355 500 произведений, 25 200 авторов.

Электронная библиотека книг » Stephen Edwin King » Schlaflos » Текст книги (страница 12)
Schlaflos
  • Текст добавлен: 12 октября 2016, 02:36

Текст книги "Schlaflos"


Автор книги: Stephen Edwin King


Жанры:

   

Ужасы

,

сообщить о нарушении

Текущая страница: 12 (всего у книги 50 страниц)

»Bob war seit 1948, als er kaum älter als fünfundzwanzig gewesen sein konnte, bis 1981 oder 82 Dekan der historischen Fakultät der Derry High. Er war ein großartiger Lehrer, einer dieser immens klugen Köpfe, die man manchmal im Hinterland findet, wo sie ihr Licht unter den Scheffel stellen. Normalerweise werden sie Dekan ihrer Fakultät und lassen sich darüber hinaus ein halbes Dutzend fachfremde Aufgaben aufhalsen, weil sie einfach nicht nein sagen können. Bob konnte es sicher nicht.«

Die Mutter führte jetzt ihren kleinen Sohn an ihnen vorbei in Richtung der Snackbar, die saisonbedingt bald schließen würde. Das Gesicht des Kindes war außergewöhnlich durchscheinend, eine Schönheit, die durch die rosenfarbene Aura verstärkt wurde, die Ralph um den Kopf kreisen und in Form sanfter Wogen über das kleine, lebhafte Gesicht wabern sah.

»Können wir nach Hause gehen, Mom? Ich will jetzt mit meinem Play-Doh spielen. Ich möchte die Knetfamilie machen.«

»Gehen wir vorher etwas essen, großer Junge – okay? Mommy hat Hunger.«

»Okay.«

Eine hakenförmige Narbe verlief über den Nasenansatz des Jungen, und dort wurde das rosa Leuchten der Aura tief scharlachrot.

Ist mit acht Monaten aus der Krippe gefallen, dachte Ralph. Wollte nach den Schmetterlingen des Mobiles greifen, das seine Mutter an die Decke gehängt hatte. Sie ist zu Tode erschrocken, als sie hineingelaufen ist und das viele Blut gesehen hat; sie dachte, der arme Junge würde sterben. Patrick, das ist sein Name. Sie nennt ihn Pat. Er wurde nach seinem Großvater genannt und -

Er kniff einen Moment fest die Augen zu. Sein Magen flatterte leicht unmittelbar unter dem Adamsapfel, und plötzlich war er überzeugt, daß er sich übergeben müßte.

»Ralph?« fragte McGovern. »Alles in Ordnung?«

Er schlug die Augen auf. Keine Aura, weder rosa noch sonstwie; nur eine Mutter und deren Sohn, die in die Snackbar gingen, um etwas Kaltes zu trinken, und er konnte unmöglich wissen, auf gar keinen Fall, daß sie Pat nicht nach Hause bringen wollte, weil Pats Vater nach fast sechs trockenen Monaten wieder trank, und wenn er trank, wurde er bösartig -

Hör auf, um Gottes willen, hör auf.

»Mir geht es gut«, sagte er zu McGovern. »Hab etwas Staub ins Auge bekommen, das ist alles. Nur weiter. Erzähl mir von deinem Freund.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Er war ein Genie, aber im Lauf der Jahre bin ich zur Überzeugung gelangt, daß Genie eine völlig überschätzte Eigenschaft ist. Ich glaube, dieses Land ist voll von Genies, von Typen, die so klug sind, daß das durchschnittliche MENSA-Mitglied mit Ausweis dagegen wie Ficko der Clown aussieht. Und ich glaube, die meisten davon sind Lehrer, die in der Anonymität von Kleinstädten leben, weil sie es so haben wollen. Bob Polhurst wollte es auf jeden Fall so.

Er hat die Leute in einer Weise durchschaut, die mir Angst machte… jedenfalls anfangs. Nach einer Weile stellte man fest, daß man keine Angst haben mußte, weil Bob gütig war, auch wenn er zunächst ein Gefühl von Furcht in einem erweckte. Manchmal fragte man sich, ob er einen mit gewöhnlichen Augen ansah, oder mit einer Art Röntgenapparat.«

An der Snackbar bückte sich die Frau mit einem kleinen Pappbecher Limonade. Der Junge griff grinsend mit beiden Händen danach und nahm ihn. Er trank durstig. Dabei pulsierte rosa Leuchten ganz kurz wieder um ihn herum, und Ralph wußte, daß er recht gehabt hatte: Der Junge hieß Patrick, und seine Mutter wollte nicht mit ihm nach Hause gehen. Das konnte er unmöglich wissen, aber er wußte es trotzdem.

