Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ralph hatte schon die Verandatreppe hinaufgehen wollen, jetzt drehte er sich wieder um. »Hong? Redest du von Hong?«
»Woher soll ich das wissen?« fragte Dorrance mit gereizter Stimme. »Ich mische mich nicht ein, das habe ich dir gesagt. Ab und zu überbringe ich eine Botschaft, das ist alles, so wie jetzt. Ich sollte dir ausrichten, daß du den Termin bei dem Nadelpiekser absagen sollst, und das habe ich. Der Rest liegt bei dir.«
Dorrance sah wieder zu den Bäumen auf der anderen Straßenseite, und sein seltsames, glattes Gesicht nahm einen Ausdruck sanfter Ekstase an. Der kräftige Herbstwind zerzauste ihm das Haar wie Tang. Als Ralph ihn an der Schulter berührte, drehte sich der alte Mann bereitwillig um, und Ralph wurde plötzlich klar: Was Faye Chapin und die anderen als Senilität betrachteten, könnte in Wirklichkeit Freude sein. Wenn ja, sagte der Irrtum wahrscheinlich mehr über sie aus als über den alten Dor.
»Dorrance?«
»Was, Ralph?«
»Diese Botschaft – wer hat sie dir gegeben?«
Dorrance dachte darüber nach – vielleicht sah es auch nur so aus, als würde er darüber nachdenken -, dann hielt er ihm seine Ausgabe von Cemetery Nights hin. »Nimm.«
»Nein, ich passe«, sagte Ralph. »Ich mag Gedichte nicht besonders, Dor.«
»Die hier werden dir gefallen. Sie sind wie Geschichten…«
Ralph unterdrückte das starke Bedürfnis, den alten Mann zu packen und zu schütteln, bis seine Knochen wie Kastagnetten klapperten. »Ich hab mir gerade zwei Western in der Stadt gekauft, im Back Pages. Ich wollte wissen, wer dir die Botschaft gegeben hat -«
Dorrance drückte Ralph den Gedichtband mit überraschender Kraft in die rechte Hand – die Western hielt dieser in der linken. »Eines fängt an: >Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann.<«
Und bevor Ralph noch ein Wort sagen konnte, ging der alte Dor über den Rasen zum Bürgersteig. Er wandte sich nach links zur Extension und wandte das Gesicht verträumt zum blauen Himmel, wo die Blätter ungestüm verwehten, als erwartete sie ein Rendezvous hinter dem Horizont.
»Dorrance!« schrie Ralph plötzlich wütend. Auf der anderen Straßenseite, vor dem Red Apple, fegte Sue Laub vom Boden vor der Eingangstür. Als sie Ralphs Stimme hörte, hielt sie inne und sah neugierig über die Straße. Ralph, der sich dumm vorkam – der sich alt vorkam -, brachte ein, wie er hoffte, breites, fröhliches Grinsen zustande und winkte ihr zu. Sue winkte zurück und fegte weiter. Derweil war Dorrance geistesabwesend seines Weges gegangen. Er war schon fast einen halben Block weit weg.
Ralph beschloß, ihn gehen zu lassen.
Er ging die Stufen zur Veranda hinauf, nahm das Buch, das Dorrance ihm gegeben hatte, in die linke Hand, damit er nach dem Schlüsselbund suchen konnte, und sah, daß er sich die Mühe sparen konnte – die Tür war nicht nur unabgeschlossen, sie stand einen Spalt offen. Ralph hatte schon mehrfach mit McGovern wegen seiner Sorglosigkeit geschimpft und gedacht, er hätte die Botschaft endlich in den Dickschädel seines Untermieters hineingehämmert bekommen. Aber jetzt sah es so aus, als hätte McGovern einen Rückfall gehabt.
»Verdammt, Bill«, sagte er schnaufend, betrat die dunkle Diele und sah nervös die Treppe hinauf. Er konnte sich nur zu leicht vorstellen, daß Ed Deepneau da oben lauern würde, hellichter Tag hin oder her. Dennoch konnte er nicht den ganzen Tag hier in der Diele bleiben. Er ließ den Riegel der Eingangstür einrasten und ging hinauf.
Selbstverständlich hätte er sich keine Sorgen machen müssen.
Er erlebte eine Schrecksekunde, als er jemand gegenüber in der Ecke des Wohnzimmers stehen sah, aber es war nur seine alte graue Jacke. Er hatte sie zur Abwechslung tatsächlich einmal auf den Kleiderständer gehängt, statt sie einfach über die Stuhllehne oder die Armlehne des Sofas zu werfen; kein Wunder, daß er erschrocken war.
