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Schlaflos
  • Текст добавлен: 12 октября 2016, 02:36

Текст книги "Schlaflos"


Автор книги: Stephen Edwin King


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Ужасы

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Ende April war Dr. Jamal weggezogen, um eine Praxis im südlichen Connecticut aufzubauen, und Ralph vermißte ihn. Er glaubte, mit Dr. Jamal hätte er über seine Schlaflosigkeit reden können, und er glaubte auch, Jamal hätte ihm auf eine Weise zugehört, wie Litchfield es nicht wollte… oder konnte.

Im Spätsommer hatte Ralph genug über Schlaflosigkeit gelesen und wußte, daß der Typus, mit dem er geschlagen war, obwohl keineswegs selten, weitaus weniger häufig vorkam als die gewöhnliche langsame Schlaflosigkeit. Menschen, die nicht unter Schlaflosigkeit litten, befanden sich normalerweise sieben bis zwanzig Minuten nach dem Zubettgehen im ersten Schlaf Stadium. Langsame Schläfer dagegen brauchten manchmal bis zu drei Stunden, bis sie unter die Oberfläche eintauchten, und während normale Schlafende etwa fünfundvierzig Minuten nach dem Eindösen ins dritte Schlafstadium sanken (das in manchen Büchern Theta-Schlaf genannt wurde, wie Ralph herausfand), brauchten langsame Schläfer normalerweise noch einmal eine Stunde, um dorthin zu gelangen… und in vielen Nächten schafften sie es gar nicht. Sie erwachten unausgeruht, manchmal mit verschwommenen Erinnerungen an unangenehme, wirre Träume, und häufig mit dem Eindruck, daß sie die ganze Nacht wachgelegen hätten.

Nach Carolyns Tod litt Ralph zunächst an vorzeitigem Wiedererwachen. Er ging an den meisten Abenden nach den Nachrichten um elf Uhr ins Bett und schlief fast sofort ein, aber statt pünktlich um 6: j 5 Uhr zu erwachen, fünf Minuten bevor der Wecker klingelte, wachte er um sechs auf. Zuerst führte er das lediglich darauf zurück, daß er mit einer leicht vergrößerten Prostata und einem siebzig Jahre alten Nierenpaar leben mußte, aber er schien nie so dringend gehen zu müssen, wenn er aufwachte, und selbst wenn er das bißchen abgelassen hatte, das sich angesammelt hatte, konnte er nicht mehr einschlafen. Er lag einfach in dem Bett, in dem er so viele Jahre lang mit Carolyn gelegen hatte, und wartete darauf, daß es fünf vor sieben wurde (zumindest Viertel vor), damit er aufstehen konnte. Schließlich gab er sogar den Versuch auf, wieder einschlafen zu wollen; er lag einfach nur da, verschränkte die Hände mit den langen, leicht geschwollenen Fingern auf der Brust und sah mit Augen, die sich so groß wie Türknaufe anfühlten, zur schattigen Decke hinauf. Manchmal dachte er an Dr. Jamal da unten in Westport, der mit seinem sanften und tröstlichen indischen Akzent sprach und sich sein kleines Stück des amerikanischen Traums aufbaute. Manchmal dachte er an die Orte, die er und Carolyn in alten Zeiten besucht hatten, und einer, der ihm immer wieder einfiel, war ein heißer Nachmittag am Sand Beach in Bar Harbor, wo sie beide in Badesachen unter einem großen bunten Sonnenschirm an einem Picknicktisch gesessen, frittierte Muscheln gegessen, Budweiser aus Flaschen mit langen Hälsen getrunken und zugesehen hatten, wie Segelboote über den dunkelblauen Ozean dahinzogen. Wann war das gewesen? 1964? 1967? Spielte das eine Rolle? Wahrscheinlich nicht.

Die Veränderungen in seinem Schlafschema hätten an sich auch keine Rolle gespielt, wenn es dabei geblieben wäre; Ralph hätte sich nicht nur mit Wohlbehagen, sondern mit Dankbarkeit damit abgefunden. Alle Bücher, die er in diesem Sommer durchstöberte, schienen eine Weisheit des Volksmunds zu bestätigen, die er sein ganzes Leben lang gehört hatte – die Leute schliefen weniger, wenn sie älter wurden. Wenn eine Stunde Schlaf pro Nacht weniger der einzige Preis sein sollte, den er für das fragwürdige Vergnügen bezahlen mußte, »siebzig Jahre jung« zu sein, würde er ihn mit Freuden bezahlen und sich glücklich schätzen.

