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Schlaflos
  • Текст добавлен: 12 октября 2016, 02:36

Текст книги "Schlaflos"


Автор книги: Stephen Edwin King


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Ужасы

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Текущая страница: 31 (всего у книги 50 страниц)

Ralph: [»Und wenn ich mich nun weigere, noch mehr von diesem Unsinn anzuhören? Wenn ich mich einfach umdrehe und gehe?«]

Keiner antwortete, aber Ralph sah etwas Bestürzendes in ihren Augen: Sie wußten, daß Atropos Lois Ohrringe hatte, und sie wußten, daß er es ebenfalls wußte. Die einzige, die es nicht wußte – hoffte er -, war Lois selbst.

Die zupfte jetzt an seinem Arm.

[»Tu das nicht, Ralph – bitte nicht. Wir müssen sie zu Ende anhören.«]

Er drehte sich wieder zu ihnen um und deutete mit einer knappen Geste an, daß sie fortfahren sollten.

Lachesis: [Unter gewöhnlichen Umständen mischen wir uns nicht in Atropos’ Geschäfte ein, und er sich nicht in unsere. Wir könnten uns nicht einmischen, selbst wenn wir es wollten; der Plan und der Zufall sind wie die schwarzen und weißen Felder eines Schachbretts, sie definieren einander durch den Kontrast. Aber Atropos will sich in das Wirken der Dinge einmischen – in einem durchaus realen Sinne wurde er geschaffen, um sich einzumischen -, und bei seltenen Anlässen bietet sich die Gelegenheit, in wirklich großem Maßstab einzugreifen. Selten gibt es Bemühungen, diese Einmischung zu unterbinden -]

Klotho: [Die Wahrheit sieht in Wirklichkeit etwas drastischer aus, Ralph und Lois; soweit wir wissen, ist niemals ein Versuch unternommen worden, ihn zu beeinflussen oder an etwas zu hindern.]

Lachesis: [– und sie finden nur statt, wenn die Situation, in die er sich einmischen will, eine äußerst prekäre ist, ein Gleichgewicht von vielen ernsten Belangen. Dies ist eine dieser Situationen. Atropos hat einen Lebensfaden durchgeschnitten, den er besser in Ruhe gelassen hätte. Das wird zu Problemen auf allen Ebenen führen, ganz zu schweigen von einem gravierenden Ungleichgewicht zwischen dem Zufall und dem Plan, wenn de Situation nicht bereinigt wird. Wir können nicht selbst erledigen, was getan werden muß; die Situation übersteigt unsere bescheidenen Fähigkeiten bei weitem. Wir können nicht mehr deutlich sehen, geschweige denn handeln. Doch in diesem Fall spielt unser Unvermögen zu sehen kaum eine Rolle, denn letzten Endes können sich nur Kurzfristige dem Willen von Atropos widersetzen. Darum seid ihr beiden hier.]

Ralph: [»Wollen Sie damit sagen, daß Atropos die Schnur von jemandem durchgeschnitten hat, der eines natürlichen Todes sterben sollte… oder eines planmäßigen Todes?«]

Klotho: [Nicht exakt. Manche Leben – sehr wenige – unterliegen ‘keinem klaren Muster. Wenn Atropos so ein Leben beeinflußt, entstehen fast immer Schwierigkeiten. »Alles ist offen«, wie man bei euch zu sagen pflegt. Solche unbestimmten Leben sind wie -]

Klotho breitete die Arme aus, worauf ein Bild – wieder Spielkarten – zwischen ihnen aufblitzte. Eine Reihe von sieben Karten, die rasch, eine nach der anderen, von einer unsichtbaren Hand umgedreht wurden. Ein As; eine Zwei; ein Joker; eine Drei; eine Sieben; eine Dame. Die letzte Karte, die die unsichtbare Hand umdrehte, war leer.

Klotho: [Hilft dieses Bild weiter?]

Ralph runzelte die Stirn. Er wußte nicht, ob es weiterhalf, irgendwo da draußen existierte ein Mensch, der weder eine normale Karte noch ein Joker im Spiel war. Ein völlig unbeschriebenes Blatt, das sich beide Seiten schnappen konnten. Atropos hatte den metaphysischen Luftschlauch dieses Burschen durchgeschnitten, und jetzt hatte jemand -oder etwas – eine Auszeit beantragt.

Lois: [»Sie sprechen von Ed, richtig?«]

Ralph wirbelte herum und sah sie durchdringend an, aber sie betrachtete Lachesis.

[»Ed Deepneau ist die leere Karte.«]

Lachesis nickte.