»Wenn man damals«, sagte McGovern, »mitten aus dem tiefsten Maine kam und nicht hundertprozentig heterosexuell war, versuchte man wie der Teufel, dafür zu gelten. Eine andere Möglichkeit gab es nicht, es sei denn, man wäre nach Greenwich Village gezogen, hätte ein Barett getragen und die Samstagabende in den Jazzclubs verbracht, wo sie applaudierten, indem sie mit den Fingern schnippten. Damals war die Vorstellung von einem >coming out< aus dem Versteck lächerlich. Für die meisten von uns gab es nur das Versteck. Wenn man nicht wollte, daß ein paar abgefüllte Jungs aus einer Studentenverbindung in einer dunklen Gasse auf einem saßen und versuchten, einem das Gesicht vom Kopf zu ziehen, war die Welt dein Versteck.«

Pat trank den Pappbecher leer und warf ihn auf den Boden. Seine Mutter befahl ihm, ihn aufzuheben und in den Mülleimer zu werfen, eine Aufgabe, die er mit ausgelassener Fröhlichkeit erfüllte. Dann nahm sie seine Hand, und sie schlenderten langsam aus dem Park. Ralph sah ihnen mit einem Gefühl der Bestürzung nach; er hoffte, die Ängste und Sorgen der Frau würden sich als unzutreffend erweisen, fürchtete aber, daß es sich nicht so verhielt.

»Als ich mich um die Stelle an der historischen Fakultät der Derry High bewarb-das war 1951 -hatte ich gerade zwei Jahre im Hinterland unterrichtet, in Lubec, wo sie abends die Bürgersteige hochklappen, und ich dachte mir, wenn ich dort zurechtkam, ohne daß Fragen gestellt wurden, würde ich überall zurechtkommen. Aber Bob sah mich nur einmal mit seinem Röntgenblick an – verdammt, er sah in mein Innerstes -, und da wußte er es. Und er war auch nicht schüchtern. > Wenn ich mich entscheide, Ihnen diesen Job zu geben, und wenn Sie sich entscheiden, ihn anzunehmen, Mr. McGovern, darf ich dann davon ausgehen, daß es niemals auch nur den geringsten Ärger wegen ihrer sexuellen Präferenzen geben wird?<

Sexuelle Präferenzen, Ralph! Mann, oh Mann! Vor diesem Tag hätte ich mir nicht einmal träumen lassen, daß es so einen Ausdruck überhaupt gab, aber ihm kam er leichter als ein geschmiertes Kugellager über die Lippen. Ich wollte aufbrausen und ihm sagen, ich hätte nicht die geringste Ahnung, wovon er redete, aber ich sei trotzdem äußerst verärgert – aus allgemeinen Prinzipien, gewissermaßen -, aber dann sah ich ihm noch einmal ins Gesicht und wußte, ich konnte es mir sparen. Ich hatte vielleicht ein paar Leute in Lubec hinters Licht fuhren können, aber bei Bob Polhurst würde mir das nicht gelingen. Er war selbst noch keine dreißig und wahrscheinlich in seinem ganzen Leben nicht mehr als ein dutzendmal südlich von Kittery gewesen, aber er wußte alles von mir, das zählte, und um es herauszufinden, hatte er nur ein zwanzigminütiges Gespräch gebraucht.

»Nein, Sir, nicht den geringstem, sagte ich so sanftmütig wie Marys kleines Lamm.«

McGovern tupfte sich wieder die Augen mit dem Taschentuch ab, aber diesmal fand Ralph, daß es hauptsächlich eine theatralische Geste war.

»In den dreiundzwanzig Jahren, bevor ich ans Derry Community College ging, hat Bob mir alles beigebracht, was ich über das Unterrichten und Schachspielen weiß. Er war ein brillanter Spieler… ich kann dir sagen, er hätte diesem Windbeutel Faye Chapin mit Sicherheit eine harte Nuß zu knacken gegeben. Ich habe ihn nur einmal geschlagen, aber da hatte die Alzheimersche Krankheit ihn schon in den Klauen. Danach habe ich nie wieder mit ihm gespielt.

