Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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»Wie geht es deinen Rippen? Soll ich dir ein Aspirin holen?«
»Nee. Ich bin sicher, morgen früh tun sie wieder weh, aber im Augenblick hat das warme Wasser alles fortgespült.« Die Frage, was am Morgen passieren könnte, oder auch nicht, rief eine Frage in ihm wach – die wahrscheinlich schon die ganze Zeit da gewesen war. »Lois?«
»Mrnmtnrn?«
Vor seinem geistigen Auge sah Ralph, wie er in der Dunkelheit aufwachte, hundemüde, aber nicht mehr schläfrig (sicherlich eines der grausamsten Paradoxe der Welt), während die Digitaluhr träge von 3:47 auf 3:48 Uhr wechselte. F. Scott Fitzgeralds dunkle Nacht der Seele, wenn jede Stunde lange genug war, um die große Cheopspyramide zu bauen.
»Glaubst du, wir werden durchschlafen?« fragte er.
»Ja«, sagte sie, ohne zu zögern. »Ich glaube, wir werden ausgezeichnet schlafen.«
Einen Augenblick später tat Lois genau das.
Ralph blieb noch etwa fünf Minuten wach, hielt sie in den Armen, genoß die wunderbaren verschiedenen Düfte, die von ihrer Haut aufstiegen, erfreute sich am Gefühl der glatten Seide unter seinen Händen und staunte mehr darüber, wo er sich befand, als über die Ereignisse, die ihn hierher geführt hatten. Er war von einem tiefen und einfachen Gefühl erfüllt, das er kannte, aber nicht gleich identifizieren konnte, wahrscheinlich weil es schon zu lange aus seinem Leben verschwunden war.
Der Wind zerrte und stöhnte draußen und erzeugte wieder das hohle, pfeifende Geräusch über der Regenrinne – wie der größte Nirvana-Junge der Welt, der über den größten Flaschenhals der Welt blies -, und Ralph überlegte sich, daß nichts im Leben besser war, als in einem weichen Bett zu liegen und eine schlafende Frau in den Armen zu halten, während draußen, vor dem sicheren Hafen, der Wind heulte.
Aber eines war doch besser, mindestens eines, und das war das Gefühl, wieder einzuschlafen, sanft in die gute Nacht zu dämmern, in die Strömung des Vergessens zu treiben wie ein Kanu, das sich an einem strahlenden Sommertag vom Steg löst und in die Strömung eines breiten, trägen Flusses gerät.
Von allem, was unser kurzfristiges Leben ausmacht, ist Schlaf mit Sicherheit das Beste, dachte Ralph.
Draußen heulte der Wind (dessen Geräusch jetzt aus weiter Ferne zu kommen schien), und als er spürte, wie ihn die Strömung des gewaltigen Flusses ergriff, konnte er endlich das Gefühl identifizieren, das er empfand, seit Lois die Arme um ihn gelegt hatte und so mühelos und vertrauensvoll eingeschlafen war wie ein Kind. Es trug viele verschiedene Namen – Frieden, Gelassenheit, Erfüllung -, aber im Augenblick, während der Wind toste und Lois einen heiseren Laut schläfriger Zufriedenheit weit hinten in der Kehle von sich gab, kam es Ralph so vor, als wäre es eines der seltenen Dinge, die zwar bekannt, aber im Grunde genommen nicht mit einem Namen zu versehen sind: eine Beschaffenheit, eine Aura, möglicherweise eine eigene Ebene des Daseins im Schacht der Existenz. Es war das sanfte Rotbraun der Ruhe; es war die Stille, die nach Erfüllung einer schwierigen, aber notwendigen Aufgabe folgt.
Als der Wind sich wieder aufbäumte und das Geräusch ferner Sirenen mit sich brachte, hörte Ralph es nicht. Er schlief. Einmal träumte er, daß er aufstand und zur Toilette ging, und er vermutete, daß das kein Traum gewesen war. Einmal träumte er, daß er und Lois langsam und sich zärtlich liebten, und das war möglicherweise auch kein Traum gewesen. An andere Träume oder Augenblicke des Wachseins konnte er sich nicht erinnern, und diesmal erwachte er nicht um drei oder vier Uhr morgens. Sie schliefen – manchmal getrennt, aber meistens vereint – bis nach sieben Uhr am Samstagabend; alles in allem rund zweiundzwanzig Stunden.