[»Woher weißt du das, Lois?«]

[»Wer sollte es sonst sein?«]

Sie lächelte ihm nicht direkt zu, aber Ralph spürte die Entsprechung eines Lächelns. Er drehte sich wieder zu Klotho und Lachesis um.

[»Okay, allmählich zeichnet sich immerhin etwas ab. Und wer hat bei dieser Sache die Notbremse gezogen? Ich glaube nicht, daß Sie beide es gewesen sind – ich habe eine Ahnung, als wären Sie, zumindest in dieser Angelegenheit, nicht mehr als Handlanger.«]

Sie streckten einen Moment die Köpfe zusammen und murmelten, aber Ralph sah einen schwachen Ockerfarbton wie einen Saum an der Stelle erscheinen, wo ihre Auren sich berührten, und wußte, daß er recht hatte. Schließlich drehten die beiden sich wieder zu ihm und Lois um.

Lachesis: [Ja, das ist im wesentlichen richtig. Sie haben eine Art, alles ins rechte Licht zu rücken, Ralph. So eine Unterhaltung haben wir seit tausend Jahren nicht mehr geführt -]

Klotho: [Wenn überhaupt je.]

Ralph: [»Ihr müßt nur die Wahrheit sagen, Jungs.«]

Lachesis, flehentlich wie ein Kind: [Das haben wir!]

Ralph: [»Die ganze Wahrheit.«]

Lachesis: [Nun gut, die ganze Wahrheit. Ja, Atropos hat Ed Deepneaus Schnur durchgeschnitten. Das wissen wir nicht, weil wir es gesehen haben – wie schon gesagt, ist unser Sehvermögen nicht mehr besonders klar -, sondern weil es die einzig logische Schlußfolgerung ist. Deepneau ist ein unbeschriebenes Blatt, er gehört weder dem Plan noch dem Zufall; das wissen wir, und seine Lebensschnur muß von ungeheurer Bedeutung gewesen sein, daß so ein Aufhebens gemacht wird. Allein die Tatsache, daß er so lange weiterlebt, obwohl seine Schnur durchgeschnitten wurde, deutet auf seine Macht und seine Bedeutung hin. Als Atropos seine Schnur durchgeschnitten hat, hat er eine schreckliche Kette von Ereignissen ausgelöst.]

Lois erschauerte und stellte sich neben Ralph.

Lachesis: [Ihr habt uns Handlanger genannt. Das ist zutreffender, als euch bewußt ist. In diesem Fall sind wir nichts weiter als Boten. Unsere Aufgabe besteht darin, Ihnen und Lois klarzumachen, was geschehen ist und was von Ihnen erwartet wird, und diese Aufgabe haben wir fast erfüllt. Und wer »die Notbremse gezogen hat«, diese Frage können wir nicht beantworten, weil wir es selbst nicht wissen.]

[»Ich glaube Ihnen nicht.«]

Aber er hörte die fehlende Überzeugung in seiner eigenen Stimme (sofern es eine Stimme war).

Klotho: [Seien Sie nicht albern – selbstverständlich glauben Sie es! Würden Sie damit rechnen, daß die Direktoren eines riesigen Automobilkonzerns einen Fließbandarbeiter in die Chefetage einladen, um ihm die Hintergründe der Firmenpolitik zu erläutern? Oder um ihm detailliert zu erklären, warum ein Werk geschlossen wurde und das andere weiterproduzieren darf?]

Lachesis: [Wir stehen ein wenig höher als die Männer, die in Autofabriken am Fließband stehen, aber wir sind trotzdem noch das, was Sie vielleicht als »kleine Leute« bezeichnen würden, Ralph nicht mehr und nicht weniger.]

Klotho: [Geben Sie sich damit zufrieden: Über der Ebene kurzfristiger Existenzen und der langfristiger, auf der Lachesis, Atropos und ich existieren, gibt es noch andere. Diese werden von Wesen bewohnt, die wir Immerwährende nennen; sie existieren entweder ewig oder zumindest so lange, daß kaum ein Unterschied mehr besteht. Kurzfristige und Langfristige leben in überlappenden Sphären der Existenz – auf verbundenen Etagen desselben Gebäudes, wenn Sie so wollen -, die vom Plan und vom Zufall beherrscht werden. Über diesen Etagen, für uns unerreichbar, aber nichtsdestotrotz ebenso Bestandteil desselben Turms der Existenz, leben andere Wesen. Manche sind ehrfurchtgebietend und wunderbar, andere so böse, daß nicht einmal wir es begreifen können, geschweige denn ihr. Diese Wesen könnte man den Höheren Plan und den Höheren Zufäll nennen… möglicherweise gibt es auch jenseits einer bestimmten Ebene keinen Zufall mehr; wir vermuten es, aber mit Sicherheit sagen können wir es nicht. Wir wissen, es ist etwas von einer dieser höheren Ebenen, das Interesse an Ed gefunden hat, und daß etwas anderes da oben einen Gegenzug unternommen hat. Dieser Gegenzug seid ihr, Ralph und Lois.]

