Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Sie sahen einander an wie die Eltern eines Bandes, das nicht mehr artig ist, sondern nur noch eine Nervensäge. Janet tätschelte mir die Schulter und sagte: >Nun reg dich nicht auf, Mutter Lois – wir möchten ja nur, daß du es dir ansiehst. < Als hätten wir es wieder mit den Broschüren zu tun und ich müßte nur höflich sein. Aber daß sie es gesagt hat, sollte mich nur ein bißchen beruhigen. Ich hätte wissen müssen, daß sie mich nicht zwingen können, dort zu wohnen, daß sie es sich nicht einmal leisten können. Sie rechnen damit, daß das Geld von Mr. Chasse dieses Rad dreht – seine Rente und die Eisenbahnversicherung, die ich bekommen habe, weil er bei der Arbeit gestorben ist.
Wie sich herausstellte, hatten sie einen Termin für elf Uhr vereinbart, und ein Mann sollte mich herumfuhren und mir alles zeigen. Als ich das alles begriffen hatte, war die Angst weitgehend verschwunden, aber ich war gekränkt, weil sie mich so von oben herab behandelt haben, und wütend, weil jedes zweite Wort von Janet Urlaubstag hier und Urlaubstag da war. Sie machte ziemlich deutlich, daß sie einen Urlaubstag besser verbringen konnte, als nach Derry zu fahren und ihre fette alte Schachtel von einer Schwiegermutter zu besuchen.
>Hör auf, dich so zu zieren, und komm mit, Mutter<, sagte sie nach weiterem Hin und Her, als wäre ich so angetan von der ganzen Idee, daß ich mich nicht entscheiden könnte, welchen Hut ich tragen sollte. >Zieh den Mantel an. Ich helfe dir mit dem Geschirr, wenn wir wieder zurück sind.<
>Du hast mich nicht richtig verstanden sagte ich. >Ich werde nicht mitkommen. Weshalb sollte ich so einen schönen Tag damit vergeuden, mir ein Haus anzusehen, wo ich nie wohnen werde? Und was gibt euch überhaupt das Recht, hierher zu kommen und mich derart damit zu überrumpeln? Warum hat nicht einer von euch zumindest angerufen und gesagt: Wir haben uns etwas überlegt, Mom, möchtest du es hören? Hättet ihr so nicht einen eurer Freunde behandelt?<
Als ich das gesagt hatte, haben sie sich noch mal angesehen… «
Lois seufzte, wischte sich zum letztenmal die Augen ab und gab Ralph das Taschentuch zurück, feuchter, aber sonst nicht weiter verändert.
»Nun, an diesem Blick sah ich, daß wir noch nicht fertig waren. Überwiegend lag es daran, wie Harold aussah – wie damals, wenn er gerade eine Handvoll Schokostreusel aus der Tüte in der Vorratskammer stiebitzt hatte. Und Janet… die betrachtete ihn mit dem Blick, den ich am allermeisten hasse. Ich nenne ihn ihren Bulldozerblick. Und dann fragte sie ihn, ob er mir erzählen wolle, was der Arzt gesagt hätte, oder ob sie es tun solle.
Am Ende erzählten sie es beide, und als sie fertig waren, da war ich so wütend und verblüfft, daß ich mir die Haare hätte ausreißen können. So sehr ich es versuchte, ich kam einfach nicht darüber hinweg, daß Carl Litchfield Harold alles erzählt hat, was ich für vertraulich gehalten hatte. Daß er Harold einfach angerufen und es ihm erzählt hatte, als wäre das vollkommen in Ordnung.
>Also denkst du, ich bin senil?< fragte ich Harold. >Läuft es darauf hinaus? Du und Jan denkt, ich bin im biblischen Alter von achtundsechzig nicht mehr ganz dicht im Oberstübchen?<
Harold wurde knallrot im Gesicht und scharrte unter dem Tisch mit den Füßen, während er vor sich hinmurmelte. Daß er das nicht dächte, aber er müßte an meine Sicherheit denken, wie ich immer an seine gedacht hätte, während er aufgewachsen sei. Und Janet saß die ganze Zeit am Tisch, knabberte an einem Brötchen und betrachtete ihn mit einem Blick, für den ich sie hätte töten können – als würde sie ihn für eine Küchenschabe halten, die gelernt hatte, wie ein Anwalt zu sprechen. Dann stand sie auf und fragte, ob sie >auf die Toilette gehen< dürfte. Ich erlaubte es ihr und verkniff mir die Bemerkung, wie erleichtert ich war, sie zwei Minuten aus dem Zimmer zu haben.
