Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Die Antwort fiel ihm sofort ein, nachdem er die Frage formuliert hatte, aber er verspürte einen überraschenden Widerwillen dagegen, McGovern anzuvertrauen, was ihm alles widerfahren war. Er erinnerte sich an den Tag, als er Bill auf der Bank beim Softballfeld gefunden hatte, wo er über seinen alten Freund und Mentor Bob Polhurst weinte. Ralph hatte versucht, Bill von den Auren zu erzählen, und es war gewesen, als hätte McGovern ihn gar nicht hören können; er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, sein abgegriffenes Drehbuch herunterzuleiern, wie beschissen es war, alt zu werden.
Ralph dachte an die sardonisch hochgezogene Braue. Den unweigerlichen Zynismus. Das lange, immer so düstere Gesicht. Die literarischen Anspielungen, bei denen Ralph häufig lächeln mußte, sich aber häufig auch ein wenig unterlegen fühlte. Und dann McGoverns Verhalten gegenüber Lois: herablassend, sogar ein bißchen grausam.
Doch das war alles andere als fair, und Ralph wußte es. Bill McGovern konnte gütig sein, und – was in diesem Fall wahrscheinlich wichtiger war -, verständnisvoll. Er und Ralph kannten sich seit mehr als zwanzig Jahren; die letzten fünf davon wohnten sie unter einem Dach. Er war einer von Carolyns Sargträgern gewesen, und wenn Ralph mit Bill nicht über das reden konnte, was ihm widerfahren war, mit wem dann?
Mit niemandem, schien die Antwort zu lauten.
Kapitel 10
Die dunstigen Ringe um die Straßenlaternen waren verschwunden, als der Morgen am Himmel im Osten graute, und um neun Uhr war der Tag klar und warm – möglicherweise der Anfang der letzten kurzen Phase des Indianersommers. Ralph ging nach unten, sobald Good Morning America zu Ende war, und war fest entschlossen, McGovern zu erzählen, was mit ihm los war (jedenfalls soviel er sich traute), bevor er wieder den Mut verlor. Als er jedoch vor der Tür der Erdgeschoßwohnung stand, konnte er die Dusche prasseln und William D. McGovern gnädigerweise gedämpft singen hören: »I Left My Heart In San Francisco.«
Ralph ging auf die Veranda hinaus, steckte die Hände in die Gesäßtaschen und las den Tag wie einen Katalog. Es gab nichts, überlegte er, wirklich nichts auf der Welt, das dem Oktobersonnenschein gleichkam; er konnte fast spüren, wie sich sein nächtliches Elend verflüchtigte. Es würde zweifellos zurückkehren, aber im Augenblick fühlte er sich gut – müde und schwindlig im Kopf, ja, aber trotzdem weitgehend in Ordnung. Der Tag war mehr als schön; er war regelrecht atemberaubend, und Ralph bezweifelte, daß er vor dem nächsten Mai noch einmal einen ähnlich schönen erleben würde. Er kam zu dem Ergebnis, er wäre ein Narr, ihn nicht auszunützen. Ein Spaziergang zur Harris Avenue Extension würde eine halbe Stunde dauern, eine Dreiviertelstunde, wenn er jemanden treffen sollte, mit dem es sich lohnte, einen Plausch zu halten, und bis dahin würde sich Bill geduscht, rasiert, gekämmt und angezogen haben. Und bereit sein, ihm teilnahmsvoll zuzuhören, wenn Ralph Glück hatte.
Er ging bis zum Picknickgelände vor dem Zaun des County Airport ohne sich richtig einzugestehen, daß er insgeheim hoffte, den alten Dor zu treffen. Wenn ja, konnten sie beide sich vielleicht ein bißchen über Lyrik unterhalten – zum Beispiel über Stephen Dobyns -, vielleicht sogar ein wenig über Philosophie. Diesen Teil ihrer Unterhaltung könnten sie vielleicht mit einer Begriffsbestimmung beginnen, was »langfristige Geschäfte« waren, um danach zu klären, weshalb Ralph sich Dors Meinung zufolge »nicht einmischen« sollte.
Aber Dorrance hielt sich nicht am Picknickplatz auf; niemand war dort, außer Don Veazie, der Ralph erklären wollte, warum Bill Clinton als Präsident so einen Mist baute und warum es für die guten alten Vereinigten Staaten besser gewesen wäre, wenn das Volk das Finanzgenie Ross Perot gewählt hätte. Ralph (der für Clinton gestimmt hatte und fand, daß der Mann seine Aufgabe ziemlich gut erfüllte) hörte lange genug zu, um nicht als unhöflich zu gelten, dann behauptete er, er hätte einen Termin beim Friseur. Etwas Besseres fiel ihm auf die Schnelle nicht ein.
