Текст книги "Schlaflos"
Автор книги: Stephen Edwin King
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Ralph drehte sich noch einmal um und hob die Hand. Klotho und Lachesis hoben ihre ebenfalls, und Lois warf ihm eine Kußhand zu. Ralph machte eine Auffangbewegung, dann drehte er sich um und betrat das Port-O-San.
Er zögerte einen Moment und fragte sich, was er wegen der Toilettenschüssel unternehmen sollte, aber dann fiel ihm die auf sie zurollende Bahre im Krankenhaus ein, die ihm den Schädel hätte zertrümmern müssen, es aber nicht getan hatte, und er ging in den hinteren Teil der Kabine. Er biß die Zähne zusammen und bereitete sich darauf davor, sich die Schienbeine anzustoßen – was man wußte war eines, was man glaubte, nachdem man sich siebzig Jahre lang irgendwo angestoßen hatte, war etwas ganz anderes -, und dann ging er einfach durch die Toilettenschüssel hindurch, als wäre sie aus Rauch…
Er verspürte ein beängstigendes Gefühl von Schwerelosigkeit und Schwindel, und einen Augenblick war er sicher, daß er sich übergeben müßte. Es wurde von einem Gefühl der Schwächung begleitet, als würde der Großteil der Energie, die er Lois abgenommen hatte, abgesaugt werden. Vermutlich entsprach das den Tatsachen. Immerhin handelte es sich hier um eine Form von Teleportation, richtiger Science-FictionKram, und so etwas mußte eine Menge Energie verbrauchen.
Das Schwindelgefühl verging, aber es wurde von einer Wahrnehmung ersetzt, die noch schlimmer war – einem Gefühl, als wäre ihm irgendwie der Hals duchtrennt worden. Er stellte fest, daß er einen ungehinderten Ausblick auf einen weiten Teil der Welt hatte.
Großer Gott, was ist mit mir passiert? Was ist nicht in Ordnung mit mir?
Seine Sinne meldeten ihm widerwillig, daß mit ihm alles in Ordnung war, er hatte nur eine unmögliche Position eingenommen. Er war einhundertfünfundachtzig Zentimeter groß das Cockpit des Flugzeugs maß vom Boden bis zur Decke hundertfünfzig Zentimeter. Das bedeutete, ein Pilot, der größer als Klotho oder Lachesis war, mußte gebückt zu seinem Sitz gehen. Ralph hatte das Flugzeug jedoch nicht nur im Flug betreten, sondern auch stehend, und er stand noch zwischen und ein wenig hinter den beiden Sitzen des Cockpits. Der Grund, weshalb seine Aussicht so ungehindert war, war einfach und erschreckend: Sein Kopf ragte oben aus dem Flugzeug heraus.
Ralph sah wie in einem Alptraum das Bild seines alten Hundes Rex, der beim Fahren gerne den Kopf zum Fenster hinaushielt, so daß seine zottigen Ohren im Fahrtwind flatterten. Er machte die Augen zu.
Und wenn ich nun falle? Wenn ich den Kopf durch das verdammte Dach strecken kann, was hindert mich dann daran, durch den Boden zu rutschen und bis auf die Erde zufallen? Oder möglicherweise durch den Erdboden und dann durch die Erde selbst?
Aber das passierte nicht, und es würde auch nichts Derartiges passieren, nicht auf dieser Ebene – er mußte nur daran denken, wie mühelos sie durch die Etagen des Krankenhauses aufgestiegen waren und wie mühelos sie danach auf dem Dach gestanden hatten. Wenn er sich das alles vor Augen hielt, würde ihm nichts geschehen. Ralph versuchte, sich auf diesen Gedanken zu konzentrieren, und als er sicher war, daß er sich wieder unter Kontrolle hatte, öffnete er die Augen.
Direkt unter ihm krümmte sich die Windschutzscheibe des Flugzeugs. Dahinter der Bug und die silbernen Schlieren des Propellers. Die Lichter, die er in dem Port-O-San gesehen hatte, waren jetzt näher.
Ralph beugte die Knie, und sein Kopf glitt mühelos durch das Dach des Cockpits. Einen Moment hatte er den Geschmack von Öl im Mund, die winzigen Härchen in seiner Nase schienen sich wie bei einem Elektroschock aufzurichten, und dann kniete er zwischen dem Piloten-und dem Copilotensitz.