>Danke, Mutter Lois<, sagte sie. >Wird nicht lange dauern. Harry und ich müssen bald wieder gehen. Wenn du meinst, du kannst nicht mit uns kommen und deinen Termin wahrnehmen, gibt es nichts mehr zu sagen.<«
»Was für ein Herzchen«, sagte Ralph.
»Nun, was mich betraf, war das das Ende; ich hatte genug.
>Ich nehme meine Termine wahr, Janet Chasse<, sagte ich, >aber nur die, die ich selbst vereinbare. Wenn andere Leute welche für mich treffen, kümmert mich das einen feuchten Furz.<
Sie warf die Hände hoch, als wäre ich die unvernünftigste Frau, die jemals auf dem Antlitz dieser Erde gewandelt ist, und ließ mich mit Harold allein. Er sah mich mit seinen großen braunen Augen an, als wartete er darauf, daß ich mich entschuldigen würde. Und ich fühlte mich fast, als müßte ich mich entschuldigen, und sei es nur, damit sein Gesicht nicht mehr diesen Cockerspanielausdruck hatte, aber ich habe mich nicht entschuldigt. Ich wollte nicht. Ich sah ihn nur an, und nach einer Weile ertrug er es nicht mehr und sagte mir, ich sollte nicht mehr wütend sein. Er sagte, er würde sich nur Sorgen machen, weil ich ganz allein hier unten lebte, daß er nur versuchte, ein guter Sohn zu sein, und Janet eine gute Tochter.
>Ich denke, das verstehe ich<, sagte ich, >aber du solltest wissen, daß man Liebe und Sorge nicht dadurch ausdrückt, daß man hinter dem Rücken von jemandem intrigierte Da wurde er stocksteif und sagte, er und Jan würden es nicht als intrigieren bezeichnen. Als er das sagte, sah er eine oder zwei Sekunden zum Badezimmer, und ich dachte mir, er wollte mir damit zu verstehen geben, daß Jan es nicht als intrigieren betrachtete. Dann sagte er mir noch, daß es keineswegs so war, wie ich es darstellte – Litchfield hätte ihn angerufen, nicht umgekehrt.
>Na gut<, antwortete ich, >aber was hat dich daran gehindert, einfach aufzulegen, als dir klar wurde, warum er dich angerufen hatte, worüber er mit dir reden wollte? Das war schlicht und einfach falsch. Was, in Gottes Namen, ist in dich gefahren, Harry?<
Er fing wieder an zu zappeln und herumzudrucksen – ich glaube, er hätte sich sogar entschuldigt -, als Jan zurückkam, und da war die du-weißt-schon-was aber richtig am Dampfen. Sie fragte mich, wo meine Diamantohrringe seien, die sie mir zu Weihnachten geschenkt hätten. Das war so ein abrupter Themenwechsel, daß ich zuerst nur stottern konnte, und ich nehme an, es hörte sich an, als wäre ich senil. Aber schließlich brachte ich heraus, sie wären in dem kleinen Porzellanteller auf meiner Schlafzimmerkommode, wie immer. Ich habe eine Schmuckschatulle, aber diese Ohrringe und zwei oder drei andere hübsche Stücke lasse ich immer draußen, weil sie so schön sind und es mich immer aufmuntert, wenn ich sie ansehe. Außerdem sind es nur Diamantsplitter – es ist nicht so, daß jemand einbrechen würde, nur um sie zu stehlen. Dasselbe gilt für meinen Verlobungsring und meine Elfenbeinminiatur, die beiden anderen Stücke, die auf diesem Teller liegen.«
Lois warf Ralph einen durchdringenden, flehenden Blick zu. Er drückte wieder ihre Hand.
Sie lächelte und holte tief Luft. »Das ist sehr schwer für mich.« »Wenn du aufhören möchtest -«
»Nein, ich möchte alles erzählen… nur ab einem bestimmten Punkt kann ich mich sowieso nicht mehr erinnern, was passiert ist. Es war alles so gräßlich. Weißt du, Janet hat gesagt, sie wüßte, wo ich sie aufbewahre, aber da wären sie nicht. Der Verlobungsring sei da, die Miniatur auch, aber nicht die Ohrringe von Weihnachten. Ich ging selbst nachsehen, und sie hatte recht. Wir haben alles auf den Kopf gestellt, überall nachgesehen, aber wir haben sie nicht gefunden. Sie sind fort.«
Lois umklammerte Ralphs Hand jetzt mit ihren beiden und schien hauptsächlich mit dem Reißverschluß seiner Jacke zu reden.