Lois machte ihnen bei Sonnenuntergang Frühstück köstliche, lockere Waffeln, Speck, Bratkartoffeln. Während sie kochte, versuchte Ralph, diesen Muskel tief in seinem Geist zu spannen – um das Gefühl des Blinzelns zu erzeugen. Es gelang ihm nicht. Auch Lois konnte es nicht, als sie es versuchte, obwohl Ralph hätte schwören können, daß sie einen Augenblick flackerte und er den Herd hinter ihr durch sie hindurch sehen konnte.
»Und wenn schon«, sagte sie und trug die Teller zum Tisch.
»Ich denke auch«, stimmte Ralph zu, aber er fühlte sich trotzdem, wie er sich fühlen würde, wenn er den Ring verloren hätte, den Carolyn ihm an den Finger gesteckt hatte, und nicht den, den er Atropos abgenommen hatte – als wäre ein kleiner, aber bedeutender Gegenstand mit einem Blinzeln und einem Schimmern aus seinem Leben verschwunden.
Nach zwei weiteren Nächten tiefen, ununterbrochenen Schlafs verblaßten auch die Auren. In der darauffolgenden Woche waren sie ganz verschwunden, und Ralph fragte sich, ob die ganze Sache nicht vielleicht ein seltsamer Traum gewesen sei. Er wußte, daß es nicht so war, aber es fiel ihm immer schwerer zu glauben, was er wußte. Da war natürlich die Narbe zwischen Ellbogen und Handgelenk seines rechten Arms, aber er fragte sich, ob er sich auch die nicht vor langer Zeit zugezogen hatte, in den Jahren seines Lebens, als er kein weißes Haar gehabt und tief in seinem Herzen noch geglaubt hatte, daß das Alter ein Mythos sei, oder ein Traum, oder etwas, das Menschen vorbehalten blieb, die nicht so etwas Besonderes waren wie er.
EPILOG
Die Todesuhr wird aufgezogen (II)
Ich schaue über die Schulter und erblicke seine Gestalt und gehe vorwärts, wie jemand, der im Wald bei Nacht das Geräusch von Schritten hört, die näherkommen, und stehenbleibt und lauscht; und statt Stille hört er ein Geschöpf, das still zu sein versucht.
Was kann er tun als laufen? Blindlings den Weg entlang, stolpernd, von Zweigen ins Gesicht geschlagen; der andere immer näher, doch nicht in Eile oder atemlos; er spielt mit seiner Beute.
Stephen Dobyns Pursuit
If I had some wings, I’d fly you all around;
If I had some money, I’d buy you the goddam town;
If I had the strength, then maybe I coulda pulled you through;
If I had a lantern, I’d light the way for you,
If I had a lantern, I’d light the way for you.
Michael McDermott Lantern
Am 2. Januar 1994 wurde Lois Chasse zu Lois Roberts. Howard, ihr Sohn, war Brautführer. Howards Frau nahm nicht an der Feier teil; sie blieb mit einem nach Ralphs Ansicht höchst fragwürdigen Fall von Bronchitis in Bangor. Aber er behielt seinen Verdacht für sich und war alles andere als enttäuscht darüber, daß Jan Chasse verhindert war. Der Trauzeuge des Ehemanns war Detective John Leydecker, der immer noch einen Gips am rechten Arm trug, sonst aber keine Spuren des Einsatzes mehr zeigte, der ihn beinahe das Leben gekostet hatte. Er hatte vier Tage im Koma gelegen, aber Leydecker wußte, daß er großes Glück gehabt hatte; außer dem Bundespolizisten, der zum Zeitpunkt der Explosion neben ihm gestanden hatte, waren sechs weiter Polizisten gestorben, darunter zwei Mitglieder von Leydeckers handverlesenem Team.
Brautjungfer war Lois’ Freundin Simone Castonguay, und beim Empfang wurde der erste Trinkspruch von einem Mann ausgebracht, der behauptete, daß er früher Joe Wyze gewesen sei, heute aber älter und Wyzer wäre. Im Anschluß daran hielt Trigger Vachon eine abgehackte, aber von Herzen kommende Rede und endete mit dem Wunsch, daß »diese beiden Menschen ‘unnertundfünfzisch werden und kein’ Tag nischt Rheuma oder Verschtopfung ‘am!«
Als Ralph und Lois den Ball verließen, das Haar noch voller Reis, den hauptsächlich Faye Chapin und der Rest der Harris Avenue Altvorderen geworfen hatten, kam ein Mann mit einem Buch in der Hand und einem feinen weißen Haarschopf, der ihm um den Kopf wehte, zu ihnen gelaufen. Er stellte ein breites Lächeln zur Schau.
»Glückwunsch, Ralph«, sagte er. »Glückwunsch, Lois.«
»Danke, Dor«, sagte Ralph.