»Und noch was!« plärrte Don hinter ihm her. »Seine hochnäsige Frau! Die ist eine Lesbe! So was erkenne ich immer! Weißt du, woran? Ich seh mir ihre Schuhe an! Schuhe sind eine Art Geheimcode bei denen! Sie tragen immer welche, die vorne ganz breit sind und -«
»Bis bald, Don!« rief Ralph und trat hastig den Rückzug an.
Er war etwa eine Viertelmeile bergab gegangen, als der Tag lautlos um ihn herum explodierte.
Er befand sich gegenüber von May Lochers Haus, als es passierte. Er blieb wie angewurzelt stehen und sah mit großen, ungläubigen Augen die Harris Avenue entlang. Die rechte Hand hatte er an den Halsansatz gepreßt, sein Mund stand offen. Er sah aus wie ein Mann, der einen Herzanfall hat, und obwohl mit seinem Herzen alles in Ordnung war – jedenfalls im Augenblick -, kam er sich gewiß vor, als hätte er eine Art Anfall. Er hatte den ganzen Herbst über nichts gesehen, das ihn darauf hätte vorbereiten können. Ralph glaubte nicht, daß ihn überhaupt etwas hätte darauf vorbereiten können.
Die andere Welt – die heimliche Welt der Auren – war wieder sichtbar geworden, und diesmal intensiver, als Ralph es sich je hätte träumen lassen können… so intensiv, daß er sich sogar einen Moment fragte, ob ein Mensch an einer Wahrnehmungsüberdosis sterben konnte. Die obere Harris Avenue war ein grell leuchtendes Wunderland voll überlappender Kugeln und Kegel und bunter Sicheln. Die Bäume, die immer noch etwa eine Woche vom Höhepunkt ihrer herbstlichen Verwandlung entfernt waren, brannten dennoch wie Fackeln in Ralphs Augen und Denken. Der Himmel war jenseits der Farbe; er glich einem endlosen blauen Überschallknall.
Die Telefonleitungen der West Side von Derry verliefen noch oberirdisch, und Ralph starrte sie an, während er am Rande bemerkte, daß er aufgehört hatte zu atmen und besser schnellstens wieder damit anfangen sollte, wenn er nicht umkippen wollte. Unregelmäßige gelbe Spiralen sausten schnell an den schwarzen Leitungen entlang und erinnerten Ralph daran, wie die rotierenden Stangen vor den Friseurläden in seiner Jugend ausgesehen hatten. Ab und zu wurde dieses Wespenmuster von einem stacheligen, vertikalen roten Aufleuchten oder einem grünen Blitz unterbrochen, die in beide Richtungen gleichzeitig zu verlaufen schienen und die gelben Ringe einen Moment auslöschten, bevor sie verblaßten.
Du siehst, wie Leute miteinander reden, dachte er benommen. Weißt du das, Ralph? Tante Sadie in Dallas hält ein Schwätzchen mit ihrem Lieblingsneffen, der in Derry wohnt; ein Farmer in Haven plauscht mit dem Großhändler, von dem er seine Traktorteile bezieht; ein Pastor versucht, einem in Not geratenen Gemeindemitglied zu helfen. Das sind Stimmen, und ich glaube, die grellen Blitze und das Aufleuchten kommen von Leuten, die von einem starken Gefühl beherrscht werden -Liebe oder Hass, Glück oder Eifersucht.
Und Ralph spürte, daß das, was er sah und fühlte, nicht alles war; daß eine ganze Welt außerhalb der momentanen Reichweite seiner Sinne wartete. Möglicherweise so gewaltig, daß sogar dieses, was er jetzt sah, kümmerlich und blaß wirken würde. Und wenn es tatsächlich mehr gab, wie sollte er es ertragen können, ohne den Verstand zu verlieren? Es würde nicht einmal helfen, sich die Augen herauszureißen; er begriff, der Eindruck des »Sehens« rührte nur daher, daß er das Sehen sein Leben lang als primäre Sinneswahrnehmung akzeptiert hatte. Aber hier spielte sich eine Menge mehr als nur im Bereich des Sichtbaren ab.