»Wir haben sämtliche Kleidungsstücke aus der Kommode genommen… Harold hat die Kommode selbst von der Wand gezogen und dahinter nachgesehen… unter dem Bett und den Sofakissen… und mir schien jedesmal, wenn ich Janet ansah, als würde sie mich auch ansehen, mit diesem unschuldigen Ausdruck mit den großen Augen. Süß und lieb – nur in den Augen nicht -, und sie mußte nicht laut aussprechen, was sie dachte, weil ich es schon wußte. >Siehst du? Da siehst du, wie recht Dr. Litchfield hatte, uns anzurufen, und wie recht wir hatten, diesen Termin zu vereinbaren. Und wie starrsinnig du bist. Du gehörst nämlich in ein Haus wie Riverview Estates, und das ist der Beweis. Du hast die hübschen Ohrringe verloren, die wir dir zu Weihnachten geschenkt haben, du leidest an einer ernsten Verschlechterung der Kognition, und das ist der Beweis. Nicht mehr lange, und du wirst den Gasherd anlassen… oder den Badezimmerofen…<«
Sie fing wieder an zu weinen, und ihre Tränen erfüllten Ralphs Herz mit Traurigkeit – es war das tiefe, reinigende Schluchzen von jemand, der bis ins tiefste Mark seiner Persönlichkeit verletzt worden ist. Lois verbarg das Gesicht an seiner Jacke. Er hielt sie fester im Arm. Lois, dachte er. Unsere Lois. Aber nein; das gefiel ihm nicht mehr, wenn es ihm je gefallen hatte.
Meine Lois, dachte er, und als hätte eine höhere Macht es begrüßt, strömte plötzlich wieder Licht in den Tag. Geräusche bekamen eine neue Resonanz. Er sah auf seine und Lois’ Hände hinunter, die sie in seinem Schoß verschränkt hatten, und erblickte einen hübschen blaugrauen Schimmer um sie, die Farbe von Zigarettenrauch. Die Auren waren wieder da.
»Du hättest sie in dem Augenblick rauswerfen sollen, als du gemerkt hast, daß die Ohrringe nicht mehr da sind«, hörte er sich sagen, und jedes einzelne Wort war fein säuberlich getrennt und strahlend einmalig, wie ein kristallener Donnerschlag. »In dem Augenblick.«
»Oh, das weiß ich jetzt«, sagte Lois. »Sie hat nur darauf gewartet, daß ich in eine Falle stolperte, und selbstverständlich habe ich ihr den Gefallen getan. Aber ich war so durcheinander
– zuerst der Streit, ob ich mit ihnen nach Bangor kommen sollte, um mir Riverview Estates anzusehen, dann die Tatsache, daß mein Arzt ihnen Dinge erzählt hatte, die er gar nicht erzählen durfte, und dazu dann noch, daß ich eines meiner teuersten Stücke verloren hatte. Und weißt du, was der Gipfel war? Daß sie den Verlust dieser Ohrringe entdecken mußte! Kannst du mir zum Vorwurf machen, daß ich nicht mehr wußte, was ich tat?«
»Nein«, sagte er und hob ihre behandschuhten Hände an seinen Mund. Das Geräusch, als sie durch die Luft glitten, ähnelte dem einer Handfläche, die über eine Wolldecke streicht, und einen Augenblick lang sah er deutlich den Umriß seiner Lippen auf dem rechten Handschuh als blauen Kuß abgedruckt.
Lois lächelte. »Danke, Ralph.«
»Gern geschehen.«
»Ich nehme an, du kannst dir denken, wie es weitergegangen ist, oder nicht? Jan sagte: >Du solltest wirklich besser achtgeben, Mutter Lois, aber Dr. Litchfield meint, du bist jetzt in einem Alter, wo du nicht mehr besser achtgeben kannst, und darum haben wir an Riverview Estates gedacht. Entschuldige, wenn wir dir auf die Füße getreten sind, aber es schien wichtig zu sein, rasch zu handeln. Und jetzt siehst du ja selbst, warum.<«
Ralph sah auf. Der Himmel über ihm bildete einen Wasserfall grün-blauen Feuers mit Wolken, die wie Luftschiffe aus Chrom aussahen. Er schaute den Hügel hinunter und sah Rosalie immer noch zwischen den Port-O-Sans liegen. Die dunkelgraue Ballonschnur stieg von ihrer Schnauze empor und wehte in der kühlen Oktoberbrise.
»Da wurde ich richtig wütend -« Sie verstummte und lächelte. Ralph dachte, daß es heute ihr erstes Lächeln war, das richtige Heiterkeit ausdrückte, und nicht ein unangenehmeres und komplizierteres Gefühl. »Nein – das stimmt nicht. Ich wurde mehr als nur wütend. Wenn mein Großneffe hier gewesen wäre, hätte er gesagt: >Nana ist explodierte«
Ralph lachte, und Lois lachte mit ihm, aber ihre Hälfte des Duetts hörte sich ein wenig gezwungen an.