Und da war noch viel mehr. Er hat nie einen Witz vergessen. Er vergaß nie die Geburts-oder Festtage der Menschen, die ihm nahestanden – er schickte keine Karten oder machte Geschenke, aber er gratulierte immer und wünschte alles Gute, und niemand zweifelte je daran, daß er es ehrlich meinte. Er veröffentlichte über siebzig Artikel zur Didaktik des Geschichtsunterrichts und über den Bürgerkrieg, der sein Spezialgebiet war. 1967und 1968 hat er ein Buch mit dem Titel Later That Summer geschrieben, über die Monate nach Gettysburg. Er hat mich das Manuskript vor zehn Jahren lesen lassen, und ich finde, es ist das beste Buch über den Bürgerkrieg, das ich jemals gelesen habe – das einzige, das auch nur in die Nähe kommt, ist ein Roman mit dem Titel The Killer Angels von Michael Shaara. Aber von einer Veröffentlichung wollte Bob nichts hören. Als ich ihn nach dem Grund fragte, antwortete er, daß ausgerechnet ich das doch verstehen müßte.«

McGovern verstummte kurz und sah durch den Park, der von grün-goldenem Licht und einem schwarzen Gitter von Schatten erfüllt war, die sich bei jedem Hauch des Windes bewegten.

»Er sagte, er hätte Angst davor, an die Öffentlichkeit zu gehen.«

»Okay«, sagte Ralph. »Ich verstehe.«

»Vielleicht vermittelt das den besten Eindruck von ihm: Er hat das große Sonntagskreuzworträtsel der New York Times mit Tinte ausgefüllt. Ich habe ihn einmal deswegen aufgezogen habe ihm Hybris vorgeworfen. Er grinste und sagte zu mir: >Es ist ein großer Unterschied zwischen Stolz und Optimismus, Bill -ich bin Optimist, das ist alles.<

Wie dem auch sei, du wirst verstehen, was ich meine. Ein gütiger Mann, ein guter Lehrer, ein brillanter Denker. Sein Fachgebiet war der Bürgerkrieg, und heute weiß er nicht einmal mehr, was ein Bürgerkrieg ist, geschweige denn, wer unseren gewonnen hat. Verdammt, er weiß nicht einmal seinen eigenen Namen, und irgendwann einmal – je früher, desto besser – wird er sterben ohne zu wissen, daß er je gelebt hat.«

Ein Mann mittleren Alters in einem T-Shirt der University of Maine und ein paar zerrissenen Bluejeans, der eine zerknitterte Papiertüte unter einem Arm trug, kam über den Spielplatz geschlurft. Er blieb neben der Snackbar stehen, um den Inhalt einer Abfalltonne in der Hoffnung zu untersuchen, er könnte vielleicht eine oder zwei Pfanddosen finden. Als er sich bückte, sah Ralph die dunkelgrüne Hülle, die ihn umgab, und die hellgrüne Ballonschnur, die flatternd über seinem Kopf aufstieg. Und plötzlich war er zu müde, um die Augen zu schließen und es wegzuwünschen.

Er drehte sich zu McGovern um und sagte: »Seit letzten Monat sehe ich Dinge, die -«

»Ich glaube, ich bin in Trauer«, sagte McGovern und wischte sich noch einmal theatralisch über die Augen, »aber ich weiß nicht, ob wegen Bob oder meinetwegen. Ist das nicht ein Heuler? Aber wenn du hättest sehen können, wie scharfsinnig er damals war, wie gottverdammt erschreckend scharfsinnig… «

»Bill? Siehst du den Mann da drüben bei der Snackbar? Der sich durch den Abfall wühlt. Ich sehe -«

»Ja, diese Typen sieht man heute überall«, sagte McGovern und warf dem Penner (der zwei leere Budweiser-Dosen gefunden und in seiner Tüte verstaut hatte) einen flüchtigen Blick zu, bevor er sich wieder zu Ralph umdrehte. »Ich hasse es, alt zu sein – ich schätze, darauf läuft es letztendlich wirklich hinaus. Ich meine, im großen Stil.«

Der Penner näherte sich ihrer Bank, mit leicht gebeugten Knien schlurfend, und der Wind kündigte sein Kommen mit einem Duft an, der alles andere als English Leather war. Seine Aura – ein leuchtendes, lebhaftes Grün, bei dem Ralph an Girlanden für den St.-Patricks-Tag denken mußte – vertrug sich schwerlich mit der unterwürfigen Haltung und dem schiefen Grinsen.

»Hallo, Jungs! Wie geht’s uns denn?«

»Ging schon besser«, sagte McGovern und zog seine sardonische Braue hoch, »und ich nehme an, es wird uns auch wieder besser gehen, wenn du dich verzogen hast.«

Der Penner sah McGovern unsicher an, schien zu dem Ergebnis zu kommen, daß hier nichts zu holen war, und wandte sich an Ralph. »Habn Sie’n bißchen Kleingeld, Mister? Muß nach Dexter. Mein Onkel hat mich da im Asyl in der Neibolt Street angerufen und gesagt, ich kann mein’ alten Job in der Fabrik wieder ham, aber nur wenn ich… «

»Verzieh dich, Kumpel«, sagte McGovern.