Aber es blieb nicht dabei. In der ersten Maiwoche erwachte Ralph um 5:15 Uhr durch das Zwitschern der Vögel. Ein paar Nächte lang versuchte er es mit Ohrenstöpseln, obwohl er von Anfang an bezweifelte, daß das funktionieren würde. Es waren nicht die gerade zurückgekehrten Vögel, die ihn weckten, auch nicht die vereinzelten Laster mit ihren Fehlzündungen auf der Harris Avenue draußen. Er hatte immer zu den Leuten gehört, die mitten in einer Marschkapelle schlafen konnten, und er glaubte nicht, daß sich daran etwas geändert hatte. Die Veränderung war in seinem Kopf vonstatten gegangen. Da drinnen befand sich ein Schalter, etwas drückte jeden Tag ein bißchen früher darauf, und Ralph hatte nicht die geringste Ahnung, wie er etwas dagegen tun konnte.

Im Juni schrak er wie ein Stehaufmännchen um 4:30, spätestens 4:34 Uhr aus dem Schlaf hoch. Und Mitte Juli – nicht ganz so heiß wie der Juli ‘92, aber immer noch heiß genug, recht schönen Dank – war er um vier Uhr wach. In diesen langen Nächten, in denen er zu wenig Platz in dem breiten Bett beanspruchte, wo er und Carolyn in so vielen heißen (und kalten) Nächten miteinander geschlafen hatten, überlegte er sich allmählich, daß das Leben zur Hölle werden würde, sollte der Schlaf sich endgültig von ihm verabschieden. Bei Tageslicht konnte er immer noch über die Vorstellung lachen, aber er fand einige schlimme Wahrheiten über F. Scott Fitzgeralds dunkle Nacht der Seele heraus, und den Hauptgewinn bekam folgende: Um 4:15 Uhr am Morgen scheint alles möglich zu sein. Alles.

Bei Tag konnte er sich einreden, daß er lediglich eine Veränderung seines Schlafrhythmus durchmachte, daß sein Körper auf ganz normale Weise auf eine Anzahl großer Veränderungen in seinem Leben reagierte, deren größte die Pensionierung und der Tod seiner Frau waren. Manchmal benutzte er das Wort »Einsamkeit«, wenn er über sein neues Leben nachdachte, aber er scheute vor dem gräßlichen Wort zurück, das mit »D« anfing, und versteckte es im tiefsten Fach seines Unterbewußtseins, wann immer es einen Augenblick in seinen Gedanken aufblitzte. Einsamkeit war okay. Depressionen waren es eindeutig nicht.

Vielleicht brauchst du mehr Bewegung, dachte er. Vielleicht solltest du Spazierengehen, wie letzten Sommer. Schließlich hast du ein ziemlich ereignisloses Leben geführt – du stehst auf, ißt Toast, liest ein Euch, siehst etwas fern, holst dir zum Mittagessen ein Sandwich gegenüber im Red Apple, beschäftigst dich ein bißchen im Garten, gehst in die Bibliothek oder besuchst Helen und das Baby, wenn sie zu Hause sind, ißt zu Abend, sitzt auf der Veranda und besuchst eventuell McGovern oder Lois Chasse eine Weile. Und dann? Du liest noch ein bißchen, siehst noch ein bißchen fern, spülst das Geschirr, gehst ins Bett. Ereignislos. Langweilig. Kein Wunder, daß du so früh aufwachst.

Nur war das Quatsch. Sein Leben hörte sich ereignislos an, richtig, kein Zweifel, aber in Wirklichkeit war es das nicht. Der Garten war ein gutes Beispiel. Was er da draußen tat, würde ihm nie irgendwelche Preise einbringen, aber es war auch weitaus mehr als nur »herumtüfteln.« An den meisten Nachmittagen jätete er, bis Schweiß einen dunklen Baumumriß auf dem Rücken des Hemds und feuchte Ringe unter den Achseln bildete, und wenn er wieder ins Haus ging, zitterte er nicht selten vor Erschöpfung. »Strafe« wäre wahrscheinlich ein treffenderes Wort gewesen als »tüfteln«, aber Strafe wofür? Daß er vor der Dämmerung aufwachte?

Ralph wußte es nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Die Arbeit im Garten beanspruchte einen erheblichen Teil des Nachmittags, sie lenkte ihn von Dingen ab, über die er lieber nicht nachdenken wollte, und das reichte aus, die schmerzenden Muskeln und die gelegentlich vor seinen Augen tanzenden schwarzen Punkte zu rechtfertigen. Er begann seine ausgiebigen Ausflüge in den Garten kurz nach dem vierten Juli und setzte sie den ganzen August hindurch fort, lange nachdem das Frühgemüse geerntet und das Spätgemüse durch die Dürre hoffnungslos vertrocknet war.