Er wußte nicht, was für Empfindungen er erwartet hatte, als er Ed nach so langer Zeit und unter so seltsamen Umständen wiedersah, aber das Bedauern – nicht nur Mitleid, sondem Bedauern -, das sich einstellte, überraschte ihn. Ed trug ein altes T-Shirt statt eines Oxford-oder Arrow-Hemds, mit Knöpfen vorne und einem Obstkorb auf dem Rücken, wie an dem Tag im Sommer 1992, als er in den Lastwagen von West Side Gardeners hineingefahren war. Er hatte eine Menge abgenommen – fast vierzig Pfund, schätzte Ralph -, was eine außerordentliche Wirkung hervorrief, denn er sah nicht ausgemergelt aus, sondern irgendwie heroisch, wie in einem Schauer-oder Liebesroman; Ralph wurde mit Nachdruck an Carolyns Lieblingsgedicht »The Highwayman« von Alfred Noyes erinnert. Eds Haut war kalkweiß, seine grünen Augen dunkel und licht zugleich (wie Smaragde im Mondlicht, dachte Ralph) hinter der runden John Lennon-Brille, seine Lippen so rot, als hätte er Lippenstift aufgetragen. Den weißen Seidenschal mit den japanischen Schriftzeichen hatte er sich um die Stirn gebunden, so daß die Enden hinten hinunterbaumelten. Eds Gesicht in den Gewitterwirbeln seiner Aura drückte schreckliches Bedauern und felsenfeste Entschlossenheit zugleich aus. Er war wunderschön -wunderschön -, und Ralph verspürte, wie sich ein schreckliches Gefühl von deja vu in ihm breitmachte. Jetzt wußte er, was er an dem Tag gesehen hatte, als er zwischen Ed und den Mann von West Side Gardeners getreten war; jetzt sah er es wieder, und zwar mit Augen, die mehr sahen, als Ralph Roberts je hatte sehen wollen. Als er Ed inmitten seiner Wirbelsturmaura sah, von der keine Ballonschnur aufragte, kam es ihm vor, als sähe er eine unschätzbar kostbare Ming-Vase, die an eine Wand geworfen worden und zerschellt war.
Zumindest kann er mich nicht sehen, nicht auf dieser Ebene. Jedenfalls glaube ich es nicht.
Als hätte Ed auf diesen Gedanken reagiert, drehte er plötzlich den Kopf und sah Ralph direkt an. Seine Augen waren groß und von einem irren Argwohn erfüllt; die Winkel seines feingeschnittenen Mundes bebten, Speichel glänzte darauf. Ralph schrak zurück und war einen Moment überzeugt, daß er doch gesehen werden konnte, aber Ed reagierte nicht auf Ralphs plötzliche Rückwärtsbewegung. Er warf einen mißtrauischen Blick in die leere viersitzige Kabine hinter sich, als hätte er die verstohlenen Bewegungen eines blinden Passagiers gehört. Gleichzeitig griff er an Ralph vorbei und legte die rechte Hand auf einen Pappkarton, den er mit Sicherheitsgurt auf dem Sitz des Copiloten festgezurrt hatte. Die Hand strich zärtlich über den Karton, dann wanderte sie zur Stirn und rückte den Seidenschal, der als Stirnband diente, etwas zurecht. Nachdem das erledigt war, sang er weiter… aber diesmal ein anderes Lied, das Ralph eine Gänsehaut über den Rücken jagte:
»One pill makes you larger, One pill makes you small, And the ones that mother gives you Don’t do anything at all…«
Richtig, dachte Ralph. Go ask Alice, she’s ten feet tall.
Sein Herz schlug rasend in der Brust – als Ed sich plötzlich umgedreht hatte, hatte er einen größeren Schreck bekommen als in dem Augenblick, wo er festgestellt hatte, daß sein Kopf in dreitausend Meter Höhe aus dem Flugzeug herausragte. Ed konnte ihn nicht sehen, er war fast überzeugt davon, aber wer behauptet hatte, daß die Sinne eines Verrückten schärfer waren als die eines Normalen, mußte gewußt haben, wovon er sprach, denn Ed hatte auf jeden Fall gemerkt, daß sich etwas verändert hatte.