Um sich das selbst zu beweisen, machte er die Augen zu… und sah die Harris Avenue trotzdem weiter. Als wären seine Lider zu Glas geworden. Der einzige Unterschied bestand darin, daß sich alle Farben in ihr Gegenteil verkehrt hatten und eine Welt entstanden war, die wie das Negativ eines Farbfotos aussah. Die Bäume waren nicht mehr orange und gelb, sondern so grell und unnatürlich grün wie Limonen-Gatorade. Die Oberfläche der Harris Avenue, im Juni erst frisch asphaltiert, war zu einem breiten weißen Weg geworden, und der Himmel zu einem erstaunlichen roten See. Er schlug die Augen wieder auf und war fast überzeugt, daß die Auren verschwunden sein würden, aber sie waren noch da; die Welt erbebte immer noch in Farben und Bewegungen und einem tiefen, hallenden Geräusch.
Wann fange ich an, sie zu sehen? fragte sich Ralph, während er langsam weiter bergab ging. Wann kommen die kleinen kahlköpfigen Ärzte aus dem Unterholz?
Aber es waren keine Ärzte zu sehen, weder kahlköpfig noch sonstwie, keine Engel in der Architektur; keine Teufel, die aus den Gullydeckeln hervorlugten. Da war nur -
»Paß auf, Roberts, gib acht, wo du hinläufst!«
Die schroffen und etwas erschrockenen Worte schienen wahrhaftig eine stoffliche Beschaffenheit zu haben; sie waren, als würde man in einer uralten Abtei oder einem Ahnensaal mit der Hand über Eichenpaneele streichen. Ralph blieb unvermittelt stehen und sah Mrs. Perrine von weiter unten in der Straße. Sie war vom Bürgersteig auf die Straße getreten, damit sie nicht umgestoßen wurde wie ein Kegel, und nun stand sie bis zu den Knöcheln in herabgefallenem Laub und betrachtete Ralph unter ihren buschigen melierten Brauen hervor. Die Aura um sie herum hatte die strenge, nüchterne graue Farbe einer Uniform von West Point.
»Bist du betrunken, Roberts?« fragte sie mit abgehackter Stimme, und da verschwand das Chaos der Farben und Empfindungen aus der Welt, und er befand sich wieder nur in der Harris Avenue, die an einem herrlichen Herbstmorgen vor sich hindämmerte.
»Betrunken? Ich? Ganz und gar nicht. Nüchtern wie ein Richter, im Ernst.«
Er hielt ihr die Hand hin. Mrs. Perrine, die schon mindestens achtzig war, es sich aber nicht anmerken ließ, betrachtete seine Hand, als könnte er einen Elektrosummer darin verborgen haben. Das würde ich dir zutrauen, Roberts, schienen ihre kalten grauen Augen zu sagen. Das würde ich dir durchaus zutrauen. Sie kam ohne Ralphs Hilfe wieder auf den Bürger steig.
»Tut mir leid, Mrs. Perrine. Ich habe nicht auf den Weg geachtet.«
»Nein, das hast du eindeutig nicht. Bist mit offenen Mund herumspaziert. Du hast ausgesehen wie der Dorftrottel.«
»Tut mir leid«, wiederholte er, und dann mußte er sich auf die Zunge beißen, um wieherndes Gelächter zu unterdrücken.
»Hm.« Mrs. Perrine sah ihn langsam von oben bis unten an wie ein Ausbilder der Marines, der einen widerborstigen Rekruten mustert. »Dein Hemd ist unter der Achsel zerrissen, Roberts.«
Ralph hob den linken Arm und sah nach. Sein kariertes Lieblingshemd hatte tatsächlich einen großen Riß. Er konnte den Verband mit dem getrockneten Blutfleck darauf sehen; außerdem ein unansehnliches Gestrüpp Achselbehaarung eines alten Mannes. Er ließ den Arm hastig wieder sinken und spürte, wie ihm die Röte in die Wangen schoß.
»Hm«, sagte Mrs. Perrine noch einmal und drückte damit ihre vollständige Meinung über Ralph Roberts ohne einen einzigen Vokal aus. »Bring es mir zu Hause vorbei, wenn du möchtest. Und alles andere, das du zu nähen hast. Ich kann immer noch mit der Nadel umgehen, weißt du.«
»Oh, daran zweifle ich nicht, Mrs. Perrine.«
Nun bedachte Mrs. Perrine ihn mit einem Blick, der sagte: Du bist ein vertrockneter alter Arschkriecher, Ralph Roberts, aber dafür kannst du wahrscheinlich nichts.