»Wir haben dich vermißt«, sagte Lois zu ihm. »Hast du keine Einladung bekommen? Faye hat gesagt, er würde sie dir geben.«
»Oh, er hat sie mir gegeben. Ja, oh ja, das hat er, aber ich geh nicht zu so was, wenn es drinnen ist. Zu eng. Beerdigungen sind noch schlimmer. Hier, das ist für euch. Ich habe es nicht eingepackt, weil die Arthritis in meinen Fingern mittlerweile zu schlimm dafür ist.«
Ralph nahm es. Es war ein Gedichtband mit dem Titel Concurring Beasts. Der Name des Dichters, Stephen Dobyns, ließ ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen, aber er wußte nicht recht, warum.
»Danke«, sagte er zu Dorrance.
»Nicht so gut wie einige seiner späteren Texte, aber gut genug. Dobyns ist sehr gut.«
»Wir lesen sie uns in den Flitterwochen vor«, sagte Lois.
»Das ist eine gute Zeit, um Gedichte zu lesen«, sagte Dorrance. »Vielleicht die beste Zeit. Ich bin sicher, ihr werdet sehr glücklich miteinander.«
Er wollte gehen, drehte sich aber noch einmal um.
»Ihr habt tolle Arbeit geleistet. Die Langfristigen waren sehr zufrieden.«
Dann ging er seines Weges.
Lois sah Ralph an. »Hast du eine Ahnung, wovon er redet?«
Ralph schüttelte den Kopf. Er wußte es nicht mit Sicherheit, dachte aber, daß er es wissen sollte. Die Narbe an seinem Arm hatte zu kribbeln angefangen, wie es manchmal vorkam, ein Gefühl fast wie ein tiefsitzendes Jucken.
»Langfristige«, murmelte sie. »Vielleicht hat er uns gemeint, Ralph – schließlich sind wir inzwischen keine jungen Hühner mehr, oder?«
»Wahrscheinlich hat er genau das gemeint«, stimmte Ralph zu, aber er wußte es besser… und ihre Augen verrieten, daß es ihr tief im Innersten genauso ging.
Am selben Tag, als sich Ralph und Lois gerade das Jawort gaben, ging ein gewisser Penner mit einer hellgrünen Aura – der tatsächlich einen Onkel in Dexter hatte, allerdings hatte der Onkel seinen Taugenichts von Neffen seit mehr als fünf Jahren nicht mehr gesehen – durch den Strawford Park und kniff die Augen zusammen, weil die Sonne so grell auf dem Schnee funkelte. Er suchte nach Pfandflaschen und -dosen. Wenn er genug für eine Flasche Whiskey zusammenbekäme, wäre das toll, aber eine Flasche Wein Marke Night Train würde auch genügen.
Nicht weit von dem Port-O-San mit der Aufschrift MÄNNER entfernt sah er das helle Funkeln von Metall. Wahrscheinlich spiegelte sich die Sonne nur auf einem Kronkorken, aber so etwas mußte genauer untersucht werden. Möglicherweise war es ein Zehncentstück… aber der Penner fand, daß es mehr ein goldener Schimmer war. Es -
»Heiliger Judas!« rief er und hob den Ehering auf, der geheimnisvollerweise oben auf dem Schnee lag. Ein breiter Reif, mit ziemlicher Sicherheit Gold. Er hielt ihn schräg und las die Gravierung auf der Innenseite: HD – ED 5.8.87.
Eine Flasche? Nein, verdammt. Dieses kleine Baby würde ihm eine große Flasche sichern. Mehrere große Flaschen. Möglicherweise eine Wochenration Flaschen.
Der Penner hastete über die Kreuzung Witcham und Jackson, wo Ralph Roberts einmal fast ohnmächtig geworden wäre, und sah den Green-Line-Bus nicht, der auf ihn zukam. Der Fahrer sah ihn und trat auf die Bremse, aber der Bus befand sich auf einer vereisten Stelle.
Der Penner erfuhr nie, was ihn gerammt hatte. Eben noch überlegte er, ob er sich für Old Crow oder Old Granddad entscheiden sollte; im nächsten war er in die Dunkelheit gegangen, die uns alle erwartet. Der Ring rollte in den Rinnstein und verschwand in einem Kanalgitter, und da blieb er lange, lange Zeit. Aber nicht für immer. In Derry haben Gegenstände, die in der Kanalisation verschwinden, die – häufig unerfreuliche
– Angewohnheit, immer wieder aufzutauchen.
Ralph und Lois erlebten nicht ausschließlich glückliche Stunden.