Das Funkgerät knisterte, worauf beide Männer zusammenzuckten. »Dies gilt für die Cherokee über South Haven. Sie befinden sich vor dem Flugraum von Derry in einer Höhe, die einen festgelegten Flugplan erfordert. Wiederhole, Sie sind im Begriff, in kontrollierten Luftraum über einem städtischen Gebiet einzudringen. Gehen Sie mit Ihrem Arschloch auf fünftausend Meter, Cherokee, und schwenken Sie auf 170, das sind eins-sieben-null. Und wenn Sie schon dabei sind, identifizieren Sie sich und erklären Sie -«
Ed ballte die Hand zur Faust und schlug damit auf das Funkgerät ein. Glasscherben flogen, wenig später spritzte auch Blut. Es spritzte auf das Armaturenbrett, das Bild von Helen und Natalie und Eds sauberes graues TShirt. Er schlug so lange auf das Gerät ein, bis die Stimme zuerst in zunehmendem Rauschen leiser wurde und dann völlig verstummte.
»Gut«, sagte er mit der leisen, seufzenden Stimme eines Mannes, der häufig Selbstgespräche führt. »Viel besser. Ich hasse diese vielen Fragen. Sie dienen nur -«
Er sah seine blutige Hand und verstummte. Er hielt sie hoch, betrachtete sie genauer und ballte sie wieder zur Faust. Ein großer Glassplitter ragte dicht unter dem dritten Knöchel aus dem kleinen Finger. Ed zog ihn mit den Zähnen heraus, spie ihn achtlos auf den Boden und tat dann etwas, bei dem Ralph ein kalter Schauer überlief: Er strich mit der blutigen Faust erst über die linke und dann über die rechte Wange, so daß zwei blutige Striemen zurückblieben. Er griff in die elastische Tasche an der linken Wand, holte einen Taschenspiegel heraus und betrachtete seine behelfsmäßige Kriegsbemalung. Was er sah, schien ihm zu gefallen, denn er lächelte und nickte, bevor er den Spiegel wieder in der Tasche verschwinden ließ.
»Just remember what the obor mouse said«, riet sich Ed mit seiner leisen, seufzenden Stimme, und dann drückte er den Steuerknüppel nach vorne. Die Schnauze der Cherokee sank, und der Höhenmesser fiel langsam. Ralph konnte Derry jetzt direkt vor sich sehen. Die Stadt sah aus wie eine Handvoll Opale, die auf dunkelblauem Samt ausgestreut worden waren.
Der Karton auf dem Sitz des Copiloten hatte ein Loch an der Seite. Zwei Kabel ragten daraus hervor. Sie führten zu einer Türklingel, die an der Armlehne von Eds Sitz festgeklebt war. Ralph nahm an, Ed würde, sobald er das Bürgerzentrum in Sichtweite hatte und mit seinem eigentlichen Kamikazeanflug begann, einen Finger auf den weißen Knopf in der Mitte des Plastikrechtecks legen. Und kurz vor dem Aufprall würde er darauf drücken. Ding-dong, die Avonberaterin.
Zerreiß die Kabel, Ralph! Zerreiß sie!
Ein ausgezeichneter Vorschlag, der nur einen Nachteil hatte: Er konnte keine Spinnwebe zerreißen, solange er sich auf dieser Ebene befand. Das bedeutete, er mußte ins Land der Kurzfristigen zurücksinken, und genau das wollte er tun, als ihm eine leise, vertraute Stimme rechts von ihm ins Ohr flüsterte.
[Ralph.]
Rechts von ihm? Das war unmöglich. Rechts von ihm war nichts, außer dem Sitz des Copiloten, die Wand des Flugzeugs und meilenweit Luft über Neuengland.
Die Narbe an seinem Arm fing an zu kribbeln wie der Heizstab eines Tauchsieders.
[Ralph!]
Schau nicht hin. Achte überhaupt nicht darauf. Ignoriere es.
Aber das konnte er nicht. Eine gewaltige, unerbittliche Kraft hatte ihn im Griff, und langsam drehte sich sein Kopf. Er kämpfte dagegen an, weil er merkte, daß der Neigungswinkel des Flugzeugs steiler wurde, aber es nützte nichts.
[Ralph, sieh mich an – hab keine Angst.]
Er unternahm einen letzten Versuch, sich der Stimme zu entziehen, konnte es aber nicht. Er drehte weiter den Kopf, und plötzlich sah Ralph seine Mutter vor sich, die vor fünfundzwanzig Jahren an Lungenkrebs gestorben war.