Er ging in die Küche und betrachtete mit den Händen in den Hosentaschen den Kalender. Montag war eingekreist, und im Inneren des Kreises stand gekritzelt: HONG -10:00.
Ich sollte dir ausrichten, daß du den Termin bei dem Nadelpiekser absagen sollst, und das habe ich. Der Rest liegt bei dir.
Einen Augenblick war es Ralph möglich, aus seinem Leben herauszutreten und den letzten Abschnitt des Freskos zu betrachten, nicht nur den winzigen Ausschnitt des heutigen Tages. Was er sah, versetzte ihn in Angst: eine unbekannte Straße, die in einen dunklen Tunnel führte, wo alles lauern konnte. Einfach alles.
Dann dreh um, Ralph!
Aber er hatte eine Ahnung, daß ihm das nicht möglich sein würde. Er hatte eine Ahnung, daß er für diesen Tunnel bestimmt war, ob es ihm gefiel oder nicht. Es war ein Gefühl, als würde er nicht hineingeführt, sondern von kräftigen, unsichtbaren Händen vorwärtsgeschoben werden.
»Vergiß es«, murmelte er, rieb sich die Schläfen nervös mit den Fingerspitzen und betrachtete weiter den markierten Termin übermorgen – auf dem Kalender. »Es liegt an der Schlaflosigkeit. Da hat wirklich alles angefangen, zu…«
Wirklich angefangen zu was?
»Unheimlich zu werden«, sagte er in die verlassene Wohnung. »Da hat wirklich alles angefangen, unheimlich zu werden.«
Ja, unheimlich. Eine Menge Unheimliches, aber die Auren, die er sah, waren eindeutig das Unheimlichste. Kaltes graues Licht es hatte wie lebendiger Frost ausgesehen – kroch über den Mann, der im Day Break, Sun Down Zeitung las. Mutter und Sohn, die in den Supermarkt gingen, hatten ineinander verschlungene Auren, die wie Zöpfe von ihren Händen aufstiegen, an denen sie sich hielten. Helen und Nat inmitten einer strahlenden Wolke elfenbeinfarbenen Lichts; Natalie, die nach den geisterhaften Kondensstreifen griff, die seine Finger hinterließen und die nur sie beide sehen konnten.
Und jetzt der alte Dor, der auf seiner Türschwelle erschien wie ein absonderlicher Prophet aus dem Alten Testament… aber statt ihn aufzufordern, seine Sünden zu bereuen, hatte Dor ihm mitgeteilt, er solle seinen Termin bei dem Akupunkteur absagen, den ihm Joe Wyzer empfohlen hatte. Das hätte komisch sein müssen, war es aber nicht.
Der Schlund des Tunnels. Jeden Tag ein Stück näher. Gab es wirklich einen Tunnel? Und wenn ja, wohin führte er?
Mich interessiert mehr, was mich da drinnen erwarten könnte, dachte Ralph. Im Dunkeln.
Du hättest dich nicht einmischen sollen, hatte Dorrance gesagt. Wie dem auch sei, jetzt ist es zu spät.
»Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen«, murmelte Ralph, und plötzlich beschloß er, daß er das größere Panorama nicht mehr sehen wollte; es war beängstigend. Es war besser, wieder hineinzutreten und sich eine Einzelheit nach der anderen zu betrachten, angefangen mit dem Termin für die Akupunkturbehandlung. Würde er den Termin wahrnehmen oder dem Rat von Dor, alias dem Geist von Hamlets Vater, folgen?
Das war eine Frage, die nicht besonders viel Nachdenken erforderte, fand Ralph. Joe Wyzer hatte Hongs Sekretärin dazu überredet, ihm einen Termin Anfang Oktober freizumachen, und Ralph hatte vor, ihn einzuhalten. Wenn es einen Ausweg aus diesem Dickicht gab, dann wahrscheinlich den, endlich wieder die Nacht durchzuschlafen. Und dafür war Hong der nächste logische Schritt.
»Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen«, wiederholte er und ging ins Wohnzimmer, um einen seiner Western zu lesen.