Der Penner warf ihm einen kurzen, ängstlichen Blick zu, dann richtete er seine blutunterlaufenen Augen wieder auf Ralph. »Iss’n guter Job, wissense? Ich könnte ihn wiederham, aber nur, wenn ich heute noch hinkomm. Da iss’n Bus…«

Ralph griff in die Tasche, fand einen Vierteldollar und zehn Cent und ließ sie in die ausgestreckte Hand fallen. Der Penner grinste. Die Aura um ihn herum wurde heller und verschwand plötzlich. Für Ralph war es eine große Erleichterung.

»He, Klasse! Danke, Mister!«

»Nichts zu danken«, sagte Ralph.

Der Penner schlurfte in Richtung des Shop ‘n Save, wo Marken wie Night Train, Old Duke und Silver Satin immer im Sonderangebot waren.

O Scheiße, Ralph, würde es schaden, wenn du auch im Kopf ein wenig wohltätig wärst? fragte er sich selbst. Noch eine halbe Meile in diese Richtung, und man kommt zur Bushaltestelle.

Das stimmte zwar, aber Ralph hatte lange genug gelebt, um zu wissen, daß ein himmelweiter Unterschied zwischen wohltätigem Denken und Illusionen herrschte. Wenn der Penner mit der dunkelgrünen Aura tatsächlich zur Bushaltestelle schlurfte, dann würde Ralph als Staatssekretär nach Washington gehen.

»Das solltest du nicht tun«, sagte McGovern vorwurfsvoll. »Es ermutigt sie nur.«

»Kann sein«, sagte Ralph resigniert.

»Was hast du gesagt, als wir so unhöflich unterbrochen wurden?«

Jetzt schien es eine unglaublich schlechte Idee zu sein, McGovern von den Auren zu erzählen, und er konnte sich um nichts auf der Welt mehr vorstellen, wieso er überhaupt daran gedacht hatte. Die Schlaflosigkeit – das war selbstverständlich die Antwort. Sie hatte neben seinem Kurzzeitgedächtnis und seiner Sinneswahrnehmung auch seinen gesunden Menschenverstand beeinträchtigt.

»Daß ich heute morgen etwas mit der Post bekommen habe«, sagte Ralph. »Ich dachte mir, daß dich das vielleicht ein wenig aufmuntert.« Er gab Helens Postkarte an McGovern, der sie las und dann noch einmal las. Beim zweitenmal erstrahlte sein langes Pferdegesicht zu einem breiten Grinsen. Als Ralph die Mischung aus Erleichterung und aufrichtiger Freude in diesem Ausdruck sah, verzieh er McGovern seine selbstgefällige Art augenblicklich. Man vergaß allzu leicht, daß Bill nicht nur schwülstig, sondern auch großzügig sein konnte._ »Das ist ja toll, oder nicht? Ein Job!«

»Das ist es. Möchtest du es mit einem Mittagessen feiern? Zwei Türen vom Rite Aid entfernt gibt es einen hübschen kleinen Imbiß – Day Break, Sun Down heißt er. Vielleicht ein bißchen zu alternativ angehaucht, aber -«

»Danke, aber ich habe Bobs Tochter versprochen, daß ich vorbeikommen und eine Weile bei ihm sitzenbleiben würde. Selbstverständlich hat er nicht die geringste Ahnung, wer ich bin, aber das spielt keine Rolle, weil ich weiß, wer er ist. Capisce?«

»Jawoll«, sagte Ralph. »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, ja?«

»So ist es.« McGovern las die Postkarte noch einmal, immer noch grinsend. »Das ist die Wucht – die absolute Wucht in Tüten!«

Ralph mußte über diesen reizenden, altmodischen Ausdruck lachen. »Fand ich auch.«

»Ich hätte fünf Piepen mit dir gewettet, daß sie wieder in die Ehe mit diesem Verstörten zurückkehren und das Baby mit seinem verdammten Wagen vor sich herschieben würde… aber ich hätte das Geld mit Freuden verloren. Ich nehme an, das klingt verrückt.«

»Ein wenig«, sagte Ralph, aber nur weil er wußte, daß McGovern das zu hören erwartete. In Wirklichkeit dachte er, daß Bill McGovern gerade seinen Charakter und sein Weltbild treffender zusammengefaßt hatte, als Ralph es selbst je vermocht hätte.