»Aber nicht am Nachmittag«, sagte sie. »Nachmittags helfe ich, das Essen im Obdachlosenasyl zu machen, und um fünf helfe ich, es zu servieren. Das ist Gottes Arbeit.« »Ja, da bin ich ganz sicher… «
»Im Himmel wird es keine Obdachlosen geben, Roberts. Verlaß dich drauf. Und auch keine zerrissenen Hemden, da bin ich ganz sicher. Aber solange wir hier sind, müssen wir auf Zack sein und zurechtkommen. Das ist unsere Aufgabe.« Und ich erledige sie außergewöhnlich gut, fügte Mrs. Perrines Gesicht hinzu. »Bring am Morgen oder am Abend, was du zu nähen hast, Roberts. Du mußt nicht auf Etikette achten, aber wage es nicht, nach halb neun bei mir aufzukreuzen. Ich gehe um neun zu Bett.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs. Perrine«, sagte Ralph und mußte sich wieder auf die Zunge beißen. Er spürte, daß dieser Trick bald nicht mehr funktionieren würde; bald würde es heißen: Lach oder stirb.
»Keineswegs. Christenpflicht. Außerdem war ich mit Carolyn befreundet.«
»Danke«, sagte Ralph. »Schrecklich, das mit May Locher, nicht?«
»Nein«, sagte Mrs. Perrine. »Gottes Gnade.« Und sie zog ihres Weges, bevor Ralph ein weiteres Wort sagen konnte. Ihr Rücken war so unglaublich gerade, daß es wehtat, ihn anzusehen.
Er ging ein Dutzend Schritte weiter, dann konnte er nicht mehr an sich halten. Er stützte sich mit einem Arm an einem Telefonmast ab, preßte den Mund auf den Arm und lachte so leise er konnte – bis ihm Tränen die Wangen hinabliefen. Als der Anfall (genau so fühlte es sich an, wie ein hysterischer Anfall) vorbei war, hob Ralph den Kopf und sah sich mit wachsamen, neugierigen, leicht tränenverschleierten Augen um. Er sah nichts, das nicht jeder andere auch sehen konnte, was ihn mit Erleichterung erfüllte.
Aber es wird wiederkommen, Ralph. Du weißt es. Alles.
Ja, er vermutete, daß er das wußte, aber darum konnte er sich später kümmern. Zunächst mußte er mit jemandem reden.
Als Ralph schließlich von seiner erstaunlichen Tour die Straße entlang zurückkehrte, saß McGovern im Sessel auf der Veranda und blätterte müßig die Morgenzeitung durch. Als Ralph den Weg zum Haus hochging, faßte er einen spontanen Entschluß. Er würde Bill eine Menge erzählen, aber nicht alles. Auf jeden Fall weglassen wollte er, daß die beiden Typen, die er aus May Lochers Haus kommen sah, wie die Außerirdischen in den Sensationsblättern ausgesehen hatten, die man im Red Apple kaufen konnte.
McGovern sah auf, als er die Stufen heraufkam. »Hi, Ralph.«
»Hi, Bill. Kann ich mit dir reden?«
»Klar.« Er schlug die Zeitung zu und legte sie sorgfältig zusammen. »Gestern haben sie meinen alten Freund Bob Polhurst doch noch ins Krankenhaus gebracht.«
»Ja? Ich dachte, du hättest schon viel früher damit gerechnet.«
»Hab ich. Haben alle. Er hat uns an der Nase herumgeführt. Tatsächlich schien sich sein Zustand zu verbessern – jedenfalls was die Lungenentzündung betrifft -, aber dann hatte er einen Rückfall. Gestern hatte er einen Atemstillstand, und seine Nichte dachte, er würde sterben, bevor der Krankenwagen eintrifft. Aber er hat es geschafft, und jetzt scheint sein Zustand wieder stabil zu sein.« McGovern sah seufzend auf die Straße. »May Locher tritt mitten in der Nacht ab, und Bob schleppt sich einfach weiter durch. Was für eine Welt, hm?«
»Kann man wohl sagen.«
»Worüber wolltest du reden? Hast du dich endlich entschlossen, Lois einen Antrag zu machen? Brauchst du einen väterlichen Rat, wie du es anfangen sollst?«
»Ich brauche einen Rat, aber nicht wegen meines Liebeslebens.«
»Raus damit«, sagte McGovern gepreßt.
Ralph gehorchte und war mehr als nur ein wenig erleichtert über McGoverns stumme Aufmerksamkeit. Er fing damit an, daß er kurz skizzierte, was Bill schon wußte – der Vorfall mit Ed und dem Lastwagenfahrer im Sommer 1992, seine damaligen Äußerungen, die so sehr mit dem übereinstimmten, was er an dem Tag von sich gab, als er Helen verprügelte, weil sie die Petition unterschrieben hatte. Während Ralph sprach, spürte er deutlicher denn je, daß es Zusammenhänge zwischen den seltsamen Dingen gab, die ihm widerfahren waren, Zusammenhänge, die er fast sehen konnte.