In der Welt der Kurzfristigen gibt es nichts ausschließlich, weder Glück noch sonst etwas, eine Tatsache, die Klotho und Lachesis zweifellos genau kannten. Aber sie lebten lange Zeit glücklich. Keiner wollte frei heraus zugeben, daß es die glücklichsten Jahre waren, denn beide erinnerten sich ihrer ersten Ehepartner voll Liebe und Zuneigung, aber in ihren Herzen betrachteten sie beide die gemeinsamen Jahre als die glücklichsten. Ralph war nicht sicher, ob die Liebe im Herbst die schönste Liebe war, kam aber zur festen Überzeugung, daß es die gütigste und erfüllendste war.
Unsere Lois, sagte er oft und lachte. Lois tat so, als wäre sie verärgert darüber, aber sie tat immer nur so; sie sah den Ausdruck in seinen Augen, wenn er es sagte.
An ihrem ersten Weihnachtsmorgen als Mann und Frau (sie waren in Lois’ hübsches kleines Haus gezogen und hatten das weiße Monstrum von Ralph zum Verkauf angeboten), schenkte Lois ihm einen Beaglewelpen. »Magst du sie?« fragte sie zaghaft. »Ich hätte sie fast nicht bekommen. Dear Abby sagt, man soll niemals Tiere verschenken, aber sie sah so süß im Fenster der Tierhandlung aus… und so traurig… wenn du sie nicht magst oder nicht den Rest des Winters damit verbringen willst, einen Welpen stubenrein zu machen, sag es einfach. Wir werden schon jemand -«
»Lois«, sagte er und zog seine Braue, wie er hoffte, so ironisch hoch wie Bill, »du stammelst.«
»Wirklich?«
»Wirklich. Das tust du immer, wenn du nervös bist, aber jetzt kannst du aufhören, nervös zu sein. Ich bin vernarrt in diese Dame.« Und das war nicht übertrieben; er hatte sich fast auf der Stelle in die schwarzbraune Beaglehündin verliebt.
»Wie willst du sie nennen?« fragte Lois. »Schon eine Ahnung?«
»Klar«, sagte Ralph. »Rosalie.«
Die nächsten fünf Jahre waren im großen und ganzen auch für Helen und Nat Deepneau gute Jahre. Sie lebten eine Weile in ärmlichen Verhältnissen an der Fast Side und kamen gerade so mit Helens Gehalt als Bibliothekarin über die Runden, aber mehr auch nicht. Das kleine Cape Cod in der Nähe von Ralphs Haus war verkauft worden, aber der Erlös reichte gerade aus, um offene Rechnungen zu bezahlen. Dann, im Juni 1994, empfing Helen einen warmen Regen von der Versicherung… aber der Regenmacher war in Wirklichkeit John Leydecker.
Die Great Eastem Versicherungsgesellschaft hatte sich zunächst geweigert, Ed Deepneaus Lebensversicherung auszubezahlen, weil er sich selbst das Leben genommen hatte. Nachdem sie eine Zeitlang großes Theater gemacht und die Firmenmuskeln hatten spielen lassen, boten sie schließlich einen anständigen Vergleich an. Dazu wurden sie von einem Pokerkumpel von John Leydecker namens Howard Hayman überredet. Wenn er nicht Lowball, Stud oder Draw-Poker spielte, war Hayman Anwalt, dem es gefiel, Versicherungsgesellschaften zum Frühstück zu verspeisen.
Leydecker hatte Helen im Februar 1994 kennengelernt, war sofort von ihr fasziniert (»Es war nie richtig Liebe«, sagte er später zu Ralph und Lois, »was wahrscheinlich auch gut so war, wenn man bedenkt, wie alles gekommen ist«) und hatte sie Hayman vorgestellt, weil er glaubte, daß die Versicherungsgesellschaft sie übers Ohr hauen wollte. »Er war verrückt, kein Selbstmörder«, sagte Leydecker und blieb noch lange dabei, nachdem Helen ihm den Hut gebracht und ihm die Tür gewiesen hatte.
Als sie mit einem Prozeß rechnen mußten, bei dem Howard Hayman die Great Eastern hinstellen wollte wie Snidely Whiplash, der Little Nell an die Eisenbahnschienen fesselt, hatte Helen einen Scheck über siebzigtausend Dollar bekommen. Im Spätherbst des Jahres 1994 kaufte sie mit dem größten Teil dieses Geldes ein Haus in der Harris Avenue, nur drei Häuser von ihrem alten Wohnsitz entfernt und direkt gegenüber von Harriet Bennigan.