»Am meisten erbost mich, daß Janet es gewußt hat«, sagte sie. »Sie wollte, daß ich explodiere, glaube ich, weil sie wußte, wie schuldig ich mich später fühlen würde. Und weiß Gott, so ist es. Ich schrie sie an, sie sollten verschwinden. Harold hat ausgesehen, als wollte er im Boden versinken – er war immer verlegen, wenn er angeschrien wurde -, aber Jan saß nur mit im Schoß gefalteten Händen da, lächelte und nickte sogar mit dem Kopf, als wollte sie sagen: >Ganz recht, Mutter Lois, schaff ruhig das ganze Gift aus deinem Körper, und wenn du fertig bist, kann man vielleicht wieder vernünftig mit dir reden.<«
Lois holte tief Luft.
»Dann geschah etwas. Ich bin nicht sicher, was es war. Es war auch nicht das erstemal, aber diesmal war es am schlimmsten. Ich fürchte, es war eine Art… nun… eine Art Anfall. Wie auch immer, ich sah Janet in einer wirklich seltsamen Weise… einer beängstigenden Weise. Und ich sagte etwas, das ihr richtig zusetzte. Ich kann mich nicht erinnern, was es war, und ich bin nicht sicher, ob ich es wissen will, aber auf jeden Fall verschwand das süße Lächeln, das ich so sehr verabscheue, von ihrem Gesicht. Sie hat Harold förmlich hinausgezerrt. Ich weiß nur noch, daß sie sagte, einer von ihnen würde mich wieder anrufen, wenn ich nicht mehr so hysterisch wäre, daß ich den Menschen, die mich lieben, häßliche Dinge an den Kopf werfen würde.
Ich blieb eine Weile, nachdem sie gegangen waren, im Haus, und dann kam ich hierher und setzte mich in den Park. Manchmal geht es mir besser, wenn ich einfach nur in der Sonne sitze. Ich nahm im Red Apple einen Imbiß zu mir, und da hörte ich, daß du dich mit Bill gestritten hast. Was meinst du, seid ihr wirklich wütend aufeinander?«
Ralph schüttelte den Kopf. »Nee – wir bringen das wieder ins reine. Ich mag Bill wirklich, aber -«
»– aber man muß bei ihm vorsichtig sein, was man sagt«, beendete sie den Satz. »Darf ich außerdem hinzufügen, Ralph, daß man das, was er zu einem sagt, nicht allzu ernst nehmen darf?«
Diesmal drückte Ralph ihre Hand. »Das könnte auch für dich ein guter Rat sein, Lois – du solltest das, was heute morgen passiert ist, nicht allzu ernst nehmen.«
Sie seufzte. »Vielleicht, aber das fällt mir schwer. Zuletzt habe ich ein paar schreckliche Sachen gesagt, Ralph. Schreckliche. Ein Teil von mir wünscht sich, ich könnte mich erinnern, was ich gesagt habe, damit dieses schreckliche Lächeln verschwindet, aber der Rest von mir – der größte Teil – ist dankbar, daß ich es nicht kann.«
Ein Regenbogen der Erkenntnis warf plötzlich einen leuchtenden Schein über den Vordergrund von Ralphs Bewußtsein. In seinem Leuchten sah er etwas Riesiges, so riesig, daß es unzweifelhaft und vorherbestimmt wirkte. Er sah Lois zum erstenmal, seit ihm die Auren erschienen waren… oder er sie wieder wahrnahm… richtig an. Sie saß in einer Kapsel durchscheinenden grauen Lichts so hell wie Nebel an einem Sommermorgen, der sonnig werden wird. Es verwandelte das Geschöpf, das Bill McGovern »unsere Lois« nannte, in ein Geschöpf großer Würde… und fast unerträglicher Schönheit.
Sie sieht aus wie Eos, dachte er. Die Göttin der Morgenröte.
Lois rutschte nervös auf der Bank hin und her. »Ralph? Warum siehst du mich so an?«
Weil du wunderschön bist, und weil ich mich in dich verliebt habe, dachte Ralph erstaunt. Im Augenblick liebe ich dich so sehr, daß ich glaube, ich ertrinke, und das Sterben ist schön.
