach die Augen zu. Sieh nicht hin.«

»Gut, Ralph.« Sie konnte ihre eigene Stimme kaum hören, und ihre Haut war so kalt wie Eis. Ihre Aura war fast völlig rot geworden. »Was ist es? Was wird ihr zustoßen?« »Sie wird von einer grünen Ford-Limousine überfahren werden. Wenn ich nicht ihren Platz einnehme, wird sie über die gesamte Harris Avenue verspritzt werden… und Helen wird sehen, wie es passiert.«

Als sie den Hügel hinauf zum Red Apple gingen (anfangs ließ Lois sich zurückfallen und trabte wieder heran, ließ es aber sein, als sie merkte, daß sie ihn mit so einem einfachen Trick nicht aufhalten konnte), erzählte ihr Ralph noch das Wenige, das er wußte. Sie konnte sich noch vage erinnern, wie sie unter dem vom Blitz gefällten Baum draußen an der Extension gewesen waren – eine Erinnerung, die sie, jedenfalls bis heute morgen, als Erinnerung an einen Traum betrachtet hatte -, aber natürlich war sie bei Ralphs letzter Konfrontation mit Atropos nicht dabeigewesen. Jetzt erzählte ihr Ralph davon – von dem zufälligen Tod, den Atropos Natalie erleiden lassen wollte, wenn sich Ralph seinen Plänen weiter in den Weg stellte. Er erzählte ihr, wie er Klotho und Lachesis das Versprechen abgerungen hatte, daß Atropos in diesem Fall überstimmt und Nat gerettet würde.

»Ich habe eine Ahnung, daß… die Entscheidung… ziemlich weit oben an der Spitze dieses seltsamen Gebäudes… des Turms… getroffen wurde, von dem sie immer reden. Vielleicht… ganz oben.« Er stieß die Worte keuchend hervor, und sein Herz schlug schneller denn je, aber er glaubte, daß sich das größtenteils auf die Anstrengung und den schwülen Tag zurückführen ließ; seine Angst hatte etwas nachgelassen. Das immerhin hatte das Gespräch mit Lois bewirkt.

Jetzt konnte er das Red Apple sehen. Mrs. Perrine stand aufrecht wie ein General, der die Truppe inspiziert, an der Bushaltestelle. Ihr Einkaufsnetz hing über einem Arm. Ein Unterstand befand sich hinter der Haltestelle, und darin war es schattig, aber Mrs. Perrine ignorierte seine Existenz hartnäckig. Selbst im grellen Sonnenlicht konnte er sehen, daß ihre Aura noch dieselbe graue West-Point-Farbe hatte wie an jenem Oktoberabend des Jahres 1993. Von Helen und Nat war noch nichts zu sehen.

»Selbstverständlich wußte ich, wer er war«, erzählte Esther Perrine später dem Reporter der Derry News. »Mache ich einen unfähigen Eindruck auf Sie, junger Mann? Oder einen senilen? Ich kenne Ralph Roberts seit über zwanzig Jahren. Ein guter Mann. Selbstverständlich nicht aus demselben Holz wie seine Frau geschnitzt – Carolyn war eine Satterwaite, von den Bangor-Satterwaites -, aber trotzdem ein sehr anständiger Mann. Ich habe auch den Fahrer des grünen Ford-Automobils sofort erkannt. Pat Sullivan hat mir sechs Jahre meine Zeitung gebracht, und er hat es gut gemacht. Der neue, der Junge der Morrisons, wirft sie immer in mein Blumenbeet oder auf das Dach der Veranda. Soweit ich weiß, fuhr Pat mit seiner Mutter auf provisorischen Führerschein. Ich hoffe, er nimmt sich nicht allzusehr zu Herzen, was geschehen ist, denn er ist ein guter Junge, und es war wirklich nicht seine Schuld. Ich habe alles gesehen und würde jeden Eid darauf schwören.

Wahrscheinlich denken Sie, daß ich dummes Zeug rede. Streiten Sie das nicht ab; ich kann in Ihrem Gesicht lesen wie Sie in Ihrer eigenen Zeitung. Aber machen Sie sich keine Sorgen – ich habe fast alles gesagt, was ich zu sagen habe. Ich wußte auf der Stelle, daß es Ralph war, aber etwas werden Sie falsch verstehen, auch wenn Sie es in Ihrer Geschichte bringen… was Sie wahrscheinlich nicht tun. Er kam aus dem Nichts, um dieses kleine Mädchen zu retten.«

Esther Perrine fixierte den respektvoll schweigenden jungen Reporter mit einem formidablen Blick – wie ein Insektenforscher einen Schmetterling auf der Nadel, nachdem er ihn chloroformiert hat.