»Ich habe mich an der Hast Side nie richtig wohlgefühlt«, erzählte sie Lois an einem Novembertag dieses Jahres. Sie waren auf dem Rückweg vom Park, und Natalie saß zusammengesunken und schlafend in ihrem Wagen, nicht mehr als eine rosa Nasenspitze und eine Kondenswolke aus Atemluft unter einer großen Skimütze, die Lois selbst gestrickt hatte. »Ich habe von der Harris Avenue geträumt. Ist das nicht verrückt?«
»Ich glaube nicht, daß auch nur ein einziger Traum verrückt ist«, antwortete Lois.
Helen und John Leydecker gingen fast den ganzen Sommer über miteinander aus, aber weder Ralph noch Lois waren besonders überrascht, als die Romanze nach dem Labor Day unvermittelt zu Ende ging oder als Helen eine diskrete, dreieckige rosa Anstecknadel an ihrer gestärkten Bibliothekarinnenbluse mit dem hohen Kragen trug. Vielleicht waren sie nicht überrascht, weil sie so alt waren, daß sie alles mindestens einmal gesehen hatten, oder weil sie auf einer anderen Ebene immer noch die Auren sahen, die alles umgaben und einen hellen Durchgang zu einer heimlichen Stadt versteckter Bedeutungen, verborgener Motive und trügerischer Tagesabläufe bildeten.
Ralph und Helen machten ab und zu den Babysitter bei Natalie, als Helen wieder in der Harris Avenue wohnte, und diese Abende bereiteten ihnen außerordentliches Vergnügen. Nat war das Kind, das aus ihrer Ehe hervorgegangen sein könnte, wäre sie dreißig Jahre früher zustande gekommen, und der kälteste und wolkenverhangenste Wintertag wurde warm und hell, wenn Natalie hereingetappst kam, die in ihrem gesteppten rosa Schneeanzug, an dessen Ärmeln die Fäustlinge herunterhingen, wie eine zwergenhafte Version des Michelin-Männchens aussah und fröhlich rief: »Hi, Walf! Hi, Roliss! Ich bin zu Vesuv gekommen!«
Im Juni 1995 kaufte Helen einen gebrauchten Volvo. Auf das Heck klebte sie einen Sticker mit der Aufschrift EINE FRAU OHNE MANN IST WIE EIN FISCH OHNE FAHRRAD. Auch das überraschte Ralph nicht besonders, aber wenn er den Sticker sah, fühlte er sich immer unglücklich. Manchmal dachte er, Eds schlimmstes Vermächtnis an seine Witwe ließe sich in diesem kurzen, nicht besonders komischen Spruch zusammenfassen, und wenn er ihn sah, mußte Ralph oft daran denken, wie Ed an dem Nachmittag ausgesehen hatte, als er, Ralph, vom Red Apple zu ihm gegangen war, um ihn zur Rede zu stellen. Wie Ed ohne Hemd in dem Sprühregen des Rasensprengers gesessen hatte. An den kleinen Blutstropfen auf einem Brillenglas. Wie er sich nach vorne gebeugt, Ralph mit seinen ernsten, intelligenten Augen angesehen und gesagt hatte, wenn die Dummheit ein gewisses Maß erreicht habe, könne man schwer damit leben.
Und danach hat alles angefangen, dachte Ralph dann manchmal. Aber was genau angefangen hatte, daran konnte er sich nicht mehr erinnern, was allerdings wahrscheinlich auch nicht schlimm war. Aber dieses Aussetzen der Erinnerung (wenn es sich denn darum handelte) änderte nichts an seiner Überzeugung, daß Helen auf eine dunkle Weise betrogen worden war… daß ein übellauniges Schicksal ihr eine Blechdose an den Schwanz gebunden hatte, und sie wußte es nicht einmal.