Lois warf Ralph einen bestürzten Blick zu, den er kaum bemerkte. Im Augenblick nahm er die Vorstellung, daß etwas sie herumschob wie Schachfiguren bei Faye Chapins heißgeliebtem Startbahn Drei Classic – eine Vorstellung, die ihn unter normalen Umständen zur Weißglut gebracht hätte – kaum zur Kenntnis. Er mußte an den Abend denken, als Ed ihn angerufen hatte. Du schwimmst in tiefem Wasser, hatte er gesagt, und es kreisen Dinge in der Strömung, die du dir nicht einmal vorstellen kannst.

Mit anderen Worten, Wesenheiten.

So böse Wesen, daß man sie nicht einmal mehr begreifen konnte, laut Mr. K., und Mr. K. war ein Gentleman, der hauptberuflich den Tod brachte.

Sie haben dich noch nicht bemerkt, hatte Ed an jenem Abend zu ihm gesagt, aber wenn du dich weiter mit mir anlegst, werden sie es. Und das möchtest du sicher nicht. Glaub mir.

Lois: [»Wie haben Sie uns überhaupt auf diese Stufe gebracht? Durch die Schlaflosigkeit, richtig?«]

Lachesis, vorsichtig: [Im wesentlichen ja. Wir sind imstande, gewisse geringfügige Veränderungen in den Auren der Kurzfristigen vorzunehmen. Diese Veränderung bewirkte eine besondere Form der Schlaflosigkeit, die eure Art zu träumen und eure Wahrnehmung der Welt im Wachsein veränderte. Auren von Kurzfristigen zu manipulieren, ist eine komplexe, beängstigende Arbeit. Wahnsinn ist immer eine mögliche Gefahr.]

Klotho: [Manchmal war euch vielleicht zumute, als würdet ihr verrückt, aber diese Gefahr bestand nicht einmal annähernd. Ihr seid beide viel zäher, als ihr euch selbst eingestehen wollt.]

Diese Arschlöcher glauben tatsächlich, daß uns das ein Trost ist, staunte Ralph, aber dann unterdrückte er seinen Zorn wieder. Er hatte jetzt einfach keine Zeit, wütend zu sein. Vielleicht konnte er es später wettmachen. Momentan tätschelte er nur Lois’ Hand und wandte sich wieder Klotho und Lachesis zu.

[»Letzten Sommer, als er seine Frau verprügelt hatte, hat Ed mir von einem Wesen erzählt, das er den Scharlachroten König nannte. Sagt euch Burschen das etwas?«]

Klotho und Lachesis wechselten wieder einen Blick, den Ralph zunächst für ernst hielt.

Klotho: [Ralph, Sie dürfen nicht vergessen, daß, Ed wahnsinnig ist und in einem Zustand der Selbsttäuschung lebt -]

[»Klar, wem sagen Sie das.«]

[– aber wir glauben, daß dieser »Scharlachrote König« doch in der einen oder anderen Form existiert, und als Atropos Eds Lebensschnur durchgeschnitten hat, muß er direkt unter den Einfluß dieses Wesens geraten sein.]

Die beiden kahlköpfigen Ärzte sahen einander wieder an, und diesmal erkannte Ralph ihren gemeinsamen Gesichtsausdruck als das, was er tatsächlich war: Nicht Ernst spiegelte sich darin, sondern blankes Entsetzen.

Ein neuer Tag war angebrochen – Donnerstag – und ging bereits dem Mittag entgegen. Ralph konnte es nicht mit Sicherheit sagen, fand aber, daß die Geschwindigkeit, mit der die Zeit da unten auf der Ebene der Kurzfristigen ablief, zugenommen hatte; wenn sie die Sache nicht bald hinter sich brachten, würde Bill McGovern nicht der einzige ihrer Freunde bleiben, den sie überlebten.

Klotho: [Atropos wußte, daß der Höhere Plan irgend jemanden schicken würde, um zu versuchen, das rückgängig zu machen, was er in Bewegung gesetzt hat, und jetzt weiß er, wer das ist. Aber ihr dürft euch nicht von Atropos ablenken lassen; ihr dürft nicht vergessen, er ist kaum mehr als ein Bauer auf diesem Schachbrett. Atropos ist nicht euer wahrer Gegner.