Statt dessen blätterte er den Gedichtband cLirch, den Dorrance ihm gegeben hatte – Cemetery Nights von Stephen Dobbyns. Dorrance hatte in beiden Fällen recht gehabt: die Mehrzahl der Gedichte waren wie Geschichten, und Ralph stellte darüber hinaus fest, daß sie ihm wirklich gut gefielen. Das Gedicht, aus dem Dor zitiert hatte, trug den Titel »Pursuit« und begann folgendermaßen:
Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann. So verstreichen die Tage… Verschmelzung von Autorennen und dem endlosen Bau einer gotischen Kathedrale. Durch die Fenster meines rasenden Autos sehe ich zurückbleiben, was ich liebe; nichtgelesene Bücher, nichterzählte Witze, nichtbesuchte Landschaften…
Ralph las das Gedicht völlig gefesselt zweimal und überlegte sich, daß er es Carolyn vorlesen müßte. Carolyn würde es gefallen, und noch mehr würde ihr gefallen, daß er, der sonst nur Western und historische Romane las, es gefunden und zu ihr gebracht hatte wie einen Blumenstrauß. Er war schon aufgestanden und suchte einen Fetzen Papier, um die Stelle zu markieren, als ihm einfiel, daß Carolyn schon seit einem halben Jahr tot war, und er fing an zu weinen. Er saß fast fünfzehn Minuten im Ohrensessel, hielt Cemetery Nights auf dem Schoß und wischte sich die Augen mit der linken Hand ab. Schließlich ging er ins Schlafzimmer, legte sich hin und versuchte zu schlafen. Nachdem er eine Stunde die Decke angestarrt hatte, stand er wieder auf, machte sich eine Tasse Kaffee und sah sich ein Collegefootballspiel im Fernsehen an.
Die öffentliche Bibliothek hatte Sonntagnachmittags von eins bis sechs geöffnet, und am Tag nach Dorrance’ Besuch ging Ralph hauptsächlich deshalb dorthin, weil er nichts Besseres zu tun hatte. Normalerweise hätten sich im Lesesaal mit seiner hohen Decke eine ganze Anzahl älterer Männer wie er selbst aufhalten müssen, die die verschiedenen Sonntagszeitungen durchblätterten, für deren Lektüre sie jetzt Zeit hatten, aber als Ralph aus den Regalreihen zurückkehrte, in denen er vierzig Minuten herumgestöbert hatte, stellte er fest, daß er den ganzen Raum für sich allein hatte. Der strahlend blaue Himmel von gestern war einem Dauerregen gewichen, der die frisch gefallenen Blätter auf den Bürgersteigen festklebte oder in die Rinnsteine und in das eigentümliche und unheimlich labyrinthartige Abwassersystem von Derry spülte. Der Wind wehte nach wie vor, hatte aber auf Nord gedreht und eine beißende Schärfe angenommen. Alte Leute mit Verstand (oder Glück) waren zu Hause, wo sie im Warmen sitzen konnten, sahen sich möglicherweise das letzte Spiel einer neuerlich enttäuschenden Saison der Red Sox an, spielten möglicherweise Old Maid oder Candyland mit den Enkeln oder machten möglicherweise nach einer üppigen Hähnchenmahlzeit ein Nickerchen.
Ralph dagegen interessierte sich nicht für die Red Sox, hatte keine Kinder oder Enkel und schien jede Fähigkeit für ein Nickerchen, die er einmal gehabt haben mochte, verloren zu haben. Daher war er mit dem Green Route Bus um dreizehn Uhr zur Bibliothek gefahren, und da war er nun und wünschte sich, er hätte etwas Dickeres als seine alte graue Jacke angezogenes war bitter kalt im Lesesaal. Und düster. Der Kamin war ausgeräumt, und die stummen Heizkörper wiesen deutlich darauf hin, daß die Zentralheizung noch nicht angestellt worden war. Und der Sonntagsbibliothekar hatte sich auch nicht die Mühe gemacht, die Kugeln der Deckenbeleuchtung einzuschalten. Das bißchen Licht, das den Weg von draußen herein fand, schien tot auf den Boden zu fallen, und in den Ecken ballten sich die Schatten. Die Holzfäller und Soldaten und Trommler und Indianer auf den alten Gemälden an den Wänden sahen wie böse Geister aus. Kalter Regen seufzte und prasselte gegen das Fenster.
Ich hätte zu Hause bleiben sollen, dachte Ralph, glaubte es aber selbst nicht; dieser Tage war es noch schlimmer in seinem Apartment. Außerdem hatte er ein interessantes neues Buch in der – wie er sie neuerdings bezeichnete -Sandmännchenabteilung entdeckt: Patterns of Dreaming, von Dr. James A. Hall. Er schaltete die Deckenbeleuchtung selbst ein, was den Raum geringfügig weniger trostlos aussehen ließ, setzte sich an einen der vier langen, leeren Tische und war bald in seine Lektüre versunken.