»Weil du dich genau daran erinnerst, was du gesagt hast.«
Sie spielte wieder nervös mit dem Verschluß ihrer Handtasche. »Nein, ich -«
»O doch. Du hast deiner Schwiegertochter gesagt, daß sie deine Ohrringe weggenommen hat. Sie hat es getan, weil sie gemerkt hat, daß du nicht nachgeben und mit ihnen kommen würdest, und wenn sie nicht bekommt, was sie will, macht es deine Schwiegertochter verrückt… dann explodiert sie. Sie hat es getan, weil du ihr auf die Nerven gegangen bist. Kommt das nicht ungefähr hin?«
Lois sah ihn mit runden, ängstlichen Augen an. »Woher weißt du das, Ralph? Woher kannst du das über sie wissen?«
»Ich weiß es, weil du es weißt, und du weißt es, weil du es gesehen hast.«
»O nein«, flüsterte sie. »Nein, ich habe nichts gesehen. Ich war die ganze Zeit mit Harold in der Küche.«
»Nicht da, nicht als sie es getan hat, sondern als sie wiederkam. Du hast es in ihr und um sie herum gesehen.«
So wie er jetzt Harold Chasses Frau in Lois sah, als wäre die Frau, die neben ihm saß, eine optische Linse geworden. Janet Chasse war groß, hatte helle Haut und eine lange Taille. Auf den Wangen hatte sie Sommersprossen, die sie mit Make-up überdeckte, und ihr Haar war von einem lebhaften Rot mit einer Spur Ingwer. Heute morgen war sie nach Derry gekommen, und dieses sagenhafte Haar hing als breiter geflochtener Zopf wie Kupferdraht auf ihre Schulter. Was wußte er sonst noch von dieser Frau, die er nie kennengelernt hatte?
Alles, alles.
Sie überdeckt ihre Sommersprossen mit Schminke, weil sie findet, daß sie kindlich damit aussieht; daß die Leute Frauen mit Sommersprossen nicht ernst nehmen. Ihre Beine sind wunderschön, und das weiß sie. Sie trägt kurze Röcke zur Arbeit, aber als sie heute gekommen ist, um (die alte Kuh) Mutter Lois zu besuchen, trug sie einen Wollpullover und ein Paar alte Jeans. Mausgraues Derry-Kostüm. Ihre Periode ist überfällig. Sie hat den Abschnitt ihres Lebens erreicht, wo sie nicht mehr regelmäßig wie ein Uhrwerk kommt, und in den nervösen zwei oder drei Tagen, die sie jeden Monat ertragen muß, einem Zeitraum, wo die ganze Welt aus Glas und jedermann entweder dumm oder gemein zu sein scheint, sind ihr Verhalten und ihre Stimmung launisch geworden. Wahrscheinlich ist das der wahre Grund, weshalb sie es getan hat.
Ralph sah sie aus Lois winzigem Badezimmer kommen. Sah sie einen stechenden, wütenden Blick zur Küchentür werfen -jetzt war nichts mehr von dem süßen Unschuldslächeln in dem schmalen, durchdringenden Gesicht zu sehen -, und dann die Ohrringe von dem Porzellanteller nehmen. Sah, wie sie sie in die linke vordere Tasche ihrer Jeans steckte.
Nein, Lois hatte diesen kleinen, häßlichen Diebstahl tatsächlich nicht gesehen, aber er hatte die Aura von Jan Chasse von der blassen hellgrünen Farbe in ein komplexes, vielschichtiges Muster aus Braun-und Rottönen verwandelt, das Lois gesehen und wahrscheinlich augenblicklich verstanden hatte, wahrscheinlich ohne die geringste Ahnung, was tatsächlich mit ihr geschah.
»Ja, sie hat sie genommen«, sagte Ralph. Er konnte sehen, wie grauer Nebel verträumt über die Pupillen von Lois’ aufgerissenen Augen driftete. Er hätte sie den Rest des Tages ansehen können.
»Ja, aber -«
»Wenn du doch noch eingewilligt hättest, Riverside Estates zu besuchen, hättest du sie garantiert nach dem nächsten Besuch wiedergefunden… oder sie hätte sie gefunden, was wahrscheinlicher ist. Nur ein glücklicher Zufall – >Oh, Mutter Lois, sieh mal, was ich gefunden habe!< Unter dem Waschbecken im Bad, in einem Schrank oder in einer dunklen Ecke.«
»Ja.« Jetzt sah sie ihm fasziniert ins Gesicht, fast hypnotisiert. »Sie muß sich schrecklich fühlen… und sie wird nicht wagen, sie zurückzubringen, oder? Nicht nach allem, was ich gesagt habe. Ralph, woher wußtest du das?«
»Aus demselben Grund, weshalb du es gewußt hast. Wie lange siehst du die Auren schon, Lois?«
»Auren? Ich weiß nicht, was du meinst.« Aber sie wußte es, das sah Ralph ihr an.