Er machte eine Pause und sah seinen Kollegen zweifelnd an. Lachesis nickte ihm zu, er solle weitersprechen, was er auch zuversichtlich tat, aber Ralph spürte dennoch eine gewisse Resignation über sich kommen. Er war sicher, die beiden kahlköpfigen Ärzte hatten die besten Absichten, aber sie flogen trotzdem eindeutig weitgehend nach Instrumenten.

Klotho: [Ihr dürft euch Atropos nicht direkt nähern. Das kann ich nicht genügend betonen. Er ist von Kräften umgeben, die bei weitem größer sind als er selbst, von Kräften, die böse und mächtig sind, von Kräften, die bewußt sind und vor nichts haltmachen werden, um euch aufzuhalten. Aber wir glauben, wenn ihr euch von Atropos fernhaltet, könnt ihr möglicherweise die bevorstehende schreckliche Katastrophe verhindern… die, in durchaus realem Sinne, schon angefangen hat.]

Ralph gefiel die stillschweigende Annahme nicht besonders, daß er und Lois tun würden, was diese beiden fröhlichen Gauchos verlangten, aber es schien nicht der geeignete Zeitpunkt zu sein, das zu sagen.

Lois: [»Was wird denn geschehen? Was wollt ihr von uns? Sollen wir Ed suchen und ihm ausreden, etwas Böses zu tun?«]

Klotho und Lachesis sahen sie mit demselben Ausdruck fassungslosen Erschreckens an.

[Habt ihr nicht zugehört, was -]

[– ihr dürft nicht einmal daran denken -]

Sie verstummten, und Klotho gab Lachesis, ein Zeichen, daß er fortfahren sollte.

[Wenn Sie uns nicht zugehört haben, Lois, dann hören Sie uns jetzt zu: Halten Sie sich von Ed Deepneau fern! Diese ungewöhnliche Situation hat ihn, genau wie Atropos, vorübergehend mit größerer Macht ausgestattet. Wenn Sie sich ihm auch nur nahern, riskieren Sie damit einen Besuch der Wesenheit, die er als Scharlachroten König bezeichnet… davon abgesehen ist er gar nicht mehr in Derry.]

Lachesis sah über das Dach, wo in der Abenddämmerung des Donnerstag die Lichter angingen, dann betrachtete er wieder Ralph und Lois.

[Er ist aufgebrochen nach _ – keine Worte, aber Ralph empfing deutlich einen Sinneseindruck, der teils Geruch (Öl, Fett, Abgase, Meeresluft), teils Gefühl und Ton war (ein großes, rostiges Gebäude, in dem ein riesiges Tor auf einer Stahlschiene offenstand).

[»Er ist an der Küste, richtig? Oder auf dem Weg dorthin.«]

Klotho und Lachesis nickten, und ihre Gesichter schienen zu sagen, daß die achtzig Meilen von Derry entfernte Küste ein ausgezeichneter Aufenthaltsort für Ed Deepneau war.

Lois zupfte wieder an seinem Arm, und Ralph sah sie an.

[»Hast du das Gebäude gesehen, Ralph?«]

Er nickte.

Lois: [»Nicht die Hawking Labors, aber in der Nähe. Ich glaube, es könnte sogar ein Ort sein, den ich kenne -]

Lachesis ergriff hastig das Wort, als wollte er das Thema wechseln: [Wo er sich befindet und was er vorhaben könnte, ist eigentlich unerheblich. Eure Aufgabe liegt anderswo, in sichereren Gewässern, aber ihr werdet möglicherweise dennoch all die nicht unerhebliche Kraft brauchen, die euch Kurzfristigen zur Verfügung steht, um sie zu erfüllen, und die Gefahren konnten trotz alledem groß sein.]

Lois sah Ralph nervös an.

[»Sag ihnen, daß wir keinem etwas zuleide tun, Ralph – wir stimmen vielleicht zu, ihnen zu helfen, wenn wir können, aber wir werden keinem etwas zuleide tun, was auch passieren mag.«]

Aber das sagte Ralph ihnen nicht. Er dachte daran, wie die Diamantsplitter an Atropos’ Ohren gefunkelt hatten, und meditierte über die perfekte Falle, in der er saß – und Lois selbstverständlich mit ihm. Doch, er würde jemandem wehtun, um die Ohrringe zurückzubekommen. Das stand außer Frage. Aber wie weit würde er gehen? Würde er auch töten, um sie zurückzubekommen? Er glaubte, daß die Antwort darauf ja lautete.

Ralph, der nicht über das Thema nachdenken, der Lois im Augenblick nicht einmal ansehen wollte, wandte sich wieder an Klotho und Lachesis. Er machte den Mund auf, um zu sprechen, aber sie war schneller.

[»Ich möchte noch etwas wissen, bevor wir fortfahren.«]

Klotho antwortete; er hörte sich gelinde amüsiert an – hörte sich de facto wie Bill McGovern an. Was Ralph nicht besonders gefiel.