»Ich meine nicht, daß es ausgesehen hat, als käme er aus dem Nichts, junger Mann, auch wenn ich wette, daß Sie das drucken werden.«

Sie beugt sich zu dem Reporter, ohne den Blick von seinem Gesicht abzuwenden, und sagt es noch einmal.

»Er kam aus dem Nichts, um das kleine Mädchen zu retten. Können Sie mir folgen, junger Mann? Er kam aus dem Nichts.«

Der Unfall war die Schlagzeile der Derry News des nächsten Tages. Esther Perrines Bemerkungen waren so farbenprächtig gewesen, daß sie einen eigenen Kasten am Rand bekam, und der Fotograf Tom Matthews machte eine Aufnahme von ihr, auf der sie aussah wie Ma Joad aus Die Früchte des Zorns. Die Schlagzeile über dem Kasten lautete: »ES WAR, ALS WÄRE ER AUS DEM NICHTS GEKOMMEN«, BEHAUPTET AUGENZEUGIN.

Als Mrs. Perrine es las, war sie nicht im geringsten überrascht.

»Letzten Endes bekam ich, was ich wollte«, sagte Ralph, »aber nur weil Klotho und Lachesis – und derjenige auf der höheren Etage, für den sie arbeiten – Ed um jeden Preis aufhalten wollten.«

»Höheren Etage? Was für einer höheren Etage? In was für einem Gebäude?«

»Unwichtig. Du hast es vergessen, aber es würde auch nichts ändern, wenn du dich erinnern würdest. Wichtig ist nur folgendes, Lois: Sie wollten Ed nicht aufhalten, weil tausende Menschen gestorben wären, wenn er direkt ins Bürgerzentrum hineingerast wäre. Sie wollten ihn aufhalten, weil das Leben eines Menschen unter allen Umständen verschont werden mußte… ihrer Meinung nach jedenfalls. Als sie schließlich einsahen, daß ich über mein Kind genauso dachte wie sie über ihres, wurden Vereinbarungen getroffen.«

»Da haben sie dich geschnitten, richtig? Und dann hast du dein Versprechen gegeben. Von dem du im Schlaf gesprochen hast.«

Er warf ihr mit großen Augen einen verblüfften und herzzerreißend jungenhaften Blick zu. Sie erwiderte den Blick nur.

»Ja«, sagte er und wischte sich die Stirn ab. »Das nehme ich an.« Auf der Harris Avenue herrschte heute dichter Verkehr, und die Luft lag wie Metallsplitter in Ralphs Lungen. »Ein Leben für ein Leben, das war die Abmachung – Natalies im Tausch gegen meines. Und -«

[Hey! Hör auf, dich davonschleichen zu wollen! Hör auf, Rover, oder ich trete dir dein Arschloch eckig!]

Ralph verstummte, als er diese schrille, herrische, seltsam vertraute Stimme hörte – eine Stimme, die kein Mensch auf der Harris Avenue hören konnte, außer ihm -, und sah über die Straße.

»Ralph? Was -«

»Pssst!«

Er zog sie zu der sommerlich vertrockneten Hecke vor dem Haus der Applebaums zurück. Inzwischen transpirierte er nicht mehr nur; sein ganzer Körper stank nach einem übelriechenden Schweiß, so dick wie Motoröl, und er konnte spüren, wie jede Drüse in seinem Körper ihre heiße Ladung in seine Blutbahnen pumpte. Seine Unterwäsche wollte ihm in die Arschfalte kriechen und verschwinden. Seine Zunge schmeckte wie eine verbrannte Zündschnur.