»Litchfield hat deinem Sohn von der Schlaflosigkeit erzahlt, aber ich bezweifle, ob das allein ausgereicht hätte, daß Litchfield… du weißt schon, petzt. Das andere – das er, wie du sagst, Probleme mit der Sinneswahmehmung genannt hat -habe ich gar nicht mitbekommen. Ich war so betroffen, jemand könnte dich für vorzeitig senil halten, daß es mir gar nicht aufgefallen ist, obwohl ich selbst in letzter Zeit auch Probleme mit meiner Wahrnehmung habe.«
»Du!«
»Ja, Ma’am. Vor einer Weile hast du etwas Interessantes gesagt. Du hast gesagt, du hättest Janet auf eine wirklich interessante Weise gesehen. Auf eine furchteinflößende Weise. Du könntest dich nicht erinnern, was du gesagt hast, bevor die beiden gegangen sind, aber du wüßtest genau, wie du dich gefühlt hast. Du siehst den anderen Teil der Welt. Den Rest der Welt. Umrisse um die Dinge, Umrisse in den Dingen, Geräusche innerhalb von Geräuschen. Ich nenne es die Welt der Auren, und die erlebst du auch. Ist es nicht so, Lois?«
Sie sah ihn einen Moment schweigend an, dann schlug sie die Hände vor das Gesicht. »Ich dachte, ich würde den Verstand verlieren«, sagte sie, und dann sagte sie es noch einmal: »O Ralph, ich dachte, ich würde den Verstand verlieren.«
Er umarmte sie, dann ließ er sie los und hob ihr Kinn hoch. »Keine Tränen mehr«, sagte er. »Ich habe kein zweites Taschentuch dabei.«
»Keine Tränen mehr«, stimmte sie zu, aber ihre Augen funkelten schon wieder feucht. »Ralph, wenn du nur wüßtest, wie schrecklich es gewesen ist -«
»Das weiß ich.«
Sie lächelte strahlend. »Ja, das weißt du, oder nicht?«
»Dieser Idiot Litchfield ist nicht nur wegen der Schlaflosigkeit auf die Idee gekommen, daß du senil wirst – wahrscheinlich hat er auch mehr an die Alzheimersche gedacht -, sondern wegen etwas anderem… das er für Halluzinationen gehalten hat. Richtig?«
»Kann sein, aber davon hat er damals nichts gesagt. Als ich ihm erzählte, was ich gesehen hatte – die Farben und alles -, schien er ausgesprochen verständnisvoll zu sein.« »Hm-hmm, und kaum hast du sein Sprechzimmer verlassen gehabt, hat er deinen Sohn angerufen und ihm gesagt, er soll schleunigst nach Derry kommen und etwas wegen seiner alten Mom unternehmen, die die Leute in bunten Hüllen und mit langen Ballonschnüren sieht, die von ihren Köpfen emporschweben.«
»Die siehst du auch? Ralph, die siehst du auch?«
»Ich auch«, sagte er und lachte. Es hörte sich ein klein wenig irre an, aber das überraschte ihn nicht. Er wollte ihr hundert Fragen stellen; er fühlte sich rasend vor Ungeduld. Und da war noch etwas, etwas so Unerwartetes, daß er es zuerst überhaupt nicht hatte identifizieren können: er war geil. Nicht nur interessiert; richtig geil.
Lois weinte wieder. Ihre Tränen hatten die Farbe von Nebel über einem stillen See, und sie rauchten ein wenig, wenn sie ihre Wangen hinabliefen. Ralph wußte, sie würden dunkel und moosig schmecken, wie eingerollte Farntriebe im Frühling.
»Ralph… das… das ist… herrje!«
»Größer als Michael Jackson in der Superbowl, was?«
Sie lachte kläglich. »Nun, nur… du weißt schon, nur ein bißchen.«
»Es gibt einen Namen für das, was mit uns passiert, Lois, und das ist nicht Schlaflosigkeit oder Senilität oder die Alzheimersche Krankheit. Es heißt Hyperrealität.«
»Hyperrealität«, murmelte sie. »Herrgott, was für ein exotisches Wort.«
»Ja, das ist es. Ein Apotheker unten im Rite Aid, Joe Wyzer, hat es mir gesagt. Aber es ist viel mehr dran, als er wußte. Mehr als jeder bei klarem Verstand ahnen würde.«
»Ja, wie Telepathie… das heißt, wenn es wirklich passiert. Ralph, sind wir noch bei Verstand?«
»Hat deine Schwiegertochter deine Ohrringe genommen?«
»Ich… sie… ja.« Lois richtete sich auf. »Ja, das hat sie.«
»Kein Zweifel?«
»Nein.« »Dann hast du dir deine Frage selbst beantwortet. Wir sind bei Verstand… aber ich glaube, was die Telepathie betrifft, irrst du dich. Wir lesen nicht Gedanken, sondern Auren. Hör zu, Lois, ich möchte dir alle möglichen Fragen stellen, aber ich glaube, du weißt, daß es nur eines gibt, was du wirklich wissen mußt. Hast du auch schon gesehen -« Er verstummte unvermittelt und fragte sich, ob er wirklich aussprechen sollte, was ihm auf der Zunge lag.