Einen Monat nachdem Helen ihren Volvo gekauft hatte, erlitt Faye Chapin einen Herzanfall, während er an einer vorläufigen Teilnehmerliste für das Startbahn Drei Classic dieses Herbstes arbeitete. Er wurde ins Derry Home Hospital gebracht, wo er sieben Stunden später starb. Ralph besuchte ihn kurz vor dem Ende, und als er die Nummer an der Tür sah – 215 – überkam ihn ein überwältigendes Gefühl von deja vu. Zuerst glaubte er, es läge daran, daß Carolyns Krankheit auf diesem Flur ihr Ende genommen hatte, aber dann fiel ihm ein, daß auch Jimmy V. in genau diesem Zimmer gestorben war. Er und Lois hatten Jimmy kurz vor dem Ende besucht, und Ralph glaubte, daß Jimmy sie beide erkannt hatte, war aber nicht mehr sicher; seine Erinnerungen an die Zeit, als ihm Lois zum erstenmal richtig aufgefallen war, waren verschwommen und nebulös. Er vermutete, daß daran teilweise die Liebe schuld war, und teilweise, daß er in die Jahre kam, am meisten aber die Schlaflosigkeit – in den Monaten nach Carolyns Tod hatte er wirklich sehr darunter gelitten, aber mit der Zeit war sie verschwunden, wie das bei solchen Dingen eben manchmal geht. Dennoch schien ihm, als hätte sich etwas
([hallo Frau, hallo Mann, wir haben auf euch gewartet]) mehr als Außergewöhnliches in diesem Zimmer zugetragen, und als er Fayes trockene, kraftlose Hand nahm und in Fayes ängstliche, verwirrte Augen sah, kam ihm ein seltsamer Gedanke: Sie stehen genau da drüben in der Ecke und beobachten uns.
Er sah hinüber. Selbstverständlich stand niemand in der Ecke, aber einen Augenblick… nur einen Augenblick…
Das Leben in den Jahren von 1993 bis 1998 ging seinen Gang, wie es in Städten wie Derry immer der Fall ist: Aus den Knospen des April wurden die trockenen, fallenden Blätter des Oktober; Mitte Dezember wurden Weihnachtsbäume in die Häuser getragen und in der ersten Januarwoche mit Resten von Lametta, die noch traurig an den Zweigen hingen, wieder mit den Müllwagen abtransportiert; Babys kamen zum Eingang herein, und alte Leute gingen durch den Ausgang hinaus. Manchmal gingen auch Menschen im besten Alter durch den Ausgang hinaus.
In Derry waren es fünf Jahre der Haarschnitte und Dauerwellen, der Stürme und Schulabschlußfeiern, des Kaffees und der Zigaretten, der Steakessen in Parker’s Cove und der Hot Dogs auf dem Spielfeld der Jugendliga. Mädchen und Jungen verliebten sich, Betrunkene fielen aus ihren Autos, kurze Röcke fielen in Ungnade. Die Leute deckten ihre Dächer neu und besserten die Einfahrten aus. Alte Flaschen wurden aus ihren Ämtern abgewählt und neue Flaschen hineingewählt. Es war das Leben, häufig unbefriedigend, manchmal grausam, normalerweise langweilig, manchmal wunderschön, ab und zu erfreulich. Die grundsätzlichen Dinge blieben erhalten, während die Zeit verging.
Im Frühherbst des Jahres 1 996 kam Ralph zu der Überzeugung, daß er Darmkrebs hätte. Er sah mehr als nur Spuren von Blut im Stuhl, und als er schließlich zu Dr. Pickard ging (Dr. Litchfields fröhlichem, schnodderigen Nachfolger), hatte er Visionen von Krankenhausbetten und Chemotherapie und IV-Tropfs, die trostlos in seinem Kopf tanzten. Aber statt um Darmkrebs handelte es sich um eine Hämorrhoide, die, mit Dr. Pickards denkwürdigem Ausdruck, »den Korken rausgedrückt« hatte. Er schrieb Ralph ein Rezept für Zäpfchen, mit dem Ralph zum Rite Aid ging. Joe Wyzer las es und grinste Ralph feixend an. »Beschissen«, sagte er, »aber auf jeden Fall um Klassen besser als Darmkrebs, oder nicht?«
»Ich habe nie an Darmkrebs gedacht«, antwortete Ralph steif.
Eines Tages im Winter 1997 setzte Lois es sich in den Kopf, mit Nats Plastikschlitten, der wie eine fliegende Untertasse aussah, ihren Lieblingshügel im Strawford Park hinunterzufahren. Sie fuhr »schneller als ein Schwein auf einer eingeschmierten Rutsche« (das war der Ausdruck von Don Veazie, der an dem Tag zufällig vorbeikam und alles mit ansah) und knallte gegen das Port-O-San mit der Aufschrift FRAUEN. Sie stieß sich das Knie an und verrenkte sich den Rücken, und obwohl Ralph wußte, daß er es nicht tun sollte – es war zumindest äußerst herzlos -, lachte er fast den ganzen Weg zur Notaufnahme von Herzen. Die Tatsache, daß Lois trotz ihrer Schmerzen ebenfalls vor Lachen brüllte, trug auch nicht gerade dazu bei, daß Ralph sich wieder unter Kontrolle bekam. Er lachte, bis ihm Tränen aus den Augen quollen, und er fürchtete, er könnte einen Schlaganfall erleiden. Sie hatte einfach so gottverdammt wie unsere Lois ausgesehen, als sie auf diesem Ding den Hügel hinuntergerast war, immer im Kreis herum, die Beine über Kreuz wie ein Yogi aus dem geheimnisvollen Osten, und sie hätte das Port-O-San fast umgestoßen, als sie dagegen prallte. Als der Frühling kam, hatte sie sich wieder völlig erholt, obwohl ihr das Knie an regnerischen Tagen immer zu schaffen machte und sie es gründlich satt bekam, daß Don Veazie sich jedesmal, wenn er sie sah, danach erkundigte, ob sie in letzter Zeit mal wieder mit einem Scheißhaus zusammengestoßen wäre.