[Und das wäre, Lois?]

[»Ist Ralph auch in Gefahr? Besitzt Atropos etwas von ihm, das wir später zurückbekommen müssen? So etwas wie Bills Hut?«]

Lachesis und Klotho wechselten einen hastigen, besorgten Blick. Ralph glaubte nicht, daß Lois es mitbekam, aber er schon. Sie kommt der Wahrheit zu nahe, sagte dieser Blick. Dann verschwand er auch schon wieder. Ihre Gesichter waren wieder glatt, als sie Lois ihre Aufmerksamkeit zuwandten.

Lachesis: [Nein. Atropos hat nichts von Ralph genommen, weil ihm das bis zu diesem Zeitpunkt nichts genützt hätte.]

Ralph: [»Was meinen Sie damit, bis zu diesem Zeitpunkt?«]

Klotho: [Sie haben Ihr Leben als Bestandteil des Plans gelebt, Ralph, aber das hat sich geändert.]

Lois: [»Wann hat es sich geändert? Es ist passiert, als wir angefangen haben, die Auren zu sehen, richtig?«]

Sie sahen einander an, dann Lois, dann – nervös – Ralph. Sie antworteten nicht, und da kam Ralph ein interessanter Gedanke: Wie der Knabe George Washington in der Legende mit dem Kirschbaum konnten Klotho und Lachesis nicht lügen… was sie in Augenblicken wie diesem wahrscheinlich bedauerten. Sie hatten nur eine einzige Möglichkeit, nämlich wie jetzt den Mund zu halten und zu hoffen, daß sich das Gespräch in eine andere Richtung entwickeln würde. Ralph beschloß, daß er das nicht wollte – jedenfalls noch nicht -, obwohl die große Gefahr bestand, daß Lois herausfand, wohin ihre Ohrringe tatsächlich verschwunden waren… immer vorausgesetzt, sie wußte es nicht ohnehin schon, eine Möglichkeit, die ihm gar nicht so weit hergeholt erschien. Der alte Lockruf der Marktschreier fiel ihm ein: Kommen Sie ruhig näher, meine Herren… aber wenn Sie spielen wollen, müssen Sie bezahlen.

[»O nein, Lois, die Veränderung hat nicht stattgefunden, als ich angefangen habe, die Auren zu sehen. Ich glaube, viele Menschen können ab und zu einmal einen Blick in die langfristige Welt der Auren werfen, ohne daß ihnen etwas Böses widerfährt. Ich glaube, ich wurde erst aus meiner hübschen, sicheren Nische im Plan gestoßen, als wir das Gespräch mit diesen beiden feinen Herren angefangen haben. Was meinen Sie dazu, meine feinen Herren? Sie haben gewissermaßen eine Spur aus Brotkrumen hinterlassen, obwohl Sie genau wußten, was passieren würde. Ist es nicht ganz genauso gewesen?«]

Die beiden betrachteten ihre Füße, dann langsam, widerwillig wieder Ralph. Lachesis antwortete.

[Ja, Ralph. Wir haben Sie zu uns gelockt, obwohl wir wußten, daß es Ihr Ka verändern würde. Das ist ein Unglück, aber die Situation erforderte es.]

Jetzt wird Lois nach ihrem eigenen Status fragen, dachte Ralph. Jetzt muß sie fragen.

Aber sie fragte nicht. Sie sah die beiden kleinen kahlköpfigen Ärzte nur mit einem undeutbaren Ausdruck an, der so gar nicht zu ihrer gewohnten Unsere-Lois-Miene passen wollte: aufgerissene Augen des Interesses, aufgerissene Augen der Verwunderung. Ralph fragte sich wieder, wieviel sie wußte oder vermutete, und staunte erneut darüber, daß er nicht die geringste Ahnung hatte… doch dann wurden diese Spekulationen von einer neuerlichen Woge des Zorns verschluckt.

[»Ihr Jungs… Mann, oh Mann, ihr Jungs…«]

Er führte es nicht weiter aus, aber wenn Lois nicht neben ihm gestanden hätte, hätte er es vielleicht getan: Ihr Jungs habt eine ganze Menge mehr getan, als uns nur um unseren Schlaf zu bringen, oder nicht? Ich weiß nicht, wie es bei Lois ist, aber ich hatte eine gemütliche kleine Nische im Plan… was bedeutet, daß ihr mich absichtlich zu einer Ausnahme von der Regel gemacht habt, deren Einhaltung ihr euer ganzes Leben widmet. In gewisser Weise bin ich ebenso leer wie der Bursche, den wir finden sollen. Wie hat Klotho es ausgedrückt? »Alles ist offen.« Wie verdammt wahr das ist.