»Schön zu wissen, daß es jemandem besser statt schlechter geht, was?«

»Worauf du dich verlassen kannst.«

»Hat Lois das schon gesehen?«

Ralph schüttelte den Kopf. »Sie ist nicht zu Hause. Ich zeige ihr die Karte aber, wenn ich sie sehe.«

»Tu das. Schläfst du besser, Ralph?«

»Ich denke, es geht ganz gut.« »Prima. Du siehst ein bißchen besser aus. Ein bißchen kräftiger. Wir dürfen nicht aufgeben, Ralph, nur darauf kommt es an. Hab ich recht?«

»Ich schätze schon«, sagte Ralph und seufzte. »Ich schätze schon, jedenfalls damit.«

3

Zwei Tage später saß Ralph an seinem Küchentisch, aß eine Schüssel Kleieflocken, die er eigentlich gar nicht wollte (von denen er aber auf eine vage Weise vermutete, daß sie gut für ihn waren), und las die erste Seite der Derry News. Er hatte den Leitartikel hastig überflogen, aber sein Blick fiel immer wieder auf das Foto; es schien sämtliche negativen Gefühle auszudrücken, mit denen er den vergangenen Monat gelebt hatte, ohne sie in irgendeiner Form zu erklären.

Ralph fand, daß die Schlagzeile über der Fotografie -DEMONSTRATION VOR WOMAN-CARE ENDET IN GEWALT

– keineswegs den anschließenden Artikel reflektierte, aber das überraschte ihn nicht; er las die News nun schon seit Jahren und hatte sich an ihre Voreingenommenheit gewöhnt, zu der auch ein entschiedener AntiAbtreibungs-Standpunkt gehörte. Dennoch hatte das Blatt sorgfältig darauf geachtet, sich im heutigen »Tss-tss, nun aber Schluß damit, Jungs«-Editorial von den Friends of Life zu distanzieren, und das überraschte Ralph nicht. Die Friends hatten sich auf dem Parkplatz zwischen Woman-Care und dem Derry Home Hospital versammelt und auf eine Gruppe von zweihundert Abtreibungsbefürwortern gewartet, die vom Bürgerzentrum durch die Stadt marschiert waren. Die meisten Protestierenden trugen Schilder mit dem Bild von Susan Day und dem Motto FREIE ENTSCHEIDUNG STATT ANGST.

Es war die Absicht der Demonstranten gewesen, unterwegs Anhänger mitzureißen, wie ein Schneeball, der bergab rollt. Bei Woman-Care sollte eine kurze Veranstaltung stattfinden – um die Leute auf den bevorstehenden Besuch von Susan Day einzustimmen -, anschließend sollten Erfrischungen gereicht werden. Die Veranstaltung fand nie statt. Als sich die Befürworter dem Parkplatz näherten, kamen die Anhänger der Friends of Life aus ihrem Versteck und versperrten die Straße, wobei sie ihre eigenen Schilder (MORD IST MORD, SUSAN DAY, BLEIB FORT; STOPPT DAS GEMETZEL AN UNSCHULDIGEN) wie Schutzschilde vor sich hertrugen.

Die Demonstranten waren von der Polizei eskortiert worden, aber niemand war darauf vorbereitet gewesen, wie schnell Zwischenrufe und böse Worte zu Fußtritten und Faustschlägen eskalieren könnten. Angefangen hatte es damit, daß eine Angehörige der Friends of Life ihre eigene Tochter unter den Befürwortern entdeckt hatte. Die ältere Frau hatte ihr Schild fallen lassen und war auf die jüngere zugestürmt. Der Freund der Tochter hatte die ältere Frau abgefangen und versucht, sie festzuhalten. Als Mom ihm mit den Fingernägeln das Gesicht zerkratzte, hatte der junge Mann sie zu Boden geworfen. Das hatte zu einem zehnminütigen Handgemenge und über dreißig Festnahmen geführt, etwa zu gleichen Teilen aus beiden Gruppen.

Das Bild auf der Titelseite der heutigen News zeigte Hamilton Davenport und Dan Dalton. Der Fotograf hatte Davenport mit einem verzerrten Gesichtsausdruck erwischt, der sich völlig von seinem sonstigen Ausdruck gelassener Selbstzufriedenheit unterschied. Eine Faust hatte er als primitive Geste des Triumphs über den Kopf erhoben. Ihm gegenüber stand der große Zampano der Friends of Life, der Hams FREIE ENTSCHEIDUNG STATT ANGST-Schild oben um den Kopf herum trug wie einen surrealistischen Heiligenschein aus Pappe. Daltons Augen waren umwölkt, sein Mund schlaff. Auf dem kontrastreichen Schwarzweißfoto sah das Blut, das aus seinen Nasenlöchern floß, wie Schokoladensauce aus.