Er erzählte McGovern von den Auren, aber nicht von dem lautlosen Inferno, das er vor nicht mal einer halben Stunde erlebt hatte – soweit wollte er zumindest vorläufig noch nicht gehen. McGovern wußte selbstverständlich von Charlie Pickering und Charlies Angriff auf Ralph, ebenso, daß Ralph ernste Schäden vermieden hatte, indem er die Spraydose einsetzte, die Helen und ihre Freundin ihm gegeben hatten, aber jetzt erzählte Ralph ihm etwas, das er am Sonntag abend verschwiegen hatte, als er McGovern bei einem improvisierten Essen von dem Überfall berichtete: wie die Spraydose wie durch ein Wunder in seiner Jackentasche aufgetaucht war. Nur, gestand er, daß seiner Vermutung nach der alte Dor der Wundertäter gewesen war.
»Ach du Scheiße!« rief McGovern aus. »Du lebst gefährlich, Ralph!«
»Kann sein.«
»Wieviel davon hast du Johnny Leydecker erzählt?«
Sehr wenig, wollte Ralph sagen, aber dann wurde ihm klar, daß selbst das eine Übertreibung gewesen wäre. »Fast nichts«, sagte er. »Und noch etwas habe ich ihm nicht gesagt. Etwas weitaus mehr… nun, weitaus Wichtigeres, schätze ich. Hat damit zu tun, was da oben passiert ist.« Er deutete zu May Lochers Haus, wo gerade zwei blauweiße Kleinbusse vorgefahren waren. MAINE STATE POLICE stand auf den Seiten geschrieben. Ralph vermutete, daß das die Leute von der Spurensicherung waren, die Leydecker erwähnt hatte.
»May?« McGovern beugte sich auf dem Sessel nach vorne. »Weißt du etwas darüber, was May zugestoßen ist?«
»Ich glaube ja.« Ralph, der bedächtig sprach und von Wort zu Wort sprang wie ein Mann, der einen gefährlichen Wildbach auf Steinen überquert, schilderte McGovern, wie er aufgewacht, ins Wohnzimmer gegangen war und die beiden Männer aus May Lochers Haus hatte kommen sehen. Er berichtete von seiner erfolgreichen Suche nach dem Fernglas und erzählte McGovern von der Schere, die einer der beiden bei sich gehabt hatte. Er erwähnte nicht seinen Alptraum von Carolyn oder die leuchtenden Spuren, und ganz sicher nicht seinen nachträglichen Eindruck, als wären die beiden Männer einfach durch die Tür gegangen; damit hätte er sich auch noch den letzten Rest Glaubwürdigkeit kaputt gemacht, den er noch besitzen mochte. Er kam mit seinem anonymen Anruf bei 911 zum Ende, dann saß er stumm in seinem Sessel und sah McGovern ängstlich an.
McGovern schüttelte den Kopf, als müßte er sein Denken klären. »Auren, Orakel, geheimnisvolle Einbrecher mit Scheren… du lebst wirklich gefährlich.«
»Was meinst du, Bill?«
McGovern schwieg einige Augenblicke. Er hatte die Zeitung zusammengerollt, während Ralph erzählt hatte, und nun klopfte er sich geistesabwesend damit ans Bein. Ralph verspürte den Drang, seine Frage noch unverhohlener zu stellen – Hältst du mich für verrückt, Bill? -, ließ es aber bleiben. Glaubte er wirklich, daß jemand darauf eine ehrliche Antwort gab – wenn man ihm vorher nicht eine gehörige Spritze Natriumpentathol verpaßt hatte? Daß Bill sagen würde: Na klar, Ralphie, ich finde, du bist so verrückt wie eine Bettwanze, also warum rufen wir nicht gleich in Juniper HUI an und fragen, ob Sie ein Zimmer für dich frei haben? Unwahrscheinlich… und da eine Antwort von Bill nicht viel besagen würde, war es besser, die Frage zu vergessen.
Was sich als ungemein schwierig erwies.
»Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll«, sagte Bill schließlich. »Jedenfalls noch nicht. Wie haben sie ausgesehen?«
»Ihre Gesichter waren selbst mit dem Fernglas schwer zu erkennen«, sagte Ralph. Seine Stimme klang so fest wie gestern, als er bestritten hatte, den Notruf getätigt zu haben.