Vor der Erkenntnis, daß REM-Schlaf und NREM-Schlaf verschiedene Stadien sind, schrieb Hall, führten Studien über Entzug eines bestimmten Schlafstadiums zu Dements Theorie (1960), wonach dieser Entzug… zur Desorganisation der wachen Persönlichkeitführt…
Mann, damit hast du aber recht, mein Freund, dachte Ralph. Man kann nicht mal eine Scheißpackung Cup-A-Soup finden, wenn man eine sucht.
… frühe Studien über Traumentzug führten auch zu der aufregenden Spekulation, daß es sich bei Schizophrenie um eine Störung handeln könnte, bei der Entzug des nächtlichen Träumens zu einem Durchbruch des Traumprozesses ins alltägliche wache Leben handeln könnte.
Ralph hatte die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, die geballten Fäuste an die Schläfen gestützt und kauerte mit gerunzelter Stirn und konzentriert zusammengezogenen Brauen über dem Buch. Er fragte sich, ob Hall, möglicherweise ohne es zu wissen, von den Auren sprach. Aber er hatte doch noch Träume, verdammt – und größtenteils ziemlich deutliche. Erst gestern hatte er einen gehabt, in dem er mit Lois Chasse im alten Derry-Pavillon getanzt hatte (der nicht mehr existierte; er war bei dem großen Sturm vor acht Jahren vernichtet worden, der den größten Teil der Innenstadt dem Erdboden gleichgemacht hatte). Er schien sie mit der Absicht ausgeführt zu haben, ihr einen Antrag zu machen, aber ausgerechnet Trigger Vachon hatte dauernd versucht, sich dazwischenzudrängen.
Er rieb sich die Augen mit den Knöcheln, versuchte, sich zu konzentrieren, und las weiter. Er sah nicht, wie der Mann im ausgebeulten grauen Sweatshirt in der Tür des Lesesaals auftauchte, dort stehenblieb und ihn stumm beobachtete. Nach etwa drei Minuten griff der Mann unter sein Sweatshirt (Charlie Browns Hund Snoopy war mit seiner Joe-Cool-Sonnenbrille darauf abgebildet) und zog ein Jagdmesser aus der Scheide an seinem Gürtel. Die hängenden, kugelförmigen Deckenlampen warfen einen Lichtstrahl an der gezackten Schneide des Messers entlang, als der Mann es herumdrehte und die Schnittkante bewunderte. Dann ging er zu dem Tisch, wo Ralph mit auf die Hände gestütztem Kopf saß. Er setzte sich neben Ralph, der nur ganz am Rande mitbekam, daß jemand gekommen war.
Toleranz gegenüber Schlafverlust variiert etwas mit dem Alter der Testperson. Jüngere Testpersonen zeigen einen früheren Beginn von Störungen und mehr körperliche Reaktionen, während ältere Testpersonen -
Eine Hand legte sich sanft auf Ralphs Schulter und ließ ihn von dem Buch hochschrecken.
»Ich frage mich, wie sie aussehen?« flüsterte ihm eine ekstatische Stimme ins Ohr, und mit den Worten kam ein Schwall Atemluft, die wie verdorbener Speck roch, der langsam in einer Pfanne voll Knoblauch und ranziger Butter schmort. »Deine Eingeweide, meine ich. Ich frage mich, wie sie aussehen, wenn ich sie auf den Boden quellen lasse. Was meinst du dazu, du gottloser babytötender Zenturio? Glaubst du sie sind gelb oder schwarz oder rot oder was?«
Etwas Hartes und Scharfes wurde an Ralphs linke Seite gepreßt und strich dann langsam an den Rippen entlang.
»Ich kann es kaum erwarten, bis ich es herausfinde«, flüsterte die ekstatische Stimme. »Ich kann es kaum erwarten.«
Ralph drehte ganz langsam den Kopf herum und hörte die Sehnen in seinem Hals knacken. Er kannte den Namen des Mannes mit dem üblen Mundgeruch nicht, der ihm etwas in die Seite bohrte, das sich so sehr nach einem Messer anfühlte, daß es unmöglich etwas anderes sein konnte – aber er erkannte ihn trotzdem auf der Stelle. Die Hornbrille trug ihren Teil dazu bei, aber das störrische graue Haar, das zerzaust in die Höhe stand und Ralph gleichzeitig an Don King und Albert Einstein erinnerte, gab den Ausschlag. Es war der Mann, der auf dem Bild in der Zeitung, das Harn Davenport mit erhobener Faust und Dan Dalton mit Davenports Schild FREIE ENTSCHEIDUNG STATT ANGST als Hut zeigte, neben Ed Deepneau im Hintergrund gestanden hatte. Ralph glaubte, daß er den Mann auch in einigen Fernsehberichten über die anhaltenden Abtreibungsdemonstrationen gesehen hatte. Eines von vielen Gesichtern in der singenden, Parolen schwenkenden Menge; ein weiterer Speerträger. Nur sah es jetzt so aus, als hätte dieser spezielle Speerträger die Absicht, ihn zu töten.