Ralph wandte den Blick eine Zeitlang davon ab, versuchte sich auf seine Frühstücksflocken zu konzentrieren, und dann mußte er wieder an den Tag im vergangenen Sommer denken, als er zum erstenmal einen dieser »Pseudo-Steckbriefe« gesehen hatten, die nun überall in Derry hingen – den Tag, als er vor dem Strawford-Park fast das Bewußtsein verloren hatte. Am meisten konzentrierte sich sein Verstand auf die Gesichter: Davenports voll wütender Intensität, als er zum staubigen Schaufenster von Secondhand Rose, Secondhand Clothes hineinschaute, Daltons mit einem kleinen, abfälligen Lächeln, als wollte er sagen, daß man von einem Affen wie Hamilton Davenport nicht erwarten konnte, daß er die höhere Moral der Abtreibungsfrage begriff, wie sie beide sehr wohl wußten.

Ralph mußte an diese beiden Mienen und die Distanz zwischen den beiden Männern denken, die sie zur Schau stellten, und nach einer Weile wanderte sein bestürzter Blick zu dem Zeitungsfoto zurück. Zwei Männer standen dicht hinter Dalton, beide trugen Pro-Life-Spruchbänder und beobachteten die Auseinandersetzung aufmerksam. Ralph kannte den hageren Mann mit der Hornbrille und dem schütteren grauen Haarschopf nicht, aber den Mann neben ihm kannte er durchaus. Es war Ed Deepneau. Doch in diesem Zusammenhang schien Ed fast gar keine Rolle zu spielen. Was Ralph fesselte – und ängstigte -, waren die Gesichter der beiden Männer, die seit Jahren benachbarte Geschäfte in der Lower Witcham Street betrieben-Davenport mit seiner Höhlenmenschengrimasse und der geballten Faust, Dalton mit dem leeren Blick und der blutigen Nase.

Er dachte: Wenn man mit seiner Leidenschaft nicht aufpaßt, bringt sie einen so weit. Aber an dieser Stelle sollte es besser aufhören, denn…

»Denn wenn die beiden Kanonen gehabt hätten, hätten sie sich gegenseitig erschossen«, murmelte er, und in diesem Augenblick läutete es an der Tür – der zur vorderen Veranda. Ralph stand auf, betrachtete das Bild noch einmal und spürte, wie eine Art Schwindel über ihn kam. Eine seltsame, bedrückende Gewißheit ging damit einher: Ed stand da unten, und weiß Gott, was er wollte.

Dann mach nicht auf, Ralph!

Er stand einen unentschlossenen Augenblick neben dem Küchentisch und wünschte sich verzweifelt, er könnte den Nebel durchdringen, der dieses Jahr Dauergast in seinem Kopf zu sein schien. Dann läutete es noch einmal, und er stellte fest, daß er sich schon entschieden hatte. Es hätte keine Rolle gespielt, wenn Saddam Hussein da unten gestanden hätte; dies war sein Haus, und er würde sich nicht darin verstecken wie ein geprügelter Köter.

Ralph durchquerte das Wohnzimmer, machte die Tür zur Diele auf und ging die schattige Treppe hinunter.

Auf halbem Weg nach unten entspannte er sich ein wenig. Die obere Hälfte der Tür zur vorderen Veranda bestand aus dicken Glasscheiben. Sie verzerrten den Blick, aber nicht sehr, und daher konnte Ralph sehen, daß es sich bei seinen beiden Besuchern um Frauen handelte. Er erriet sofort, wer eine von ihnen sein mußte, daher hastete er den Rest des Wegs nach unten und ließ eine Hand leicht auf dem Geländer hinabgleiten. Er riß die Tür auf, und da stand Helen Deepneau mit einer Tragetasche (BABYSTATION ERSTE HILFE war auf eine Seite aufgedruckt) über der einen Schulter; über die andere sah Natalie, deren Augen so sehr glänzten wie die einer Zeichentrickmaus. Helen lächelte hoffnungsvoll und ein wenig nervös.

Plötzlich strahlte Natalie über das ganze Gesicht, hüpfte in dem Babytragegurt von Papoose auf und ab, den Helen trug, und winkte mit den Armen aufgeregt in Ralphs Richtung.

Sie erinnert sich an mich, dachte Ralph. Was sagt man dazu. Und als er den Arm ausstreckte und eine der winkenden Hände seinen rechten Zeigefinger ergreifen ließ, schössen ihm Tränen in die Augen.

»Ralph?« fragte Helen. »Alles in Ordnung?«

Er lächelte, nickte, kam näher und umarmte sie. Er spürte, wie ihm Helen die Arme um den Hals legte. Einen Augenblick machte ihn der Duft ihres Parfüms schwindlig, in den sich der Milchgeruch des gesunden Babys mischte, dann gab sie ihm einen hallenden Schmatz aufs Ohr und ließ ihn los.