»Wahrscheinlich hast du auch keine Ahnung, wie alt sie waren?«
»Nein.«
»Könnte einer von ihnen unser alter Freund aus dieser Straße gewesen sein?«
»Ed Deepneau?« Ralph sah McGovern überrascht an. »Nein, Ed war nicht dabei.«
»Was ist mit Pickering?«
»Nein. Ed nicht. Charlie Pickering auch nicht. Die hätte ich beide erkannt. Worauf willst du hinaus? Daß mein Unterbewußtsein einfach die beiden Typen auf May Lochers Veranda gezaubert hat, die mir in den letzten Monaten den größten Streß gemacht haben?«
»Selbstverständlich nicht«, antwortete McGovern, aber das konstante Tap-tap-tap der Zeitung an seinem Bein hörte auf, und seine Augen flackerten. Ralph spürte ein Ziehen in der Magengrube. Ja; genau darauf hatte McGovern hinausgewollt, und eigentlich war das gar nicht so überraschend, oder?
Vielleicht nicht, aber das änderte nichts an dem Gefühl in seiner Magengrube.
»Und Johnny hat gesagt, alle Türen waren abgeschlossen?«
»Ja.«
»Von innen.«
»Hm-hmm, aber -«
McGovern stand so schnell von seinem Stuhl auf, daß Ralph einen irren Augenblick lang glaubte, er würde weglaufen und unterwegs möglicherweise schreien: Hütet euch vor Roberts! Er hat den Verstand verloren! Aber statt die Treppe hinunterzuspringen, drehte er sich zur Haustür um. Das fand Ralph in gewisser Weise noch beunruhigender.
»Was hast du vor?«
»Larry Perrault anrufen«, sagte McGovern. »Mays jüngeren Bruder. Er wohnt noch in Cardville. Ich denke, sie wird in Cardville begraben werden.« McGovern sah Ralph seltsam nachdenklich an. »Was hast du denn gedacht?«
»Ich weiß nicht«, sagte Ralph nervös. »Einen Moment dachte ich, du würdest weglaufen wie der Pfefferkuchenmann.«
»Nee.« McGovern streckte eine Hand aus und klopfte ihm auf die Schulter, aber Ralph kam die Geste kalt und trostlos vor. Oberflächlich.
»Was hat Mrs. Lochers Bruder damit zu tun?«
»Johnny hat gesagt, sie haben Mays Leichnam zu einer gründlicheren Autopsie nach Augusta geschickt, richtig?«
»Nun, ich glaube, tatsächlich hat er den Ausdruck pathologisch«
McGovern winkte ab. »Glaub mir, das ist dasselbe. Wenn sich etwas Merkwürdiges herausstellen sollte – das darauf hindeutet, daß sie ermordet worden ist -, dann müßte Larry informiert worden sein. Er ist der einzige lebende Verwandte in der Nähe.«
»Aber wird er sich nicht fragen, warum dich das interessiert?«
»Oh, darüber müssen wir uns keine Gedanken machen«, sagte McGovern. »Ich werde ihm sagen, die Polizei hat das Haus versiegelt und die Gerüchteküche der Harris Avenue brodelt. Er weiß, daß May und ich Schulfreunde waren und ich sie in den letzten Jahren regelmäßig besucht habe. Larry und ich sind keine Busenfreunde, aber wir kommen ganz gut miteinander aus. Er wird mir sagen, was ich wissen will, und sei es nur, weil wir beide Überlebende von Cardville sind. Alles klar?«
»Ich schätze schon, aber -«
»Ich hoffe es«, sagte McGovern, und plötzlich sah er wie ein sehr altes und sehr häßliches Reptil aus – ein Gilamonster oder womöglich ein Basilisk. Er deutete mit einem Finger auf Ralph. »Ich bin nicht dumm, und ich weiß, wie man ein Geheimnis bewahrt. Dein Gesicht hat gerade gesagt, daß du dir da nicht so sicher bist, und das gefällt mir nicht. Das gefällt mir überhaupt nicht.«
»Tut mir leid«, sagte Ralph. McGoverns Ausbruch hatte ihn verblüfft.