»Du solltest damit aufhören«, sagte Bill McGovern eines Abends zu ihm, als sie auf der Veranda saßen und Limonade tranken. Es war Mitte August, und Ralph wachte jeden Morgen gegen 3:30 Uhr auf. »Es scheint abträglich für deine Gesundheit zu sein. Schlimmer, du siehst wie ein Irrer aus.«

»Vielleicht bin ich ein Irrer«, antwortete Ralph kurz angebunden, und sein Tonfall oder der Ausdruck in seinen Augen mußten überzeugend gewesen sein, denn McGovem wechselte das Thema.

2

Er fing wieder an spazierenzugehen – nicht die Marathons von 1992, aber normalerweise schaffte er zwei Meilen täglich, wenn es nicht regnete. Seine übliche Route führte ihn zum pervers benannten Up-Mile Hill, zur öffentlichen Bibliothek von Derry und dann zu Back Pages, einem Antiquariat und Zeitschriftenladen an der Ecke Witcham und Main.

Back Pages stand neben einem vollgestopften Trödlerladen namens Secondhand Rose, Secondhand Clothes, und als er eines Tages im August seines Mißvergnügens an diesem Geschäft vorbeiging, sah Ralph ein neues Plakat zwischen veralteten Ankündigungen von Bohnenmahlzeiten und uralten Kirchentreffen – so aufgeklebt, daß es etwa die Hälfte eines vergilbten Pat-Buchanan-for-President-Plakats verdeckte.

Die Frau auf den beiden Fotos im oberen Teil des Plakats war eine hübsche Blondine Ende Dreißig oder Anfang Vierzig, aber der Stil der Fotos – ernste Totale links, ernstes Profil rechts, bei beiden ein nüchterner weißer Hintergrund – war so beunruhigend, daß Ralph wie angewurzelt stehenblieb. Auf den Fotos sah die Frau aus, als gehörte sie an die Wand eines Postamts oder in ein Fernseh-Dokudrama… und das war, wie der Text des Plakats deutlich machte, kein Zufall.

Die Fotos hatten seine Aufmerksamkeit erweckt, aber der Name der Frau hielt ihn fest.

GESUCHT WEGEN MORDES SUSAN EDWINA DAY stand in großen schwarzen Buchstaben am oberen Rand. Und unter den simulierten Fahndungsfotos, in Rot:

BLEIB AUS UNSERER STADT WEG!

Ganz unten auf dem Plakat stand noch eine Zeile Kleingedrucktes. Ralphs Nahsicht hatte seit Carolyns Tod ziemlich nachgelassen – war mit Pauken und Trompeten zum Teufel gegangen wäre vielleicht ein zutreffenderer Ausdruck gewesen -, daher mußte er sich nach vorne beugen, bis seine Stirn die schmutzige Scheibe von Secondhand Rose, Secondhand Clothes berührte, bevor er sie entziffern konnte:

Mit Unterstützung des Maine Life-Watch Komitees.

Weit hinten in seinem Kopf flüsterte eine Stimme: Hey, hey, Susan Day! How many kids did you kill today?

Susan Day, fiel Ralph wieder ein, war eine politische Aktivistin entweder aus New York oder aus Washington, eine Frau mit schneller Zunge, die Taxifahrer, Friseure und Bauarbeiter mit Helmen regelmäßig zum Wahnsinn trieb. Aber er konnte nicht sagen, warum ihm gerade dieser spezielle Knittelvers in den Sinn gekommen war; er erinnerte ihn an irgend etwas, das ihm nicht einfallen wollte. Vielleicht wandelte sein Verstand einfach nur den alten Protestspruch aus den sechziger Jahren ab, der gelautet hatte: Hey, hey, LBJ! How many kids did you kill today?

Nein, das ist es nicht, dachte er. Nahe dran, aber kein Treffer. Es war…

Kurz bevor sein Gehirn den Namen Ed Deepneau aushusten konnte, sagte eine Stimme fast unmittelbar hinter ihm: »Erde an Ralph, Erde an Ralph, bitte kommen, Ralphie-Baby!«

Ralph wurde aus seinen Gedanken geschreckt und drehte sich um. Er stellte erschrocken und amüsiert fest, daß er fast im Stehen eingeschlafen war. Herrgott, dachte er, man weiß nie, wie wichtig Schlaf ist, bis man keinen mehr bekommt. Dann kippt auf einmal der Boden, und alle Ecken werden irgendwie rund.