»Es ist alles in Ordnung, oder nicht?« fragte sie. Auch in ihren Augen standen Tränen, aber Ralph bemerkte sie kaum; er war zu sehr mit seiner Inventur beschäftigt, da er sicherstellen wollte, daß keine Spuren der Prügel zurückgeblieben waren. Soweit er erkennen konnte, waren keine mehr zu sehen. Sie sah makellos aus.

»Im Augenblick mehr als in den letzten Wochen«, sagte er. »Du bist so ein wunderschöner Anblick für meine alten Augen. Und du auch, Nat.« Er küßte die kleine, pummelige Hand, die noch seinen Finger hielt, und war nicht völlig überrascht, als er den geisterhaften grau-blauen Lippenabdruck sah, den sein Mund hinterlassen hatte. Er verblaßte fast, ehe Ralph ihn richtig zur Kenntnis genommen hatte, und er umarmte Helen noch einmal

– in erster Linie um sicherzustellen, daß sie wirklich da war.

»Lieber Ralph« murmelte sie ihm ins Ohr. »Lieber, süßer Ralph.«

Er spürte eine Regung in den Lenden, die offenbar durch das Zusammenwirken ihres Parfüms und des sanften Kitzels ihres Atems an seinem Ohr hervorgerufen wurde… und dann fiel ihm eine andere Stimme ein, die ihm ins Ohr gesprochen hatte. Eds Stimme. Ich habe wegen deinem Mund angerufen, Ralph. Er versucht, dich in Schwierigkeiten zu bringen.

Ralph ließ sie los und hielt sie lächelnd auf Armeslänge von sich. »Du bist ein Anblick für meine trüben Augen, Helen. Der Blitz soll mich treffen, wenn es nicht so ist.«

»Du auch. Ich möchte, daß du eine Freundin von mir kennenlernst. Ralph Robert, Gretchen Tillbury. Gretchen, Ralph.«

Ralph drehte sich zu der anderen Frau um und sah sie zum erstenmal genau an, während er ihre schlanke weiße Hand behutsam in seine große, knotige nahm. Sie war der Typ Frau, bei der ein Mann (auch einer, der die Sechzig schon hinter sich gelassen hatte) gerade stehen und den Bauch einziehen wollte. Sie war groß, etwa einsachtzig, und sie war blond, aber das allein war es nicht. Da war noch etwas anderes – etwas wie ein Geruch, eine Vibration oder eine Aura.

Ja, genau, wie eine Aura. Sie war schlicht und einfach eine Frau, die man nicht übersehen, an der man nicht vorbeidenken konnte, eine Frau, bei deren Anblick man automatisch ins Spekulieren geriet.

Ralph erinnerte sich, wie Helen ihm erzählt hatte, daß Gretchens Mann ihr den Oberschenkel mit einem Küchenmesser aufgeschlitzt und sie liegengelassen hatte, damit sie verblutete. Er fragte sich, wie ein Mann so etwas tun konnte; wie ein Mann ein solches Geschöpf überhaupt mit etwas anderem als Ehrfurcht und Liebe ansehen konnte.

Und möglicherweise ein wenig Lust, nachdem er das »Sie-wandelt-in-Schönheit-wie-die-Nacht«-Stadium hinter sich gelassen hatte. Und übrigens, Ralph, es wäre vielleicht der geeignete Zeitpunkt, deine Augäpfel in die Höhlen zurückzukurbeln.

»Freut mich außerordentlich, Sie kennenzulernen«, sagte er und ließ ihre Hand los. »Helen hat mir erzählt, wie Sie sie im Krankenhaus besucht haben. Danke für Ihre Hilfe.«

»Es war ein Vergnügen, Helen zu helfen«, sagte Gretchen und schenkte ihm ein atemberaubendes Lächeln. »Sie ist die Art Frau, für die sich die ganze Arbeit lohnt… aber ich denke, das wissen Sie bereits.«

»Das könnte schon sein«, sagte Ralph. »Habt ihr Zeit für eine Tasse Kaffee? Bitte, sagt ja, wenn ihr könnt. Ich möchte euch wirklich noch eine Weile bei mir haben.«

Gretchen sah Helen an, die nickte.

»Das wäre schön«, sagte Helen. »Denn… nun…«

»Es ist nicht nur ein reiner Höflichkeitsbesuch, richtig?« fragte Ralph, der von Helen zu Gretchen Tillbury und wieder zurück zu Helen sah.

»Nein«, sagte Helen. »Wir müssen uns über etwas unterhalten, Ralph.«

5

Kaum hatten sie das obere Ende der halbdunklen Treppe erreicht, zappelte Natalie unruhig in dem Papoose-Träger und plapperte in dem gebieterischen Babylatein, das nur allzu bald richtigen, verständlichen Wörtern weichen würde.