»Ob ich was gesehen habe?«
»Okay. Das wird sich verrückter anhören als alles, was du mir gesagt hast, aber ich bin nicht verrückt. Glaubst du das? Ich bin es nicht.«
»Ich glaube dir«, sagte sie nur, und Ralph spürte, wie ihm eine große Last von der Seele genommen wurde. Sie sagte die Wahrheit. Keine Frage; ihr Glaube leuchtete rings um sie herum auf.
»Okay, hör mir zu. Hast du, seit es bei dir angefangen hat, gewisse Leute gesehen, die nicht aussehen, als hätten sie etwas in der Harris Avenue verloren? Leute, die aussehen, als gehörten sie gar nicht in die normale Welt?«
Lois sah ihn verwirrt und verständnislos an.
»Sie sind kahlköpfig, sie sind sehr klein, sie tragen weiße Kittel und sehen fast wie Zeichnungen von Außerirdischen aus, die man manchmal auf Seite eins der Regenbogenpresse sieht, wie sie sie im Red Apple verkaufen. Die hast du nicht zufällig gesehen, wenn du deine Anfälle von Hyperrealität gehabt hast?«
»Nein, niemanden.«
Er schlug sich frustriert mit der Faust auf den Oberschenkel, dachte einen Moment nach, dann sah er wieder auf. »Montag morgen«, sagte er. »Bevor die Polizei bei Mrs. Locher gewesen ist… hast du mich da gesehen?«
Lois nickte sehr bedächtig mit dem Kopf. Ihre Aura war ein wenig dunkler geworden, scharlachrote Spiralen, so dünn wie Fäden, kreisten langsam in einer Diagonalen darin.
»Dann könnte ich mir denken, daß du eine ziemlich gute Vorstellung davon hast, wer die Polizei angerufen hat«, sagte Ralph. »Oder nicht?« »Oh, ich weiß, daß du es warst«, sagte Lois mit leiser Stimme. »Ich hatte es die ganze Zeit vermutet, aber bis jetzt war ich mir nicht sicher. Bis ich es… du weißt schon, in deinen Farben gesehen habe.«
In meinen Farben, dachte er. So hatte Ed sie auch genannt.
»Aber du hast nicht zwei Miniaturversionen von Meister Proper aus ihrem Haus kommen sehen?«
»Nein«, sagte sie, »aber das hat nichts zu sagen, weil ich nicht einmal Mrs. Lochers Haus von meinem Schlafzimmerfenster aus sehen kann. Das Dach des Red Apple ist im Weg.«
Ralph verschränkte die Hände auf dem Kopf. Natürlich, das hätte er wissen müssen.
»Ich dachte mir, daß du die Polizei gerufen haben mußtest, weil ich, kurz bevor ich duschen ging, gesehen habe, wie du etwas mit einem Fernglas beobachtet hast. Das habe ich dich noch nie tun sehen, dachte mir aber, vielleicht wolltest du dir nur den streunenden Hund genauer ansehen, der donnerstagmorgens die Mülleimer plündert.« Sie deutete den Hügel hinab. »Den da.«
Ralph grinste. »Das ist kein Er, das ist die prächtige Rosalie.«
»Oh. Wie auch immer, ich war ziemlich lange unter der Dusche, weil ich eine spezielle Spülung für mein Haar nehme. Keine Tönung«, sagte sie schneidend, als hätte er ihr das vorgeworfen, »nur Proteine und etwas, das angeblich die Locken etwas fester macht. Als ich herauskam, war überall Polizei. Ich habe einmal zu deinem Haus gesehen, konnte dich aber nicht mehr erkennen. Entweder warst du in ein anderes Zimmer gegangen oder hattest dich in deinem Sessel zurückgelehnt. Das machst du manchmal.«
Ralph schüttelte den Kopf, als müßte er ihn freimachen. Er war in den ganzen Nächten nicht in einem leeren Theater gewesen; jemand anders hatte es ebenfalls besucht. Sie hatten nur in verschiedenen Logen gesessen.