Lois: [»Sie haben davon gesprochen, daß wir unsere Macht einsetzen sollten. Welche Macht?«]

Lachesis drehte sich zu ihr um und war offenbar entzückt über den Themenwechsel. Er preßte die Handflächen aufeinander und breitete die Hände dann zu einer eigentümlich orientalischen Geste aus. Zwei rasch aufeinanderfolgende Bilder erschienen dazwischen: Ralphs Hand, aus der ein Strahl kalten blauen Feuers schoß, als er mit ihr wie bei einem Karateschlag durch die Luft fuhr, und Lois’ Zeigefinger, der blaugraue Kugeln aus Licht hervorbrachte, die wie radioaktive Hustendrops aussahen.

Ralph: [»Ja, schon gut, wir besitzen etwas, aber es ist nicht zuverlässig. Es ist mehr wie…«]

Er konzentrierte sich und erzeugte selbst ein Bild: Hände, die die Rückseite eines Radios öffneten und zwei mit blaugrauem Belag verkrustete Batterien herausholten. Klotho und Lachesis, die nicht verstanden, sahen ihn stirnrunzelnd an.

Lois: [»Er versucht zu sagen, daß wir das nicht immer können, und wenn, dann können wir es nicht lange. Wißt ihr, unsere Batterien sind schnell leer.«]

Mit amüsiertem Unglauben gemischtes Verständnis breitete sich auf ihren Gesichtern aus.

Ralph: [»Was ist daran so verdammt komisch?«]

Klotho: [Nichts… alles. Ihr habt keine Vorstellung, wie seltsam ihr beide uns vorkommt – eben noch unglaublich weise und subtil, und im nächsten Augenblick unglaublich naiv. Eure Batterien, wie ihr euch ausdrückt, müssen niemals leer werden, denn ihr steht neben einem grenzenlosen Vorrat an Energie. Da ihr beide schon davon getrunken habt, sind wir davon ausgegangen, daß ihr das eigentlich wissen müßtet.]

Ralph: [»Wovon, um alles in der Welt, reden Sie?«]

Lachesis führte erneut die seltsam orientalische Geste der ausgebreiteten Arme aus. Diesmal sah Ralph Mrs. Perrine, die in ihrer Aura von der Farbe einer Uniform von West Point steif aufrecht ging. Sah einen Strahl grauen Leuchtens, dünn und gerade wie der Stachel eines Stachelschweins, aus dieser Aura herausragen.

Das Bild wurde überblendet mit dem einer mageren Frau in einer schmutzigbraunen Aura. Sie sah zu einem Autofenster hinaus. Eine Stimme – die von Lois – sagte: Oh, Mina, ist das nicht ein entzückendes kleines Häuschen? Einen Augenblick später wurde leise eingeatmet, worauf ein dünner Strahl im Nacken der Frau aus ihrer Aura schoß.

Dem folgte ein drittes Bild, kurz aber deutlich: Ralph, wie er unter der Scheibe der Krankenhausinformation durchgriff und die Hand der Frau mit der orangefarbenen Aura packte… nur war diese Aura um den linken Arm herum plötzlich nicht mehr orange. Plötzlich hatte sie die verblaßte Türkisfarbe, die er mittlerweile als Ralph-Roberts-Blau betrachtete.

Das Bild verblaßte. Lachesis und Klotho sahen Ralph und Lois an; diese erwiderten den Blick schockiert.

Lois: [»O nein! Das können wir nicht tun! Es ist wie -«]

Bild: Zwei Männer in gestreifter Gefängniskleidung mit schwarzen Augenmasken, die auf Zehenspitzen aus einem Banktresor flohen und prallvolle Säcke mit dem Symbol $ darauf hinaustrugen.

Ralph: [»Nein, schlimmer. Es ist wie -«]

Bild: Eine Fledermaus flog durch ein offenes Kellerfenster herein, kreiste zweimal in einem silbernen Schacht aus Mondlicht und verwandelte sich dann in Ralph Lugosi im Cape und einem altmodischen Frack. Er näherte sich einer schlafenden Frau -keiner jungen, rosigen Jungfrau, sondern der alten Mrs. Perrine in einem züchtigen Flanellnachthemd – und beugte sich über sie, um ihre Aura auszusaugen.

Als Ralph wieder zu Klotho und Lachesis sah, schüttelten beide vehement die Köpfe.