McGovern sah ihn noch einen Moment mit gefletschten Zähnen seines zu großen Gebisses an, dann nickte er. »Okay, ja, Entschuldigung akzeptiert. Du hast beschissen geschlafen, das muß ich in die Gleichung mit einbeziehen, und was mich betrifft, ich bekomme Bob Polhuf st nicht aus dem Kopf.« Er stieß einen seiner tiefsten Armer-alter-Bill-Stoßseufzer aus. »Hör zu, wenn es dir lieber wäre, daß ich Mays Bruder nicht anrufe -«
»Nein, nein«, sagte Ralph und dachte sich, daß er am liebsten die Uhr zehn Minuten zurückdrehen und die ganze Unterhaltung ungeschehen machen würde. Und dann fiel ihm eine Floskel ein, die Bill McGovern bestimmt gefallen würde, voll ausgebildet und gebrauchsfertig. »Tut mir leid, wenn ich an deiner Diskretion gezweifelt habe.«
McGovern lächelte, anfangs zögernd, aber dann über das ganze Gesicht. »Jetzt weiß ich, was dich wachhält – daß du dir so einen Mist ausdenkst. Bleib still sitzen, Ralph, und denk etwas Gutes über ein Nilpferd, wie meine Mutter immer zu sagen pflegte. Bin gleich wieder da. Wahrscheinlich erwische ich ihn nicht mal; du weißt schon, Beerdigungsvorbereitungen und so weiter. Möchtest du in die Zeitung sehen, während du wartest?«
»Klar. Danke.«
McGovern gab ihm die Zeitung, die immer noch die Röhrenform besaß, in die er sie gerollt hatte, dann ging er hinein. Ralph studierte die erste Seite. Die Schlagzeile lautete: ABTREIBUNGSBEFÜRWORTER UND GEGNER SIND BEREIT FÜR DIE ANKUNFT DER AKTIVISTIN. Die Story wurde von zwei Fotos illustriert. Eines zeigte ein halbes Dutzend junge Frauen mit Transparenten, auf denen Sprüche standen wie: UNSERE KÖRPER, UNSERE ENTSCHEIDUNG und EIN NEUER TAG BRICHT AN IN DERRY! Das andere zeigte Demonstranten, die vor Woman-Care marschierten. Sie trugen keine Schilder und brauchten auch keine; die schwarzen Gewänder mit Kapuzen und die Sensen, die sie trugen, sagten alles.
Ralph stieß einen Seufzer aus, warf die Zeitung auf den Schaukelstuhl neben sich und sah zu, wie sich der Dienstagvormittag in der Harris Avenue entfaltete. Ihm kam der Gedanke, daß McGovern auch mit John Leydecker telefonieren könnte, statt mit Larry Perrault, und die beiden vielleicht gerade eine kleine Lehrer-Schüler-Konferenz über den verrückten, alten, schlaflosen Ralph Roberts führten.
Ich dachte mir, du möchtest vielleicht wissen, wer den Notruf bei 911 wirklich gemacht hat, Johnny.
Danke, Prof. Wir waren sowieso ziemlich sicher, aber es ist schön, daß wir eine Bestätigung haben. Ich denke, daß er harmlos ist. Irgendwie mag ich ihn sogar.
Ralph verdrängte Spekulationen darüber, mit wem Bill telefonierte und mit wem nicht. Es war leichter, einfach hier zu sitzen und gar nicht zu denken, nicht einmal etwas Gutes über ein Nilpferd. Es war leichter, dem Lastwagen von Budweiser zuzusehen, der auf den Parkplatz des Red Apple fuhr und anhielt, um den Truck von Magazines Incorporated vorbeizulassen, der seine wöchentliche Ration von Sensationsblättern, Zeitschriften und Taschenbüchern abgeladen hatte und gerade wegfuhr. Es war leichter, die alte Harriet Bennigan zu beobachten, neben der sich Mrs. Perrine wie ein junges Mädchen ausnahm, wie sie in ihrem hellroten Herbstmantel und auf den Gehstock gestützt ihren morgendlichen schlurfenden Spaziergang machte. Es war leichter, dem jungen Mädchen in Jeans, einem weiten weißen T-Shirt und einem Herrenhut, der vier Nummern zu groß für sie war, dabei zuzusehen, wie sie auf dem unkrautüberwucherten Brachgrundstück zwischen Frank’s Bäckerei und Vicky Moons Kosmetikstudio (Körperpackungen sind unsere Spezialität) seilhüpfte. Es war leichter, die kleinen Hände des Mädchens auf und ab wippen zu sehen. Leichter, ihr zuzuhören, wie sie ihren endlosen Schüttelreim sang.
Drei-sechs-neun, die Gans trank Wein…
Ein entlegener Teil von Ralphs Verstand stellte mit großem Erstaunen fest, daß er kurz vor dem Einschlafen war, während er hier auf der Veranda saß. Gleichzeitig stahlen sich die Auren wieder in die Welt und erfüllten sie mit wundersamen Farben und Bewegungen. Es war herrlich, aber…
… aber etwas stimmte nicht damit. Etwas. Aber was?
Das Mädchen auf dem Brachgrundstück. Sie stimmte nicht. Ihre jeansbekleideten Beine hämmerten auf und ab wie eine Nähmaschine. Ihr Schatten hüpfte neben ihr auf dem bruchstückhaften Pflaster einer uralten, von Unkraut und Sonnenblumen überwucherten Gasse. Das Seil peitschte auf und ab… rings herum… auf und ab und rings herum…
Und auch kein weites T-Shirt, da hatte er sich geirrt. Die Gestalt trug einen Kittel. Einen weißen Kittel, wie sie die Schauspieler in den alten Arztserien im Fernsehen getragen hatten.