Es war Hamilton Davenport, der Inhaber von Back Pages, der ihn angesprochen hatte. Er bestückte den Bibliothekswagen, den er vor seinem Geschäft stehen hatte, mit Taschenbüchern in grellen Umschlägen. Die alte Maiskolbenpfeife – für Ralph hatte sie immer wie der Schlot eines Modellbaudampfers ausgesehen – steckte in seinem Mundwinkel und stieß kleine Wölkchen blauen Rauchs in die heiße, klare Luft aus. Winston Smith, sein alter grauer Kater, saß in der offenen Tür des Geschäfts und hatte den Schwanz um die Pfoten gewickelt. Er sah Ralph mit gleichgültigen gelben Augen an, als wollte er sagen: Du glaubst, daß du weißt, wie es ist, alt zu sein? Ich bin hier, um dir zu beweisen, du hast keinen blassen Schimmer, wie es ist, alt zu sein.

»Mann, Ralph«, sagte Davenport. »Ich muß deinen Namen mindestens dreimal gerufen haben.«

»Ich schätze, ich war geistesabwesend«, sagte Ralph. Er ging an dem Bibliothekswagen vorbei, lehnte sich an den Türrahmen (Winston Smith behielt seinen Platz mit königlicher Gleichgültigkeit bei) und nahm die beiden Zeitungen, die er jeden Tag kaufte: den Boston Globe und USA Today. Dank Pat, dem Zeitungsjungen, wurde die Derry News direkt ins Haus geliefert. Er erzählte den Leuten manchmal, daß er eine der drei Zeitungen nur zur Erheiterung las, aber er hatte sich nie entscheiden können, welche das war. »Ich habe in…« Er verstummte, als ihm Ed Deepneaus Gesicht einfiel. Von Ed hatte er das garstige kleine Lied im letzten Sommer gehört, draußen am Flughafen, und es war kein Wunder, daß er eine Weile gebraucht hatte, bis er die Erinnerung ausgegraben hatte. Ed Deepneau war der letzte Mensch auf der Welt, von dem man so etwas erwartete.

»Ralphie?« sagte Davenport. »Du hast gerade wieder abgeschaltet.«

Ralph blinzelte. »Oh, entschuldige. Ich habe in letzter Zeit nicht besonders gut geschlafen, wollte ich sagen.«

»Scheißspiel… aber es gibt schlimmere Probleme. Trink ein Glas warme Milch und hör dir eine halbe Stunde, bevor du ins Bett gehst, ruhige Musik an.«

Ralph hatte allmählich festgestellt, daß jeder in Amerika offenbar ein Privatrezept gegen Schlaflosigkeit hatte, eine Art Schlafzauber, der seit Generationen weitergereicht wurde wie die Familienbibel.

»Bach ist gut, Beethoven, und William Ackerman ist auch nicht schlecht. Aber der wahre Trick…« Davenport hob beschwörend einen Finger, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, »… besteht darin, während dieser halben Stunde nicht vom Sessel aufzustehen. Um nichts auf der Welt. Geh nicht ans Telefon, zieh den Hund nicht auf und laß den Wecker nicht raus, komm nicht auf die Idee, dir die Zähne zu putzen… nichts! Und wenn du dann ins Bett gehst… bumm! Weg wie nichts!«

»Und wenn man in seinem Lieblingssessel sitzt und plötzlich feststellt, daß einen die Natur ruft?« fragte Ralph. »Das kann ziemlich schnell gehen, wenn man in meinem Alter ist.«

»Dann mach in die Hose«, antwortete Davenport ohne mit der Wimper zu zucken und fing an zu lachen. Ralph lächelte, aber mehr aus Pflichtgefühl. Seine Schlaflosigkeit war mittlerweile kein bißchen spaßig mehr für ihn. »In die Hose!« prustete Harn. Er schlug auf den Bibliothekswagen und schüttelte den Kopf.

Ralph sah auf die Katze hinunter. Winston Smith erwiderte den Blick gelassen, und für Ralph schienen die ruhigen gelben Augen zu sagen: Ja, er ist ein Trottel, aber er ist mein Trottel.

»Nicht schlecht, hm? Hamilton Davenport, der Meister der schlagfertigen Antwort. Mach in die…« Er schnaubte wieder vor Lachen, schüttelte den Kopf und nahm die beiden Dollarscheine, die Ralph ihm entgegenstreckte. Er steckte sie in die Tasche seiner kurzen roten Schürze und gab etwas Wechselgeld heraus. »Kommt das hin?«

»Auf jeden Fall. Danke, Harn.«

»Hm-hmm. Spaß beiseite, versuch das mit der Musik. Es funktioniert wirklich. Glättet die Hirnwellen oder sowas.«

»Mach ich.« Und das Vertrackte daran war, er würde es wahrscheinlich ausprobieren, so wie er schon Mrs. Rapaports Zitrone-und-heißes-Wasser-Rezept und Shawna McClures Rat probiert hatte, wie er sein Denken klären könnte, indem er seine Atmung verlangsamte und sich auf das Wort cool konzentrierte (nur wenn Shawna das Wort aussprach, hörte es sich wie cuhhhh-ooooooooooool an). Wenn man es mit einer langsamen, aber unbarmherzigen Erosion seines gesunden Schlafs zu tun hatte, sah jedes Hausmittel gut aus.