»Was meinst du?« fragte der Mann im Snoopy-Sweatshirt immer noch ekstatisch flüsternd. Der Klang seiner Stimme ängstigte Ralph mehr als die Klinge, die langsam an seiner Lederjacke hinauf und hinab glitt und die verwundbaren Organe an der linken Seite seines Körpers zu vermessen schien: Lunge, Herz, Nieren. Därme. »Was für eine Farbe?«
Sein Atem war ekelerregend, aber Ralph hatte Angst, sich wegzudrücken oder den Kopf zu drehen, da er befürchtete, jede Bewegung seinerseits könnte das Messer veranlassen, seine Suche einzustellen und zuzustoßen. Jetzt glitt es wieder an seiner Seite hinauf. Die braunen Augen des Mannes schwebten hinter den dicken Gläsern seiner Hornbrille wie seltsame Fische. Der Ausdruck darin war geistesabwesend und irgendwie ängstlich, fand Ralph. Die Augen eines Mannes, der Zeichen am Himmel sieht und vielleicht tief in der Nacht
Stimmen aus dem Schrank flüstern hört.
»Ich weiß nicht«, sagte Ralph. »Ich weiß nicht einmal, warum Sie mir überhaupt wehtun wollen.« Er warf schnelle Blicke nach links und rechts, ohne den Kopf zu drehen, und hoffte, er würde jemanden sehen, irgend jemanden, aber der Lesesaal blieb verlassen. Draußen wehte der Wind in Böen und heulte gegen die Fenster.
»Weil du ein Scheißzenturio bist!« spie der grauhaarige Mann heraus. »Ein elender Babymörder! Du stiehlst ungeborene Embryos! Verkaufst sie an den Höchstbietenden! Ich weiß alles über dich!«
Ralph ließ die rechte Hand langsam vom Kopf sinken. Er war Rechtshänder, daher wanderte alles, was er im Lauf des Tages aufhob, normalerweise in die rechte Tasche der Jacke, die er trug. Die alte graue Lederjacke hatte große, aufgenähte Taschen, aber er fürchtete, selbst wenn er unbemerkt die Hand hätte hineinschieben können, hätte er schwerlich etwas Tödlicheres als ein zusammengeknülltes Schokoriegelpapier gefunden. Er bezweifelte, daß er auch nur eine Nagelschere dabei hatte.
»Das hat Ed Deepneau Ihnen erzählt, richtig?« fragte Ralph und grunzte, als sich das Messer unterhalb der Stelle, wo die Rippen aufhörten, schmerzhaft in seine Seite bohrte.
»Sprich seinen Namen nicht aus«, flüsterte der Mann im Snoopy-Sweatshirt. »Wage es nicht, seinen Namen auszusprechen! Babydieb! Feiger Mörder! Zenturio!« Er stieß wieder mit dem Messer zu, und diesmal verspürte Ralph echte Schmerzen, als die Spitze durch die Lederjacke drang. Ralph glaubte nicht, daß er eine Schnittwunde hatte – jedenfalls noch nicht -, aber er war überzeugt, der Irre hatte bereits soviel Druck ausgeübt, daß ein häßlicher Bluterguß entstehen würde. Aber das war nicht weiter schlimm; er konnte sich glücklich schätzen, wenn er dies nur mit einem Bluterguß überstand.
»Okay«, sagte er. »Ich werde seinen Namen nicht erwähnen.«
»Sag, daß es dir leid tut!« zischte der Mann mit dem Snoopy-Sweatshirt und stieß wieder mit dem Messer zu. Diesmal drang es durch Ralphs Hemd, und er spürte das erste warme Rinnsal Blut an der Seite. Was ist gerade unter dieser Messerspitze? fragte er sich. Leber? Gallenblase? Was ist auf der linken Seite?