Lois folgte seinem Blick. »Rosalie!« rief sie. »Rosalie, du böser Hund! Was machst du denn hier?«

Der schwarzbraune Beagle, den sie Ralph an ihrem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest geschenkt hatte, befand sich auf der anderen Straßenseite und stand (kauerte wäre das bessere Wort gewesen) auf dem Bürgersteig vor dem Haus, wo Helen und Nat gewohnt hatten, bevor Ed übergeschnappt war. Zum erstenmal in den Jahren, seit sie die Hündin hatten, erinnerte sie Lois an Rosalie Nr. 1, den hinkenden Streuner, der an dem Abend, nachdem Ralph eine verzweifelte Lois Chasse auf der Parkbank gefunden hatte, wo sie sich die Seele aus dem Leib weinte, auf der Straße überfahren worden war. Rosalie Nr. 2 schien ganz allein da drüben zu sein, aber das konnte Lois’ plötzliches Entsetzen nicht vertreiben.

Oh, was habe ich getan? dachte sie. Was habe ich getan?

»Rosalie!« schrie sie. »Rosalie, komm hier rüber!«

Die Hündin hörte sie, das konnte Lois sehen, aber sie bewegte sich nicht.

»Ralph? Was ist da drüben los?«

»Psssst!« sagte er wieder, und dann sah Lois etwas weiter oben an der Straße etwas, bei dem ihr der Atem stockte. Ihre letzte schwache Hoffnung, daß sich Ralph das alles nur einbildete, daß es eine Art Rückbesinnung auf ihre früheren Erlebnisse sein könnte, verschwand mit einem Mal, denn jetzt hatte ihr Hund Gesellschaft.

Die sechs Jahre alte Nat Deepneau kam mit einem Springseil über dem rechten Arm zum Ende ihrer Einfahrt herunter und sah die Straße hinunter zu dem Haus, in dem sie einmal gewohnt hatte, woran sie sich allerdings nicht erinnerte, zu dem Rasen, wo ihr Vater einmal ohne Hemd zwischen sich überschneidenden Regenbogen gesessen und Jefferson Airplane gehört hatte, während ein einziger Blutstropfen auf seiner John-Lennon-Brille trocknete. Natalie sah die Straße hinunter und lächelte glücklich, als sie Rosalie sah, die hechelte und sie mit kläglichen, ängstlichen Augen beobachtete.

Atropos sieht mich nicht, dachte Ralph. Er konzentriert sich auf Rosie… und natürlich auf Natalie… und er sieht mich nicht.

Alles fügte sich mit einer tückischen Perfektion zusammen. Das Haus war da, Rosalie war da, und Atropos war auch da, er hatte einen Hut auf dem Kopf zurückgeschoben und sah aus wie ein sprücheklopfender Reporter in einem B-Film aus den fünfziger Jahren – möglicherweise einem, bei dem Ida Lupino Regie geführt hatte. Aber diesmal war es kein Panama mit angebissener Krempe; diesmal war es eine Mütze der Boston Red Sox, und die war selbst für Atropos zu klein, weil das justierbare Band an der Rückseite bis ins letzte Loch gezogen worden war. Damit sie dem kleinen Mädchen paßte, dem sie gehörte.

Jetzt brauchen wir nur noch Pat, den Zeitungsjungen, und die Show ist perfekt, dachte Ralph. Die letzte Szene von Schlaflos, oder Das Leben der Kurzfristigen in der Harris Avenue, eine Tragikomödie in drei Akten. Alle verbeugen sich und treten nach rechts von der Bühne ab.

Dieser Hund hatte Angst vor Atropos, genau wie Rosalie Nr. 1, und der Hauptgrund, weshalb der kleine kahlköpfige Doc Ralph und Lois nicht gesehen hatte, war der, daß er versuchte, sie am Weglaufen zu hindern, bevor er bereit war. Und da kam Nat den Bürgersteig entlang zu ihrem liebsten Hund auf der ganzen Welt, Ralphs und Lois’ Rosie. Ihr Springseil (drei-sechs-neun die Gans trank Wein) hatte sie über den Arm geschlungen. Sie sah unglaublich schön und unglaublich verwundbar aus in ihrer Matrosenbluse und den blauen Shorts. Ihre Zöpfe wippten.

Es passiert zu schnell, dachte Ralph. Alles passiert viel zu schnell.

[Ganz und gar nicht, Ralph! Vor fünf Jahren haben Sie es prima gemacht; Sie werden es jetzt auch prima machen. Gott liebt Sie… und jetzt halten Sie Ihr Versprechen.]