Ralph wollte sich abwenden, überlegte es sich dann aber anders. »Was ist mit diesem Plakat nebenan?«

Harn Davenport rümpfte die Nase. »Dan Daltons Laden? Da schau ich überhaupt nicht rein, wenn es sich vermeiden läßt. Verdirbt mir den Appetit. Hat er etwas Neues und Ekelerregendes im Schaufenster?«

»Ich glaube, es ist neu – es ist nicht so vergilbt wie die anderen, und außerdem ist kaum Fliegendreck darauf. Sieht aus wie ein Steckbrief, aber das Plakat zeigt Susan Day.«

»Susan Day auf einem – verflucht!«Er warf einen finsteren, humorlosen Blick auf das Geschäft nebenan.

»Was ist sie, Präsidentin der National Organization of Women, oder so?«

»Ex-Präsidentin und Gründerin von Sisters in Arms. Autorin von Der Schatten meiner Mutter und Lilien im Tal – das ist eine Studie über geprügelte Frauen, und warum so viele sich weigern, die Männer zu verpfeifen, die sie prügeln. Ich glaube, dafür hat sie den Pulitzerpreis gewonnen. Susie Day ist augenblicklich eine der drei oder vier politisch einflußreichsten Frauen in Amerika, und sie kann auch so gut schreiben, wie sie denkt. Dieser Clown weiß, daß ich eine ihrer Petitionen gleich neben der Ladenkasse liegen habe.« »Was für Petitionen?«

»Wir versuchen, sie zu einem Vortrag hierherzuholen«, sagte Davenport. »Du weißt doch, daß die Recht-auf-Leben-Fraktion letztes Weihnachten einen Bombenanschlag auf Woman-Care versucht hat, oder?«

Ralph sah im Geiste argwöhnisch in die schwarze Grube, in der er Ende 1992 gelebt hatte, und sagte: »Nun, ich erinnere mich, daß die Polizei einen Mann mit einem Kanister Benzin auf dem Parkplatz des Krankenhauses geschnappt hat, aber ich wußte nicht… «

»Das war Charlie Pickering. Er ist Mitglied von Daily Bread, einer der Recht-auf-Leben-Gruppen, die da draußen die Streikposten am Marschieren halten«, sagte Davenport. »Sie haben ihn dazu angestiftet – glaub mir. Aber dieses Jahr werden sie sich nicht mit Benzin abgeben; sie wollen den Stadtrat dazu bringen, die Bezirksvorschriften zu ändern und Woman-Care einfach rauszudrängen. Und möglicherweise gelingt ihnen das auch. Du kennst ja Derry, Ralph – es ist nicht gerade eine Hochburg des Liberalismus.«

»Nein«, sagte Ralph mit einem schwachen Lächeln. »Das ist es nie gewesen. Und Woman-Care ist eine Abtreibungsklinik, oder nicht?«

Dave warf ihm einen ungeduldigen Blick zu und nickte mit dem Kopf in Richtung von Secondhand Rose. »So sagen Arschlöcher wie der da dazu«, sagte er, »nur benutzen sie lieber das Wort Fabrik statt Klinik. Sie übersehen alles andere, das Woman-Care macht.« Für Ralph hörte sich Davenport ein wenig wie der Fernsehsprecher an, der zwischen dem Sonntagnachmittagsfilm laufmaschenfreie Strumpfhosen anpries. »Sie machen Familienberatung, sie kümmern sich um mißbrauchte Frauen und Kinder, und sie leiten ein Frauenhaus drüben an der Stadtgrenze von Newport. Sie haben ein Hilfszentrum für Vergewaltigungsopfer im städtischen Gebäude beim Krankenhaus und eine Telefonbetreuung rund um die Uhr für vergewaltigte und mißhandelte Frauen. Kurz gesagt, sie stehen für alles, bei dem Marlboro-Männer wie Dalton Backsteine scheißen.«

»Aber sie machen Abtreibungen«, sagte Ralph. »Deshalb die Demonstranten, richtig?«

Ralph kam es so vor, als würden seit Jahren Demonstranten vor dem flachen, unscheinbaren Backsteingebäude auf und ab gehen, in dem Woman-Care untergebracht war. Ihm kamen sie immer zu blaß vor, zu fanatisch, zu mager oder zu fett, zu überzeugt, daß sie Gott auf ihrer Seite hatten. Auf den Transparenten, die sie trugen, standen Sachen wie AUCH DIE UNGEBORENEN HABEN RECHTE oder LEBEN, WAS FÜR EINE WUNDERBARE ENTSCHEIDUNG oder der unsterbliche Klassiker ABTREIBUNG IST MORD! Mehrmals waren Frauen, die die Klinik aufgesucht hatten – die in der Nähe des Derry Home lag, aber nichts damit zu tun hatte, glaubte Ralph – mit Plastikbeuteln beworfen worden, in denen sich rot gefärbter Sirup Marke Karo befand.