Er konnte sich entweder nicht erinnern oder wollte es nicht. Ein Bild war ihm in den Sinn gekommen, das zu einem organisierten Gedanken werden wollte – ein Hirsch, der während der Jagdzeit kopfunter am Haken eines Country Store hing. Glasige Augen, hängende Zunge und ein dunkler Schnitt am Bauch, wo ein Mann mit einem Messer – einem Messer wie diesem hier ihn aufgeschlitzt, die Innereien herausgezogen und lediglich Kopf, Fleisch und Decke übriggelassen hatte.
»Es tut nur leid«, sagte Ralph mit einer Stimme, die nicht mehr fest klang. »Wirklich.«
»Ja, ganz recht! Das sollte es auch, aber es tut dir nicht leid. Nie und nimmer!«
Wieder ein Stoß. Eine grelle Lanze aus Schmerz. Neuerliche nasse Wärme, die an seiner Seite hinunterrann. Und plötzlich wurde es heller in dem Raum, als hätten sich zwei oder drei der Kamerateams, die seit Beginn der Abtreibungsdemonstrationen durch Derry zogen, hier hereingedrängt und die Flutlichter über ihren Videokameras eingeschaltet. Es gab selbstverständlich keine Kameras; das Licht war in seinem Inneren angegangen.
Er drehte sich zu dem Mann mit dem Messer um – dem Mann, der das Messer nun wahrhaftig in ihn bohrte – und stellte fest, daß dieser Mann von einer wabernden grünen und schwarzen Aura umgeben war, bei der Ralph an (Sumpffeuer) die trübe Phosphoreszenz denken mußte, die er manchmal nach Einbruch der Dunkelheit in marschigen Wäldern gesehen hatte. Dornenranken von tiefster Schwärze waren durch sie geflochten. Er betrachtete die Aura seines Angreifers mit zunehmendem Unbehagen und spürte kaum, wie sich die Messerspitze zwei Millimeter tiefer in ihn bohrte. Er merkte am Rande, daß das Blut in seinem Hemd, entlang der Linie des Gürtels, sich allmählich sammelte, aber das war alles.
Er ist verrückt und hat wirklich vor, mich zu töten – das ist nicht nur Gerede. Er ist noch nicht ganz bereit, es zu tun, er hat sich noch nicht in die richtige Stimmung gebracht, aber fast. Und wenn ich wegzulaufen versuche, wenn ich mich auch nur einen Zentimeter von dem Messer entfernen will, das er in mich gebohrt hat – dann wird er es auf der Stelle tun. Ich glaube, er hofft, daß ich mich zu einem Fluchtversuch entschließe… dann kann er sich einreden, daß ich selbst schuld daran bin, daß ich es nicht anders gewollt habe.
»Du und deinesgleichen, oh Mann«, sagte der Mann mit dem zerzausten Haarschopf. »Wir wissen alles über euch.«
Ralphs Hand griff an die rechte Tasche… und ertastete ein großes Etwas darin; er konnte sich nicht erinnern, daß er es da hineingetan hatte. Nicht, daß das viel zu sagen hatte; wenn man sich nicht mehr erinnern konnte, ob die letzten vier Ziffern der Telefonnummer des Kino-Centers 1317 oder 1713 waren, war alles möglich.
»Ihr Typen, oh Mann!« sagte der Mann mit dem wirren Haar. »Oh mann ohmann ohMANN!« Diesmal konnte Ralph die Schmerzen eindeutig spüren, als der Mann mit dem Messer wieder zustach; der Stich ließ ein dünnes rotes Netz über den gesamten seitlichen Brustkorb bis hinauf zum Genick entstehen.
Er stieß ein leises Stöhnen aus und verkrampfte die Hand an der rechten Tasche der Jacke, wo er das Leder über den Gegenstand darin drückte.
»Nicht schreien«, sagte der Mann mit dem wirren Haar in seinem leisen, erregten Flüstern. »Herrgott im Himmel, das solltest du nicht machen!« Seine braunen Augen sahen in Ralphs Gesicht, und die Brillengläser vergrößerten sie so sehr, daß die winzigen Schuppen auf den Wimpern wie Kieselsteine aussahen. Ralph konnte die Aura des Mannes sogar in seinen Augen sehen – sie waberte über die Pupillen wie grüner Rauch über schwarzes Wasser. Die schlangengleichen Ranken, die sich durch das grüne Licht zogen, waren jetzt dicker, ineinander verschlungen, und Ralph begriff, wenn das Messer ganz hineingestoßen würde, wäre der Teil der Persönlichkeit des Mannes, der diese schwarzen Strudel erzeugte, dafür verantwortlich. Das Grün war Verwirrung und Paranoia; das Schwarz war etwas anderes. Etwas (von außen) viel Schlimmeres.