Drei-sechs-neun, die Gans trank Wein,
Der Affe wollte Schaffner in der Straßenbahn sein…
Eine Wolke verdeckte die Sonne, ein häßliches grünes Licht segelte durch den Tag und trieb ihn unter Wasser. Ralph wurde zuerst kalt, dann bekam er eine Gänsehaut. Der hüpfende Schatten des Mädchens verschwand. Sie sah zu Ralph herüber und war überhaupt kein kleines Mädchen mehr. Die Kreatur, die ihn ansah, war ein etwa einen Meter zwanzig großer Mann. Ralph hatte das Gesicht im Schatten des Huts anfänglich für das eines Kindes gehalten, weil es völlig glatt war, nicht von einer einzigen Falte durchzogen. Und dennoch vermittelte es Ralph einen eindeutigen Eindruck – ein Gefühl des Bösen, des Boshaften, wie es ein geistig gesunder Verstand nicht mehr begreifen konnte.
Das ist es, dachte Ralph benommen, während er die hüpfende Kreatur ansah. Genau das ist es. Was immer das Ding da drüben ist, es ist wahnsinnig. Völlig wahnsinnig.
Möglicherweise hatte die Kreatur Ralphs Gedanken gelesen, denn in diesem Augenblick verzerrte sie die Lippen zu einem Grinsen, das schüchtern und gemein zugleich war, als würden sie beide ein finsteres Geheimnis teilen. Und er war sicher-ja, ziemlich sicher, fast überzeugt-, daß sie irgendwie trotz dieses Grinsens sang, ohne die Lippen im geringsten zu bewegen.
[Die Bahn geriet in NOT! Der Affe war gleich TOT! Die ändern starben alle in ‘nem RuderBOOT!]
Ralph war ganz sicher, daß dies keiner der kleinen Ärzte war, die er aus dem Haus von May Locher hatte kommen sehen. Möglicherweise mit ihnen verwandt, aber nicht identisch. Es war
Die Kreatur warf das Sprungseil weg. Das Seil wurde zuerst gelb, dann rot, und es schien Funken zu sprühen, als es durch die Luft flog. Die kleine Gestalt – Doc Nr. 3 – sah Ralph grinsend an, und da wurde Ralph noch etwas klar, das ihn mit Grauen erfüllte. Jetzt endlich erkannte er, was die Kreatur auf dem Kopf trug.
Es war Bill McGoverns verschwundener Panamahut.
Wieder war es, als hätte die Kreatur seine Gedanken gelesen. Sie zog den Hut vom Kopf, entblößte den runden, haarlosen Schädel darunter und schwenkte McGoverns Panama in der Luft wie ein Cowboy auf einem bockenden Hengst. Während sie mit dem Hut winkte, verschwand das unsägliche Grinsen nicht einmal.
Plötzlich zeigte sie auf Ralph, als wollte sie ihn markieren. Dann setzte sie den Hut wieder auf und verschwand in der schmalen, unkrautüberwucherten Öffnung zwischen dem Sonnenstudio und der Bäckerei. Die Sonne kam hinter der Wolke hervor, die sie verdeckt hatte, und die wabernde Helligkeit der Auren ließ wieder nach. Einen oder zwei Augenblicke nachdem die Kreatur verschwunden war, lag wieder nur die Harris Avenue vor Ralph
– die alte, langweilige Harris Avenue, wie immer.
Ralph holte zitternd Luft und dachte an den Wahnsinn, den das kleine, grinsende Gesicht ausgedrückt hatte. Und er erinnerte sich daran, wie das Wesen auf ihn gedeutet hatte (der Affe war gleich TOT) als wollte es (die ändern starben alle in ‘nem RuderBOOT!) ihn markieren.
»Sag mir, daß ich eingeschlafen bin«, flüsterte er heiser. »Sag mir, daß ich eingeschlafen bin und den kleinen Wichser geträumt hab.«
Aber sein Verstand verweigerte ihm den Trost dieses Gedankens; er brachte statt dessen die Erinnerung an den Anruf von Ed Deepneau letzten Monat an die Oberfläche. Als Ralph ihn fragte, wer ihm von dem Scharlachroten König erzählt hatte, hatte Ed geantwortet, es wäre der kleine kahlköpfige Arzt gewesen. Ich glaube, du wirst es mit ihm zu tun bekommen, wenn du wieder versuchst, dich in meine Angelegenheiten einzumischen, Ralph, hatte Helens zukünftiger Ex-Mann gesagt. Und dann gnade dir Gott.