»Ja, sie führen Abtreibungen durch«, sagte Harn. »Stört dich etwas daran?«

Ralph dachte an die vielen Jahre, die er und Carolyn versucht hatten, ein Baby zu bekommen – Jahre, die nichts weiter als mehrere Fehlalarme und eine einzige katastrophale Fehlgeburt nach fünf Monaten hervorgebracht hatten – und zuckte die Achseln. Plötzlich schien der Tag zu heiß und seine Beine zu müde zu sein. Der Gedanke an den Rückweg – besonders die Strecke den Up-Mile Hill hinauf – hing im hinteren Teil seines Verstands wie etwas, das an einer Leine mit Angelhaken aufgehängt worden ist. »Herrgott, ich weiß nicht«, sagte er. »Ich wünschte mir nur, die Leute wären nicht immer so… so schrill.«

Davenport grunzte, ging zum Schaufenster seines Nachbarn und betrachtete das Plakat mit dem getürkten Steckbrief. Während er es studierte, kam ein großer, blasser Mann mit Ziegenbärtchen – die absolute Antithese des Marlboro-Manns, hätte Ralph gesagt – aus den dunklen Tiefen von Secondhand Rose wie ein Vaudevillegespenst, das ein bißchen schimmlig an den Rändern geworden ist. Er sah, was Davenport studierte, worauf ein knappes, mißfälliges Lächeln seine Mundwinkel kräuselte. Ralph fand, es war die Art von Lächeln, die einen Mann ein paar Zähne oder eine gebrochene Nase kosten konnte. Besonders an einem knallheißen Tag wie heute.

Davenport deutete auf das Plakat und schüttelte heftig den Kopf.

Daltons Lächeln wurde breiter. Er machte eine Geste mit den Händen zu Davenport – Wen interessiert einen Scheißdreck, was du denkst? sagte die Geste – und verschwand wieder in den Tiefen seines Ladens.

Davenport kam zu Ralph zurück, und rote Flecken brannten auf seinen Wangen. »Das Bild dieses Mannes müßte im Lexikon direkt neben Arsch abgebildet sein«, sagte er.

Genau das, was er von dir denkt, könnte ich mir vorstellen, dachte Ralph, sagte es aber selbstverständlich nicht.

Davenport blieb vor dem Bibliothekswagen mit Taschenbüchern stehen, steckte die Hände unter der roten Schürze in die Taschen und betrachtete verdrossen das Plakat von (hey hey)

Susan Day.

»Nun«, sagte Ralph, »ich sollte lieber wieder…«

Davenport riß sich aus seiner Verdrossenheit. »Geh noch nicht«, sagte er. »Unterschreib zuerst meine Petition, ja? Das würde meinen Morgen wieder etwas aufpolieren.«

Ralph trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Normalerweise lasse ich mich nicht in Konfrontationen wie diese hineinziehen… «

»Komm schon, Ralph«, sagte Davenport mit einer Seien-wir-doch-vernünftig-Stimme. »Wir sprechen nicht von Konfrontationen; es geht nur darum: Wir müssen dafür sorgen, daß die armen Irren von Daily Bread – und politische Neandertaler wie Dalton – nicht ein wirklich nützliches Frauenzentrum dichtmachen können. Ich verlange ja nicht von dir, daß du Versuche mit chemischen Kampfstoffen an Delphinen unterstützt.«

»Nein«, sagte Ralph. »Eindeutig nicht.«

»Wir hoffen, daß wir bis zum ersten September fünftausend Unterschriften an Susan Day schicken können. Wird wahrscheinlich nichts nützen – Derry ist nichts weiter als ein Fliegenschiß auf der Landkarte, und wahrscheinlich ist sie bis ins nächste Jahrhundert ausgebucht -, aber ein Versuch kann nicht schaden.«

Ralph überlegte sich, ob er Harn sagen sollte, daß die einzige Petition, die er unterschreiben wollte, eine an die Götter des Schlafs wäre, ihm die drei Stunden Ruhe in der Nacht wiederzugeben, die sie ihm gestohlen hatten, aber dann sah er dem Mann ins Gesicht und beschloß, es bleiben zu lassen.