»Nein«, keuchte er. »Nein. Ich werde nicht schreien.«
»Gut. Ich kann dein Herz spüren, weißt du. Durch die Messerklinge bis in die Handfläche. Es muß echt heftig schlagen.« Der Mann fletschte die Zähne zu einem ruckartigen, humorlosen Grinsen. Speichel klebte ihm in den Mundwinkeln. »Vielleicht kippst du einfach um und stirbst an einem Herzanfall, das würde mir die Mühe abnehmen, dich zu töten.« Ein weiterer übelkeiterregender Atemzug strich über Ralph hinweg. »Du bist schrecklich alt.«
Das Blut schien mittlerweile in zwei Strömen an seiner Seite hinabzufließen, vielleicht sogar dreien. Die Schmerzen des bohrenden Messers waren nervtötend – wie der Stachel einer riesigen Biene.
Oder einer Nadel, dachte Ralph und stellte fest, daß diese Vorstellung trotz seiner mißlichen Lage etwas Komisches hatte… oder vielleicht gerade deswegen. Das war der richtige Nadelpiekser; James Roy Hong konnte nur ein blasser Abklatsch davon sein.
Und ich hatte nie die Chance, meinen Termin abzusagen, dachte Ralph. Aber andererseits hatte er eine Ahnung, als würden Irre wie der Mann im Snoopy-Sweatshirt keine Absagen akzeptieren. Irre wie er hatten ihren eigenen Terminplan und hielten sich daran, was immer auch passieren mochte.
Wie auch immer, Ralph wußte, er würde die Messerspitze, die sich in ihn bohrte, nicht mehr lange ertragen können. Er hob mit dem Daumen die Klappe der Tasche hoch und schob die Hand hinein. Er wußte in dem Augenblick, als seine Hand ihn berührte, worum es sich bei dem Gegenstand handelte: die Spraydose, die Gretchen aus der Handtasche geholt und auf den Küchentisch gestellt hatte. Ein kleines Geschenk von Ihren dankbaren Freundinnen bei Woman-Care, hatte sie gesagt.
Ralph hatte keine Ahnung, wie sie von dem Küchenschrank, auf den er sie gestellt hatte, in die Tasche seiner abgeschabten alten Lederjacke gekommen war, und es war ihm auch egal. Er schloß die Hand darum und benutzte wieder den Daumen, diesmal, um den Deckel von der Dose herunterzuschnippen. Dabei ließ er das zuckende, ängstliche, erregte Gesicht des Mannes mit dem wirren Haar nicht aus den Augen.
»Ich weiß etwas«, sagte Ralph. »Wenn Sie mir versprechen, mich nicht zu töten, sage ich es Ihnen.«
»Was?« fragte der Mann mit dem wirren Haar begierig, und jetzt roch sein Atem wie Muschelbänke bei Ebbe. »Himmel Herrgott, was könnte ein Dreckskerl wie du schon wissen?«
Was könnte ein Dreckskerl wie ich schon wissen? fragte Ralph sich, und die Antwort fiel ihm auf der Stelle ein, sie schnellte in sein Gehirn wie die Jackpot-Symbole eines Spielautomaten. Er zwang sich dazu, sich in die grüne Aura des Mannes zu lehnen, in die schreckliche stinkende Wolke seiner nervösen Eingeweide. Gleichzeitig zog er die kleine Dose aus der Tasche, drückte sie an den Schenkel und legte den Zeigefinger auf den Knopf der Spraydüse.
»Ich weiß, wer der Scharlachrote König ist«, murmelte er.
Die Augen hinter der schmutzigen Hornbrille wurden groß nicht nur vor Überraschung, sondern vor Schrecken -, und der Mann mit dem wirren Haar wich ein kleines Stück zurück.
Einen Moment ließ der schreckliche Druck an Ralphs linker Seite nach. Das war seine Chance, die einzige, die er bekommen würde, und er nutzte sie, warf sich nach rechts, fiel vom Stuhl und stürzte zu Boden. Sein Hinterkopf schlug auf den Fliesen auf, aber der Schmerz war fern und unwichtig, verglichen mit der Erleichterung darüber, daß die Messerspitze nicht mehr da war.
Der Mann mit dem wirren Haar quiekte – ein Laut der Wut und Resignation, als hätte er sich im Lauf seines langen und schwierigen Lebens an Rückschläge gewöhnt. Er beugte sich über Ralphs jetzt leeren Stuhl, streckte das verzerrte Gesicht nach vorne, und seine Augen sahen aus wie die phantastischen, leuchtenden Kreaturen, die in den tiefsten Meeresgräben leben. Ralph hob die Spraydose und konnte nur einen Augenblick darüber nachdenken, daß er nicht wußte, in welche Richtung die Spraydüse zeigte – möglicherweise verpaßt er nur sich selbst einen Schwall Bodyguard.