Das hörte sich nach Klotho an, aber er hatte keine Zeit, sich zu vergewissern. Ein grünes Auto fuhr langsam aus der Richtung des Flughafens die Harris Avenue entlang; es fuhr mit der quälenden Vorsicht, die normalerweise darauf schließen ließ, daß entweder ein sehr alter oder ein sehr junger Mensch am Steuer saß. Quälende Vorsicht hin oder her, es war zweifellos das Auto; eine schmutzige Membran hing wie ein Leichentuch darüber.

Das Leben ist ein Rad, dachte Ralph, und er überlegte sich, daß ihm dieser Gedanke nicht zum erstenmal kam. Früher oder später kommt alles, das man hinter sich gelassen zu haben glaubt, wieder zum Vorschein. Ob gut oder schlecht, es kommt wieder zum Vorschein.

Rosie unternahm einen weiteren vergeblichen Versuch, die Freiheit zu erlangen, und als Atropos sie zurückriß, kniete Nat sich vor sie hin und streichelte sie. »Hast du dich verirrt, Mädchen? Bist du alleine rausgekommen? Das macht nichts, ich bring dich nach Hause.« Sie umarmte Rosie, ihre kleinen Ärmchen gingen durch die Arme von Atropos, ihr kleines, hübsches Gesicht war nur Zentimeter von seinem häßlichen, grinsenden entfernt. Dann stand sie auf. »Komm mit, Rosie. Komm mit, Hündchen.«

Als Nat losging, blieb Rosalie ihr unmittelbar auf den Fersen, drehte sich noch einmal zu dem grinsenden Mann um und winselte nervös. Auf der anderen Seite der Harris Avenue kam Helen aus dem Red Apple, und damit war die letzte Bedingung der Vision, de Atropos Ralph gezeigt hatte, erfüllt. Helen hielt einen Laib Brot in der Hand. Die Red-Sox-Mütze hatte sie auf dem Kopf.

Ralph zog Lois in seine Arme und küßte sie innig. »Ich liebe dich von ganzem Herzen«, sagte er. »Vergiß das nicht, Lois.«

»Das weiß ich«, sagte sie ruhig. »Und ich liebe dich. Darum kann ich nicht zulassen, daß du es tust.«

Sie schlang Arme wie Eisenbänder um seinen Hals, und er spürte ihre Brüste an seinem Körper, als sie so tief Luft holte, wie sie nur konnte.

»Geh weg, du elender kleiner Dreckskerl!« schrie sie. »Ich kann dich nicht sehen, aber ich weiß, daß du da bist! Geh weg! Geh weg und laß uns in Ruhe!«

Natalie blieb wie angewurzelt stehen und sah Lois mit großen, überraschten Augen an. Rosalie blieb neben ihr stehen und spitzte die Ohren.

»Geh nicht auf die Straße, Nat!« rief Lois ihr zu. »Geh nicht -« Dann hielten ihre Hände, die sie in Ralphs Nacken verschränkt hatte, plötzlich gar nichts mehr, ihre Arme, die einen unnachgiebigen Klammergriff bildeten, waren leer.

Er hatte sich in Luft aufgelöst.

Atropos sah in die Richtung, aus der der Warnschrei gekommen war, und erblickte Ralph und Lois, die auf der anderen Seite der Harris Avenue standen. Wichtiger, er stellte fest, daß Ralph ihn sehen konnte. Er riß die Augen auf und fletschte die Lippen zu einem haßerfüllten Fauchen. Eine Hand flog zu seinem kahlen Schädel, der unter der Mütze von alten Narben bedeckt war, die er mit seinem eigenen Skalpell zugefügt bekommen hatte – eine instinktive schützende Geste, die fünf Jahre zu spät kam.

[Hol dich der Teufel, Kurzer! Das kleine Biest gehört mir!] Ralph sah Nat, die Lois unsicher und überrascht anblickte. Er hörte, wie Lois ihr zurief, sie sollte nicht auf die Straße gehen. Dann hörte er Lachesis, der ganz in der Nähe sprach. [Kommen Sie herauf, Ralph! Soweit Sie können! Schnell!] Er spürte den Krampf mitten in seinem Kopf, spürte das kurze Schwindelgefühl im Magen, und plötzlich wurde die ganze Welt hell und füllte sich mit Farben. Er spürte halb und sah halb, wie Lois’ Arme und verschränkten Hände an der Stelle in sich zusammenfielen, wo sich sein Körper noch vor einem Augenblick befunden hatte, und dann wich er vor ihr zurück -nein, wurde von ihr weggezogen. Er spürte den Sog einer gewaltigen Strömung und begriff ein wenig verschwommen: Wenn es so etwas wie den Höheren Plan gab, dann hatte er ihn jetzt erreicht und würde bald mit ihm stromabwärts gerissen werden.