Carolyn hätte diese verdammte Petition unterschrieben, dachte er. Sie hat Abtreibung nicht gutgeheißen, aber sie hat es auch nicht gutgeheißen, daß Männer nach Hause kommen, wenn die Bars schließen, und ihre Frauen und Kinder mit Fußbällen verwechseln.

Das war sicher richtig, aber es wäre nicht der Hauptgrund dafür gewesen, daß sie unterschrieben hätte; sie hätte es wegen der vagen Möglichkeit getan, einen authentischen Wirbelwind wie Susan Day persönlich und aus der Nähe zu sehen. Sie hätte es aus der tief verwurzelten Neugier getan, die wahrscheinlich ihr offenkundigster Charakterzug gewesen war – etwas so Starkes, daß nicht einmal der Hirntumor es hatte abtöten können. Zwei Tage vor ihrem Tod hatte sie die Kinokarte, die er als Lesezeichen benützte, aus dem Taschenbuch gezogen, das er auf ihrem Nachttisch hatte liegen lassen, weil sie wissen wollte, in welchem Film er gewesen war. Es war Eine Frage der Ehre mit Tom Cruise gewesen, und er war erstaunt und betroffen, wie sehr ihm die Erinnerung daran weh tat. Selbst heute tat sie noch weh wie der Teufel.

»Klar«, sagte er zu Ham. »Ich unterschreibe mit Vergnügen.«

»Prima!« rief Davenport und schlug ihm auf die Schulter. Der düstere Gesichtsausdruck wich einem Grinsen, aber Ralph fand, daß die Veränderung nicht unbedingt zum Besseren war. »Komm in meine Lasterhöhle!«

Ralph folgte ihm in den Laden, der nach Tabak roch und um neun Uhr morgen nicht besonders lasterhaft wirkte. Winston Smith floh vor ihnen und blieb nur einmal stehen, um sie mit seinen uralten gelben Augen anzusehen. Er ist ein Trottel, und du bist auch einer, schien dieser Abschiedsblick zu sagen. Unter den gegebenen Umständen war das eine Schlußfolgerung, der Ralph nicht unbedingt widersprechen wollte. Er klemmte seine Zeitungen unter den Arm, beugte sich über das linierte Blatt auf dem Tresen neben der Registrierkasse und unterschrieb die Petition, die Susan Day bat, nach Derry zu kommen und zur Verteidigung von Woman-Care zu sprechen.

Den Up-Mile Hill hinauf ging es besser, als er erwartet hatte, und als er die Kreuzung Witcham und Jackson überquerte, dachte er: Na also, das war ja gar nicht so schlimm, es war…

Plötzlich stellte er fest, daß seine Ohren klingelten und seine Beine unter ihm angefangen hatten zu zittern. Er blieb auf der anderen Seite der Witcham stehen und preßte eine Hand auf das Hemd. Er tonnte das Herz unmittelbar darunter schlagen spüren; es hämmerte mit einer unregelmäßigen Heftigkeit, die angsteinflößend war. Er hörte Papier rascheln und sah eine Werbebeilage aus dem Boston Globe fallen und schaukelnd in den Rinnstein fallen. Er wollte sich bücken, um sie aufzuheben, ließ es aber bleiben.

Keine gute Idee, Ralph – wenn du dich bückst, wirst du höchstwahrscheinlich hinfallen. Ich würde vorschlagen, du läßt die Beilage für die Straßenreinigung liegen.

»Ja, okay, gute Idee«, murmelte er und richtete sich wieder auf. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen wie ein surrealistischer Krähenschwarm, und einen Moment war Ralph überzeugt, er würde schließlich auf der Werbebeilage landen, egal was er tun oder lassen mochte.

»Ralph? Alles in Ordnung?«

Er schaute vorsichtig auf und erblickte Lois Chasse, die auf der anderen Seite der Harris Avenue und einen halben Block von dem Haus entfernt wohnte, das er sich mit Bill McGovern teilte. Sie saß auf einer der Bänke vor dem Strawford Park und wartete wahrscheinlich auf den Canal Street Bus, mit dem sie Richtung Innenstadt fahren konnte.

»Klar, bestens«, sagte er und setzte die Beine in Bewegung. Ihm war, als würde er durch Sirup waten, glaubte aber, daß er es bis zu der Bank schaffte, ohne eine allzu schlechte Figur abzugeben. Aber als er sich neben sie setzte, konnte er ein dankbares Stöhnen nicht unterdrücken.