Jetzt hatte er keine Zeit mehr, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Er drückte das Ventil nieder, als der Mann mit dem wirren Haar gerade das Messer hob. Das Gesicht des Mannes wurde von einem Film winziger Tröpfchen eingehüllt, die aussahen, als kämen sie aus dem Luftfrischer mit Pinienduft, den Ralph auf dem Spülkasten der Toilette stehen hatte. Die Gläser seiner Brille beschlugen.
Das Ergebnis stellte sich sofort ein und erfüllte Ralphs kühnste Erwartungen. Der Mann mit dem wirren Haar schrie vor Schmerzen auf, ließ das Messer fallen (es landete auf Ralphs linkem Knie und blieb zwischen seinen Beinen liegen), griff nach seinem Gesicht und riß die Brille herunter. Die landete auf dem Tisch. Gleichzeitig leuchtete die dünne, irgendwie fettige Aura um ihn herum gleißend rot auf und erlosch, jedenfalls für Ralphs Wahrnehmung.
»Ich bin blind!« schrie der Mann mit dem wirren Haar mit hoher, schriller Stimme. »Ich bin Wind! Ich bin blind!«
»Nein, das sind Sie nicht«, sagte Ralph und stand zitternd auf. »Sie sind nur… «
Der Mann mit dem wirren Haar schrie wieder und fiel zu Boden. Er wälzte sich auf dem schwarzweiß gefliesten Boden, preßte die Hände auf das Gesicht und heulte wie ein Kind, das sich eine Hand in der Tür eingeklemmt hat. Ralph konnte kleine Partien seiner Wangen wie Kuchenstücke zwischen den gespreizten Fingern sehen. Die Haut dort nahm einen erschreckend roten Farbton an, als hätte der Mann mit dem wirren Haar zu lange am Strand gelegen und sich einen schlimmen Sonnenbrand geholt.
Ralph sagte sich, daß er den Mann in Ruhe lassen sollte, weil er vollkommen verrückt und gefährlich wie eine Klapperschlange war, aber er war zu erschrocken und schämte sich so sehr dafür, was er getan hatte, daß er diesem zweifellos ausgezeichneten Rat nicht folgte. Die Vorstellung einer Konfrontation auf Leben und Tod, den Angreifer kampfunfähig zu machen oder zu sterben, kam ihm bereits unwirklich vor. Er bückte sich und legte dem Mann zaghaft eine Hand auf den Arm. Der Irre rollte sich von ihm weg und trommelte mit den flachen Turnschuhen auf den Boden wie ein Kind, das einen Wutanfall hat. »Oh, du Hurensohn!« schrie er. »Du hast auf mich geschossen!« Und dann, unvorstellbarerweise: »Ich werde dich bis auf den letzten Cent verklagen!«
»Ich glaube, Sie werden erst mal das Messer erklären müssen, bevor Sie mit Ihrer Klage besonders weit kommen«, sagte Ralph. Er sah das Messer auf dem Boden liegen, streckte die Hand danach aus, besann sich dann aber eines Besseren. Es wäre besser, wenn seine Fingerabdrücke nicht daraufwaren. Als er sich aufrichtete, schlug eine Woge des Schwindelgefühls über ihm zusammen, und einen Moment hörte sich der Regen, der gegen die Fensterscheiben trommelte, hohl und fern an. Er kickte das Messer weg, dann richtete er sich auf und mußte sich an der Lehne des Stuhls festhalten, auf dem er gesessen hatte, damit er nicht umkippte.
Die Welt um ihn herum stabilisierte sich wieder. Er hörte Schritte aus der Eingangshalle näherkommen, dazu murmelnde, fragende Stimmen.
Jetzt kommt ihr, dachte Ralph resigniert. Wo seid ihr vor drei Minuten gewesen, als dieser Kerl kurz davor war, meinen linken Lungenflügel wie einen Ballon platzen zu lassen?
Mike Hanion, der schlank und trotz seines dichten grauen Haarschopfs nicht älter als dreißig aussah, erschien unter der Tür. Hinter ihm stand der Junge, in dem Ralph die Aushilfskraft für das Wochenende erkannte, und dahinter vier oder fünf Gaffer, wahrscheinlich aus dem Zeitschriftenlesesaal.