»Kann ich sie nehmen?« fragte Ralph.

»Einverstanden«, sagte Helen. »Wenn sie weint, nehme ich sie wieder.«

»Abgemacht.«

Aber das Verherrlichte & Angebetete Baby weinte nicht. Kaum hatte Ralph es aus dem Papoose genommen, schlang es ihm freundschaftlich einen Arm um den Hals und nestelte seine Kehrseite in die Beuge seines rechten Arms, als wäre der sein eigener, persönlicher Liegestuhl.

»Mann«, sagte Gretchen. »Ich bin beeindruckt.«

»Blig!« sagte Natalie, ergriff Ralphs Unterlippe und zog sie wie eine Jalousie heraus. »Ganna-wig! Andoo-sis!«

»Ich glaube, sie hat gerade etwas über die Andrews Sisters gesagt«, sagte Ralph. Helen warf den Kopf zurück und lachte ihr herzliches Lachen, das von ganz unten, von den Fersen, heraufzukommen schien. Erst als Ralph es hörte, wurde ihm klar, wie sehr er es vermißt hatte.

Natalie ließ Ralphs Unterlippe zurückschnappen, als er sie in die Küche führte, um diese Tageszeit der sonnigste Raum im ganzen Haus. Er stellte fest, daß Helen sich neugierig umsah, als er den Herd einschaltete, und ihm wurde klar, daß sie lange nicht mehr hiergewesen war. Zu lange. Sie nahm das Bild von Carolyn, das auf dem Küchentisch stand, und betrachtete es eingehend, während ein verhaltenes Lächeln um ihre Lippen spielte. Die Sonne ließ die Spitzen ihres Haars aufleuchten, das sie kurzgeschnitten hatte, bildete eine Korona um ihren Kopf, und Ralph erlebte eine plötzliche Offenbarung: Er liebte sie zum großen Teil deshalb, weil Carolyn sie geliebt hatte – sie waren beide von Carolyn ins Herz geschlossen worden.

»Sie war so hübsch«, murmelte Helen. »Oder nicht, Ralph?«

»Ja«, sagte er und stellte die Tassen hin (sorgsam darauf achtend, daß sie außer Reichweite von Natalies rastlosen, neugierigen Händen blieben). »Das wurde einen oder zwei Monate bevor die Kopfschmerzen anfingen aufgenommen. Ich nehme an, es ist exzentrisch, ein gerahmtes Portrait auf dem Küchentisch vor der Zuckerdose stehen zu haben, aber dies scheint das Zimmer zu sein, in dem ich neuerdings die meiste Zeit verbringe, daher… «

»Ich finde, das ist ein reizender Platz dafür«, sagte Gretchen. Ihre Stimme war tief und bezaubernd heiser. Ralph dachte: Wenn sie mir vorhin ins Ohr geflüstert hätte, dann hätte die alte Hosenmaus mit Sicherheit mehr gemacht, als sich nur einmal im Schlaf herumzudrehen.

»Ich auch«, sagte Helen. Sie bedachte ihn mit einem zaghaften Lächeln, ohne ihm in die Augen zu sehen, dann ließ sie die Umhängetasche von der Schulter gleiten und stellte sie auf den Küchentresen. Natalie fing ungeduldig an zu plappern und die Hände auszustrecken, als sie die Plastikhülle des PlaytexFläschchens sah. Ralph sah deutlich, aber glücklicherweise nur kurz, eine Erinnerung aufblitzen: Helen, die zum Red Apple stolperte, ein Auge zugeschwollen, Blut auf der Wange und Natalie auf einer Hüfte, wie ein Teenager seine Schulbücher tragen würde.

»Möchtest du es versuchen, alter Freund?« fragte Helen. Ihr Lächeln war etwas zuversichtlicher, und sie sah ihm direkt in die Augen.

»Klar, warum nicht. Aber der Kaffee…« »Ich kümmere mich um den Kaffee, Väterchen«, sagte Gretchen. »Zu meiner Zeit habe ich eine Million Tassen gemacht. Haben Sie Kondensmilch?«

»Im Kühlschrank.« Ralph setzte sich an den Tisch, ließ Natalie den Kopf an seine Schulter lehnen und das Fläschchen mit ihren winzigen, faszinierenden Händen umklammern. Das tat sie mit vollkommener Selbstsicherheit, steckte den Schnuller in den Mund und fing gleich an zu saugen. Ralph sah grinsend zu Helen auf und tat so, als bemerke er nicht, daß sie wieder ein wenig zu weinen angefangen hatte. »Sie lernen schnell, oder nicht?«


    Ваша оценка произведения:

Популярные книги за неделю