Lois Chasse hatte große, dunkle Augen – die man »Spanish Eyes« genannt hatte, als Ralph noch ein Kind war -, und er wettete, daß sie in den Köpfen vieler junger Männer herumgespukt hatten, als Lois noch die High School besuchte. Sie waren immer noch der interessanteste Zug an ihr, aber Ralph gefiel der Ausdruck von Sorge nicht besonders, den er jetzt in ihnen sah. Das war… was? Ein bißchen zu gutnachbarlich für meinen Geschmack, war der erste Gedanke, der ihm einfiel, aber er war nicht sicher, ob das der richtige Gedanke war.

»Bestens«, wiederholte Lois.

»Klar doch.« Er holte das Taschentuch aus der Gesäßtasche, vergewisserte sich, daß es sauber war, und wischte sich damit über die Stirn.

»Ich hoffe, du nimmst mir meine Offenheit nicht übel, aber du siehst nicht bestens aus, Ralph.«

Ralph nahm ihr ihre Offenheit übel, wußte aber nicht, wie er es ihr sagen sollte.

»Du bist blaß, du schwitzt, und du bist ein Umweltverschmutzer.«

Ralph sah sie erstaunt an.

»Etwas ist aus deiner Zeitung gefallen. Ich glaube, es war eine Werbebeilage.«

»Tatsächlich?«

»Du weißt genau, daß es so war. Entschuldige mich einen Augenblick.«

Sie stand auf, ging über den Gehweg, bückte sich (Ralph stellte fest, daß ihre Hüften zwar ziemlich breit, ihre Beine aber noch bewundernswert straff für eine Frau waren, die mindestens achtundsechzig sein mußte) und hob die Werbebeilage auf. Sie kam damit zur Bank zurück und setzte sich.

»Da«, sagte sie. »Jetzt bist du kein Umweltverschmutzer mehr.«

Er mußte unwillkürlich lächeln. »Danke.«

»Nichts zu danken. Ich kann den Maxwell House-Coupon brauchen. Und den für Hamburger Helper und Diet Coke. Ich bin so fett geworden seit Mr. Chasse gestorben ist.«

»Du bist kein bißchen fett, Lois.«

»Danke, Ralph, du bist der vollendete Gentleman, aber wechseln wir das Thema nicht. Du hast einen Schwindelanfall gehabt, richtig? Du bist sogar fast umgekippt.«

»Ich habe nur Luft geholt«, sagte er steif und beobachtete einen Haufen Kinder, die vorne im Park Baseball spielten. Sie gaben sich echt Mühe, lachten und wuselten herum. Ralph beneidete sie um ihre funktionstüchtigen Klimaanlagen.

»Luft geholt, was?«

»Ja.«

»Nur Luft geholt.«

»Lois, du hörst dich wie eine kaputte Schallplatte an.«

»Nun, die kaputte Schallplatte wird dir etwas sagen, okay? Du bist verrückt, daß du bei dieser Hitze den Up-Mile Hill rauf gehst. Wenn du Spazierengehen willst, warum dann nicht wie früher auf der Extension, wo es flach ist?«

»Weil mich das an Carolyn erinnert«, sagte er, und ihm gefiel der steife, fast grobe Ton nicht, mit dem es herauskam, aber er konnte nichts dagegen tun.

»O Scheiße«, sagte sie und berührte kurz seine Hand. »Tut mir leid.«

»Ist schon gut.«

»Nein, ist es nicht. Ich hätte es wissen müssen. Aber wie du gerade ausgesehen hast, das ist auch nicht gut. Du bist keine zwanzig mehr, Ralph. Nicht einmal vierzig. Ich will nicht sagen, daß du nicht gut in Form bist – jeder kann sehen, daß du für jemand in deinem Alter toll in Form bist -, aber du solltest besser auf dich achten. Carolyn hätte gewollt, daß du besser auf dich achtgibst.«

»Ich weiß«, sagte er, »aber ich bin wirklich……. in Ordnung, wollte er sagen, aber dann sah er von seinen Händen auf in ihre dunklen Augen, und was er da sah, machte es ihm einen Augenblick unmöglich, weiterzusprechen. Auch in ihren Augen stand die Erschöpfung geschrieben, sah er… oder war es Einsamkeit? Vielleicht beides. Auf jeden Fall war das nicht das einzige, das er sah. Er sah auch sich selbst. Du bist albern, sagten die Augen, in die er sah. Vielleicht sind wir es beide. Du bist siebzig und Witwer, ich bin achtundsechzig und Witwe. Wie lange sotten wir abends noch auf deiner Veranda sitzen – mit Bill McGovern als ältester Anstandsdame der Welt? Ich hoffe, nicht mehr allzu lange, weil wir beide nicht mehr gerade frisch von der Stange sind.


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