Das Leben nahm seinen Lauf wie üblich – was bedeutet, weitgehend zwischen den Zeilen und außerhalb der Ränder. Dem einen oder anderen Weisen zufolge ist es das, was passiert, während wir andere Pläne machen, und wenn das Leben in jenen Jahren besonders gut zu Ralph Roberts war, dann vielleicht deshalb, weil er keine anderen Pläne hatte. Er blieb mit Joe Wyzer und John Leydecker befreundet, aber sein bester Freund in all den Jahren war seine Frau. Sie gingen fast überall gemeinsam hin, hatten keine Geheimnisse voreinander und stritten selten, so gut wie nie, könnte man sagen. Außerdem hatte er den Beagle Rosalie, den Schaukelstuhl, der Mr. Chasse gehört hatte, jetzt aber seiner war, und fast täglich Besuche von Natalie (die sie jetzt Ralph und Lois statt Walf und Roliss nannte, eine Veränderung, die beide nicht als Verbesserung ansahen). Und er war gesund, was möglicherweise das Allerbeste war. Es war einfach das Leben, voll kurzfristiger Belohnungen und Rückschläge, und Ralph genoß es voll Freude und Ausgeglichenheit bis Mitte März 1998, als er eines Morgens aufwachte, auf die Digitaluhr neben dem Bett sah und feststellte, daß es 5:49 Uhr war.
Er lag still neben Lois, weil er sie nicht stören wollte, indem er aufstand, und fragte sich, was ihn geweckt hatte.
Das weißt du doch, Ralph.
Nein.
Doch, du weißt es. Hör gut hin.
Also hörte er gut hin. Er hörte ganz genau hin. Und nach einer Weile konnte er es in den Wänden hören: das leise, sanfte Ticken der Todesuhr.
Ralph erwachte am folgenden Morgen um 547 und am Morgen darauf um 5:44 Uhr. Sein Schlaf schwand Minute für Minute, während der Winter Derry langsam aus seinem Griff entließ und dem Frühling Platz machte. Im Mai hörte er das Ticken der Todesuhr überall, wußte aber, es kam nur von einem einzigen Punkt und projizierte sich, wie ein guter Bauchredner seine Stimme projizieren kann. Beim erstenmal war es aus Carolyn gekommen. Jetzt kam es aus ihm.
Er verspürte weder die Angst wie bei dem Gedanken, er könnte Krebs haben, noch die Verzweiflung, an die er sich von seiner früheren Phase der Schlaflosigkeit erinnerte. Er wurde schneller müde, und es fiel ihm schwerer, sich zu konzentrieren und sich auch nur an einfache Dinge zu erinnern, aber er fügte sich gelassen in das, was geschah.
»Schläfst du gut, Ralph?« fragte Lois ihn eines Tages. »Du bekommst große dunkle Ringe unter den Augen.«
»Das liegt an den Drogen, die ich nehme«, sagte Ralph.
»Sehr witzig, du alter Narr.«
Er nahm sie in die Arme und drückte sie. »Mach dir um mich keine Sorgen, Liebling – ich bekomme soviel Schlaf, wie ich brauche.«
Eine Woche später erwachte er morgens um 4:02 Uhr und spürte einen pochenden Strang starker Hitze in seinem Arm -sie pochte in perfektem Einklang mit dem Ticken der Todesuhr, die selbstverständlich nichts anderes als sein eigener Herzschlag war. Aber dieses neue Ding war nicht sein Herz, jedenfalls glaubte Ralph das nicht; es war, als wäre ein Stromkabel ins Fleisch seines Unterarms eingepflanzt worden.
Das ist die Narbe, dachte er, und dann: Nein, es ist das Versprechen. Die Zeit des Versprechens ist fast gekommen.
Welches Versprechen, Ralph? Welches Versprechen?
Er wußte es nicht.