Lachesis: [Nein! Nein, nein, nein! Sie könnten gar nicht falscher liegen! Haben Sie sich noch nicht gefragt, warum Sie Kurzfristige sind, deren Lebenspanne nach Jahrzehnten und nicht nach Jahrhunderten gemessen wird l Eure Lebensspanne ist kurz, weil ihr wie Freudenfeuer brennt! Wenn ihr Energie von anderen Kurzfristigen bezieht, ist das wie -]

Bild: Ein Kind am Strand, ein hübsches kleines Mädchen mit goldenen Ohrringen, die auf den Schultern anstießen, lief am Strand entlang, wo die Wellen brachen. In einer Hand trug sie einen roten Plastikeimer. Sie kniete hin und füllte ihn aus dem riesigen Atlantik.

Klotho: [Ihr seid wie dieses Kind, Ralph und Lois – die anderen Kurzfristigen sind wie das Meer. Habt ihr jetzt verstanden?]

Ralph: [»Verfügt die menschliche Rasse wirklich über soviel von dieser Aura-Energie?«]

Lachesis: [Ihr versteht immer noch nicht. Soviel gibt es -]

Lois unterbrach ihn. Ihre Stimme bebte, aber Ralph vermochte nicht zu sagen, ob aus Angst oder Ekstase.

[»Soviel gibt es in jedem von uns, Ralph. Soviel existiert in jedem menschlichen Wesen auf der Welt!«]

Ralph pfiff leise durch die Zähne und sah von Lachesis zu Klotho. Sie nickten zustimmend.

[»Sie wollen damit sagen, wir können diese Energie bei jedem aufstocken, der gerade zur Verfügung steht? Daß den Menschen, von denen wir sie nehmen, kein Schaden entsteht?«]

Klotho: [Ja. Ihr könntet ihnen ebensowenig schaden, wie ihr den Atlantik mit dem Plastikeimer eines Kindes leerschöpfen könntet.]

Ralph hoffte, daß das stimmte, denn er vermutete, daß er und Lois schon seit einer ganzen Weile Energie aus den Auren ihrer Mitmenschen borgten – das war die einzige Erklärung für alle Komplimente, die er bekam. Immer wieder versicherten ihm Leute, daß er großartig aussähe. Mutmaßten die Leute, daß er seine Schlaflosigkeit überwunden haben mußte, mußte, weil er so ausgeruht und gesund aussah. Weil er jünger aussah.

Verdammt, dachte er, ich bin jünger.

Der Mond war wieder untergegangen, und Ralph stellte erschrocken fest, daß die Sonne bald am Freitagmorgen aufgehen würde. Es wurde höchste Zeit, daß sie sich wieder dem Hauptthema ihrer Diskussion zuwandten.

[»Belassen wir es dabei, Leute. Warum haben Sie sich all diese Mühe gemacht? Was sollen wir eigentlich aufhalten?«]

Aber bevor jemand antworten konnte, überkam ihn eine blitzartige Einsicht, die so stark und grell war, daß er sie unmöglich in Frage stellen oder leugnen konnte.

[»Es geht um Susan Day, richtig? Er will Susan Day umbringen. Ein Attentat auf sie verüben.«]

Klotho:[Ja,aber-]

Lachesis: [– aber darum geht es nicht -]

Ralph: [»Kommt schon, Jungs -findet ihr nicht auch, daß es Zeit wird, den Rest der Karten auf den Tisch zu legen?«]

Lachesis: [Ja, Ralph, es wird Zeit.]

Sie hatten sich wenig oder gar nicht berührt, seit sie den Kreis gebildet hatten und durch die Etagen des Krankenhauses zum Dach aufgestiegen waren, aber nun legte Lachesis einen federleichten Arm um Ralphs Schultern, und Klotho nahm Lois am Arm, wie ein Gentleman vergangener Zeiten die Dame seines Herzens auf die Tanzfläche geführt haben mochte.

Geruch von Äpfeln, Geschmack von Honig, Beschaffenheit von Wolle… aber diesmal konnte Ralphs Freude über diese Mischung von Sinneseindrücken das Unbehagen nicht verbergen, das er empfand, als Lachesis ihn nach links drehte und mit ihm zum Rand des flachen Krankenhausdaches ging.

Wie viele der größeren und bedeutenderen Städte, schien auch Derry am geographisch ungeeignetsten Platz erbaut worden zu sein, den die ersten Siedler finden konnten. Der Innenstadtbereich lag am steilen Abschnitt eines Hangs; der Kenduskeag floß träge und braun durch das zugewucherte Dickicht der Barrens an der tiefsten Stelle des Tals. Von ihrem Aussichtspunkt auf dem Krankenhausdach wirkte Derry wie eine Stadt, deren Herz von einem schmalen grünen Dolch durchbohrt worden war… nur sah dieser Dolch in der Dunkelheit schwarz aus.