Natalie und Rosalie standen direkt vor dem Haus, das sich Ralph einmal mit Bill McGovern geteilt hatte, bevor er es verkauft hatte und in Lois’ Haus gezogen war. Nat sah zweifelnd zu Lois, dann winkte sie. »Alles in Ordnung, Lois -schau, sie ist hier bei mir.« Sie tätschelte Rosalies Kopf. »Ich bring sie sicher rüber, keine Bange.« Als sie auf die Straße trat, rief sie ihrer Mutter zu: »Ich kann meine Baseballmütze nicht finden! Ich glaube, jemand hat sie gestehlt!«

Rosalie stand immer noch auf dem Bürgersteig. Nat drehte sich ungeduldig zu ihr um. »Komm schon, Mädchen!«

Das grüne Auto fuhr auf das Kind zu, aber sehr langsam. Zuerst schien keine Gefahr zu bestehen. Ralph erkannte den Fahrer sofort, und er zweifelte nicht an seinen Sinnen oder glaubte an eine Halluzination. In diesem Augenblick schien es völlig richtig zu sein, daß die allmählich näherkommende Limousine von seinem ehemaligen Zeitungsjungen gefahren wurde.

»Natalie!« schrie Lois. »Natalie, nein!«

Atropos schoß nach vorne und versetzte Rosalie Nr. 2 einen heftigen Schlag.

[Verschwinde, Köter! Los! Bevor ich’s mir anders überlege!]

Atropos hatte einen letzten höhnischen Blick für Ralph übrig, als Rosie kläffte und auf die Straße lief… und vor den Ford, den der sechzehnjährige Pat Sullivan fuhr.

Natalie sah das Auto nicht; sie sah zu Lois, deren Gesicht rot und erschrocken war. Plötzlich fiel Nat ein, daß Lois vielleicht gar nicht wegen Rosie schrie, sondern wegen etwas ganz anderem.

Pat registrierte den laufenden Beagle; das kleine Mädchen sah er nicht. Er schwenkte, um Rosalie auszuweichen, ein Manöver, das damit endete, daß der Ford direkt auf Natalie zufuhr. Ralph konnte zwei ängstliche Gesichter hinter der Windschutzscheibe sehen, als das Auto herumgerissen wurde, und er glaubte, daß Mrs. Sullivan schrie.

Atropos hüpfte auf und ab und schlug sich auf die Schenkel wie ein Seemann, der einen Hornpipe tanzt.

[Jaaaa, Kurzer! Dummer weißhaariger Trottel! Ich hob dir ja gesagt, ich werd’s dir zeigen!]

Helen ließ den Laib Brot, den sie trug, in Zeitlupe fallen. »Natalie, PASS AUUUUUUF!« schrie sie.

Ralph lief los. Wieder hatte er den deutlichen Eindruck, als würde er sich allein kraft seiner Gedanken bewegen. Und als er mit ausgestreckten Händen auf Nat zurannte und das Auto sah, das unmittelbar hinter ihr war, während ihm durch das Leichentuch grelle Sonnenstrahlen in die Augen fielen, verkrampfte er seinen Geist wieder und sank zum letztenmal auf die Ebene der Kurzfristigen zurück.

Er fiel in eine Landschaft, in der abgehackte Schreie ertönten: Der von Helen vermischte sich mit dem von Lois, der sich mit denen der Reifen des Ford vermischte. Und wie der wilde Trieb einer Ranke wand sich der Jubel von Atropos durch alle hindurch. Ralph sah ganz kurz Nats aufgerissene blaue Augen, dann stieß er sie so fest er konnte in Brust und Bauch, so daß sie mit rudernden Händen und Füßen nach hinten flog. Sie landete aufrecht sitzend im Rinnstein und stieß sich den Steiß am Bordstein an, brach sich aber nichts. Von einem fernen Ort hörte Ralph Atropos voller Wut und Fassungslosigkeit kreischen.


    Ваша оценка произведения:

Популярные книги за неделю