Eines Tages Anfang Juni kamen Helen und Nat zu Besuch und erzählten Ralph und Lois von einem Ausflug nach Boston mit »Tante Melanie«, einer Bankangestellten, mit der Helen eng befreundet war. Helen und Tante Melanie waren zu einer feministischen Versammlung gegangen, während Natalie im Tageszentrum mit etwa einer Milliarde neuer Kinder Freundschaft schloß, und dann war Tante Melanie zu weiteren feministischen Aktivitäten nach New York und Washington weitergereist. Helen und Nat waren ein paar Tage in Boston geblieben, um die Sehenswürdigkeiten zu bewundern.
»Wir haben einen Zeichentrickfilm gesehen«, sagte Natalie. »Er handelte von Tieren im Wald. Sie haben gesprochen!« Das letzte Wort sprach sie mit Shakespearscher Grandeur ausgesprochen.
»Filme mit sprechenden Tieren sind toll, was?« fragte Lois.
»Ja! Außerdem habe ich dieses neue Kleid bekommen.« »Und was für ein hübsches Kleid«, sagte Lois.
Helen sah Ralph an. »Alles in Ordnung, alter Freund? Du siehst blaß aus und hast noch keinen Pieps gesagt.«
»Hab mich nie besser gefühlt«, sagte er. »Ich habe mir nur gerade überlegt, wie süß ihr beiden mit diesen Mützen ausseht. Habt ihr sie im Fenway Park gekauft?«
Helen und Nat trugen beide Mützen der Red Sox von Boston. Bei warmem Wetter waren diese in Neuengland weit verbreitet (»verbreitet wie Katzendreck«, hätte Lois gesagt), aber auf den Köpfen dieser beiden Menschen riefen sie ein tiefes Echo in Ralph wach… und das war mit einem bestimmten Bild verbunden, das er nicht im geringsten verstand: der Fassade des Red Apple.
Inzwischen hatte Helen ihre Mütze abgenommen und betrachtete sie. »Ja«, sagte sie, »wir waren da, sind aber nur drei Runden geblieben. Männer schlagen Bälle und fangen Bälle. Ich glaube, ich habe neuerdings nicht mehr viel Geduld mit Männern und ihren Bällen… aber unsere hübschen Red-SoxMützen gefallen uns, oder nicht, Natalie?«
»Ja!« stimmte Nat vergnügt zu, und als Ralph am nächsten Morgen um 4:01 Uhr erwachte, pochte die dünne Linie an seinem Unterarm heftig und die Todesuhr schien fast eine eigene Stimme bekommen zu haben, die immer wieder einen seltsamen und fremdartigen Namen flüsterte: Atropos… Atropos… Atropos.
Ich kenne diesen Namen.
Wirklich, Ralph?
Ja, er war der mit dem rostigen Skalpell und der gemeinen Art, er hat mich Kurzer genannt, er nahm… nahm…
Nahm was, Ralph?
Er gewöhnte sich an diese stummen Unterhaltungen; sie schienen auf einer geistigen Wellenlänge zu ihm zu kommen, einer Piratenfrequenz, die nur in den frühen Morgenstunden auf Sendung war, wenn er neben seiner schlafenden Frau lag und darauf wartete, daß die Sonne aufging.
Nahm was? Erinnerst du dich?
Er rechnete nicht damit; die Fragen, die ihm diese Stimme stellte, blieben fast immer unbeantwortet, aber diesmal erhielt er eine Antwort, mit der er nicht gerechnet hatte.
Selbstverständlich Bill McGoverns Hut. Atropos hat Bills Hut genommen, und einmal hob ich ihn so wütend gemacht, daß er wahrhaftig ein Stück aus der Krempe rausgebissen hat.
Wer ist er? Wer ist Atropos?
Da war er nicht so sicher. Er wußte nur, Atropos hatte etwas mit Helen zu tun, die jetzt eine Mütze der Boston Red Sox zu besitzen schien, auf die sie ausgesprochen stolz war, und er besaß ein rostiges Skalpell.
Bald, dachte Ralph Roberts, während er in der Dunkelheit lag und dem leisen, konstanten Ticken der Todesuhr in den Wänden lauschte. Bald werde ich es wissen.
In der dritten Woche des brütend heißen Juni sah Ralph die Auren wieder.
Als der Juni in den Juli überging, brach Ralph häufig in Tränen aus, meistens ohne ersichtlichen Grund. Das war seltsam; er fühlte sich weder deprimiert noch unzufrieden, aber manchmal sah er etwas – möglicherweise nur einen Vogel, der einsam seine Kreise am Himmel zog -, und sein Herz wurde schwer vor Kummer und Verlustgefühlen.