»Lois, der Streit, den Bill und ich hatten, drehte sich eigentlich gar nicht um Schach. Er drehte -«
Unten am Hügel stieß Rosalie ein eingerostetes Bellen aus und rappelte sich auf die Füße. Ralph sah in ihre Richtung und spürte, wie sich ein Eiszapfen in seinen Bauch bohrte. Obwohl sie beide seit fast einer halben Stunde hier saßen und sich in dieser Zeit niemand den öffentlichen Toiletten unten auch nur genähert hatte, ging nun die Hartplastiktür des Port-O-San mit der Aufschrift MÄNNER langsam auf.
Doc Nr. 3 kam heraus. McGoverns Panama, dessen Krempe am Rand zerbissen war, hatte er schräg auf den Kopf gesetzt, wodurch er auf unheimliche Weise McGovern selbst ähnelte, als Ralph ihn zum erstenmal mit dem braunen Fedora gesehen hatte – wie ein Reporter in einem Kriminalfilm aus den vierziger Jahren.
In einer Hand hielt der kahlköpfige Fremde das rostige Skalpell erhoben.
Kapitel 13
»Lois?« Ralph fand, seine Stimme hörte sich an, als würde sie aus einem langen, tiefen Canyon kommen. »Lois, siehst du das?«
»Ich weiß nicht…« Sie verstummte. »Hat der Wind die Toilettentür aufgestoßen? Nein, richtig? Ist jemand da? Macht der Hund deshalb so ein Theater?«
Rosalie wich langsam vor dem kahlköpfigen Mann zurück; sie hatte die zottigen Ohren angelegt und fletschte so verfaulte Zähne, daß sie nicht bedrohlicher wirkten als Gummistöpsel. Sie stieß ein heiseres, abgehacktes Bellen aus, dann winselte sie verzweifelt.
»Ja! Siehst du ihn nicht, Lois? Er ist direkt da!«
Ralph sprang auf die Füße. Lois stand mit ihm auf und schirmte mit einer Hand die Augen ab. Sie spähte mit verzweifelter Anstrengung den Hügel hinab. »Ich sehe ein Flimmern, mehr nicht. Wie Luft über einem Heizkörper.«
»Ich hab dir gesagt, du sollst sie in Ruhe lassen!« schrie Ralph den Hügel hinunter. »Hör auf! Und mach, daß du verschwindest!«
Der kahlköpfige Mann sah in Ralphs Richtung, aber diesmal drückte sein Gesicht keine Überraschung aus; es war gelassen, unbeeindruckt. Er hob den Mittelfinger der rechten Hand, zeigte Ralph den uralten Gruß und fletschte dann selbst die Zähne -viel spitzer und gefährlicher als die von Rosalie – zu einem stummen Lachen.
Rosalie duckte sich, als der kleine Mann im schmutzigen Kittel wieder auf sie zukam, dann hob sie tatsächlich eine Pfote und legte sie sich auf den Kopf, eine Geste wie aus einem Trickfilm, die komisch hätte wirken müssen, aber nur dazu diente, das Ausmaß ihrer Angst zu verdeutlichen.
»Was kann ich nicht sehen, Ralph?« stöhnte Lois. »Ich sehe etwas, aber -«
»Geh WEG von ihr!« brüllte Ralph und hob wieder die Hand zu der Karate-Geste. Aber die Hand – aus der vorhin dieser erstaunliche blaue Lichtstrahl hervorgeschossen war – fühlte sich immer noch wie eine ungeladene Waffe an, und diesmal schien es der Doc auch zu wissen. Er sah in Ralphs Richtung und winkte ihm kurz und höhnisch zu. lAch, hör auf, Kurzer – setz dich, halt die Klappe und genieß die Vorstellung!]
Die Kreatur am Fuß des Hügels richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Rosalie, die zusammengekauert am Stamm einer riesigen alten Kiefer saß. Aus den Rissen in der Rinde des Baums strömte dünner grünlicher Dunst. Der kahlköpfige Arzt beugte sich über Rosalie und hatte eine Hand zu einer streichelnden Geste ausgestreckt, die überhaupt nicht zu dem Skalpell passen wollte, das er in der kleinen linken Faust hielt.
Rosalie winselte… dann streckte sie den Hals und leckte der Kreatur unterwürfig die Handfläche.
Ralph betrachtete seine eigenen Hände und spürte etwas in ihnen – nicht die Kraft von vorhin, nichts dergleichen, aber etwas. Plötzlich tanzten grellweise Funken dicht über seinen Nägeln. Als hätten sich die Finger in Zündkerzen verwandelt.