Auf einer Seite des Tals lag Old Cape, eine heruntergekommene Nachkriegssiedlung mit einem todschicken neuen Einkaufszentrum. Die andere Seite umschloß das, was die meisten Leute meinten, wenn sie von der »Innenstadt« sprachen. Die Innenstadt von Derry drängte sich rund um den UpMile Hill. Witcham Street bildete den direktesten Weg diesen Hügel hinauf und stieg steil an, bevor sie sich zu einen Gewirr von Nebenstraßen verästelte (eine davon war die Harris Avenue), das die West Side bildete. Die Main Street zweigte auf halbem Wege bergauf von der Witcham ab und verlief an der flacheren Seite des Tals entlang nach Südwesten. Dieser Stadtteil war sowohl als Main Street Hill wie auch als Bassey Park bekannt. Und in der Nähe der höchsten Kuppe der Main Street-Lois, fast stöhnend: [»Großer Gott, was ist das?«]

Ralph versuchte, etwas Tröstendes zu sagen, brachte aber nur ein klägliches Krächzen heraus. Über dem Gipfel des Main Street Hill schwebte ein riesiger, schwarzer Regenschirmumriß über dem Boden und verdeckte die Sterne in ihrer zarten morgendlichen Blässe. Ralph versuchte sich zuerst einzureden, es handle sich nur um Rauch, eine der Lagerhallen in der Gegend habe Feuer gefangen… möglicherweise sogar das aufgegebene Eisenbahndepot am Ende der Neibolt Street. Aber die Lagerhallen befanden sich weiter südlich, das alte Depot weiter westlich, und wenn dieser böse aussehende Pilz tatsächlich Rauch gewesen wäre, hätte der starke Wind ihn in Rauchfahnen verwehen müssen. Aber das passierte nicht. Statt sich aufzulösen, hing der stumme Fleck einfach am Himmel, dunkler als die Dunkelheit.

Und niemand sieht ihn, dachte Ralph. Niemand außer mir… und Lois… und den kleinen kahlköpfigen Ärzten. Den gottverdammten kleinen kahlköpfigen Ärzten.

Er kniff die Augen zusammen, damit er den Umriß in dem riesigen Leichentuch erkennen konnte, aber das war eigentlich gar nicht nötig; er hatte fast sein ganzes Leben in Derry verbracht und hätte sich beinahe mit geschlossenen Augen auf den Straßen zurechtgefunden (das heißt, wenn er es nicht am Steuer seines Automobils tun mußte). Wie auch immer, er konnte das Gebäude in dem Leichentuch identifizieren, zumal sich bereits das Tageslicht am Horizont abzeichnete. Das runde Flachdach auf der geschwungenen Glas-und Backsteinfassade ließ keinen Zweifel zu. Dieser Rückfall in die fünfziger Jahre war nicht ohne hintergründigen Humor von dem berühmten Architekten (und ehemaligen Einwohner Derrys) Benjamin Hanscom entworfen worden, und es handelte sich um das neue Bürgerhaus von Derry, den Nachfolger des alten, das bei der Sturmflut des Jahres 1985 zerstört worden war.

Klotho drehte sich zu Ralph um und sah ihn an.

[Sie sehen, Ralph, Sie hatten recht – er möchte ein Attentat auf Susan Day verüben… aber nicht nur auf Susan Day.]

Er machte eine Pause, sah Lois an und wandte das ernste Gesicht dann wieder Ralph zu.

[Diese Wolke – die Sie ganz zutreffend ein Leichentuch nennen bedeutet, daß er in einem sehr realen Sinne bereits getan hat, was Atropos ihm aufgetragen hatte. Heute abend werden über zweitausend Menschen anwesend sein… und Ed Deepneau will sie alle umbringen. Wenn der Gang der Ereignisse nicht verändert wird, dann wird er sie alle umbringen.]

Lachesis trat neben seinen Kollegen.

[Ihr beiden, Ralph und Lois, seid die einzigen, die das verhindern können.]

Vor seinem geistigen Auge sah Ralph das Plakat von Susan Day, das im leeren Schaufenster zwischen der Rite Aid Drogerie und dem Day Break, Sun Down ausgestellt worden war.

Er erinnerte sich an die in den Staub auf der Fensterscheibe gekritzelten Worte: TÖTET DIESE FOTZE. Und das Schlimme war, in Derry konnte so etwas durchaus passieren. Derry war wirklich nicht wie andere Städte. Ralph fand, daß sich die Atmosphäre der Stadt seit der großen Überschwemmung vor acht Jahren deutlich verbessert hatte, aber es war trotzdem nicht wie andernorts. Derry hatte einen Hang zum Bösen, und wenn seine Einwohner in Rage kamen, konnten sie bekanntlich ausgesucht scheußliche Taten vollbringen.


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