Bertha Roberts saß in ihrem Schaukelstuhl etwa eineinhalb Meter jenseits der Stelle, wo die rechte Seitenwand der Cherokee gewesen war, strickte und schaukelte eine Meile oder mehr über dem Boden in der Luft. Die Hausschuhe, die Ralph ihr zu ihrem fünfzigsten Geburtstag geschenkt hatte – mit echtem Nerzbesatz, wie albern -, trug sie an den Füßen. Um die Schultern hatte sie einen rosa Schal gelegt. Ein alter politischer Anstecker – WIN WITH WILKIE! stand darauf – hielt den Schal zusammen.
Stimmt, dachte Ralph. Die hat sie als Schmuck getragen – das war ihr kleiner Tick. Hatte ich ganz vergessen.
Das einzige andere, das falsch war (davon abgesehen, daß sie tot war und im Augenblick in einer Höhe von achtzehnhundert Metern schaukelte) war das rote Wollteil auf ihrem Schoß. Ralph hatte seine Mutter nie stricken sehen, war nicht einmal sicher, ob sie es konnte, aber jetzt strickte sie trotzdem wie verrückt. Die Nadeln glänzten und funkelten zwischen den Maschen.
[»Mutter? Mom? Bist du es wirklich?«]
Die Nadeln standen still, als sie von der scharlachroten Decke auf ihrem Schoß aufsah. Ja, sie war es – jedenfalls wie sie Ralphs Erinnerung nach ausgesehen hatte, als er zehn Jahre alt war. Schmales Gesicht, hohe Gelehrtenstirn, braune Augen und ein Knoten grauen Haars straff im Nacken gebunden. Es war ihr kleiner Mund, der streng und verbittert aussah… das heißt, bis sie lächelte.
[Aber, Ralph Roberts! Ich bin überrascht, daß du das überhaupt fragen mußt!]
Aber das ist eigentlich keine Antwort, oder? dachte Ralph. Er machte den Mund auf, um das zu sagen, aber dann entschied er, daß es zumindest vorläufig klüger sein könnte, wenn er still blieb. Ein milchiger Umriß schwebte jetzt rechts von ihr in der Luft. Er wurde vor Ralphs Augen dunkler und solider und gerann zu dem Zeitungsständer aus Kirschholz, den er im Werkuntericht in seinem ersten Jahr an der Derry High für sie gebastelt hatte. Er steckte voll mit Reader’s-Digest– und LifeMagazinen. Und nun löste sich der Erdboden tief unter ihr auf und wurde zu einem Muster aus braunen und dunkelroten Quadraten, die sich, von ihrem Schaukelstuhl ausgehend, in einem Kreis ausbreiteten wie Wellen auf einem See. Ralph erkannte sofort, was es war – der Linoleumküchenboden im Haus in der Kansas Street, wo er aufgewachsen war. Zuerst konnte er den Erdboden noch darunter erkennen, die Geometrie des Farmlands, und nicht weit entfernt davon den Kenduskeag, der durch Derry floß, aber dann gewann der Fußboden an Festigkeit. Ein geisterhafter Fleck, wie Pusteblumen, wurde zu Futzy, der alten Angorakatze seiner Mutter, die sich auf dem Fenstersims zusammengerollt hatte und die Möwen betrachtete, die über der alten Müllhalde in den Barrens kreisten. Futzy war etwa zu der Zeit gestorben, als Dean Martin und Jerry Lewis aufgehört hatten, Filme zusammen zu machen.
[Der alte Mann hatte ganz recht, mein Junge. Du hast dich nicht in langfristige Geschäfte einzumischen. Hör auf deine Mutter und halte dich von allem fern, was dich nichts angeht. Paß gut auf.]
Hör auf deine Mutter… Paß gut auf. Diese Worte faßten Bertha Roberts’ Ansichten über die Kunst und Wissenschaft der Kindererziehung ziemlich gut zusammen, nicht wahr? Ob es sich um den Befehl handelte, nach dem Essen eine Stunde zu warten, bevor man schwimmen ging, oder darauf zu achten, daß einem der alte Halsabschneider Butch Bowers nicht eine Menge verfaulte Kartoffeln unten in den Korb getan hatte, den man holen gehen sollte, der Prolog (Hör auf deine Mutter) und der Epilog (Paß gut auf) waren stets dieselben. Und wenn man nicht auf sie hörte, und wenn man nicht aufpaßte, mußte man mit Mutters Zorn rechnen, und dann helfe einem Gott.
Sie hob die Nadeln auf und fing wieder an zu stricken, wobei sie die scharlachroten Maschen mit Fingern weiterschob, die selbst ein wenig rot aussahen. Ralph vermutete, daß das nur eine Illusion war. Möglicherweise war die Farbe auch nicht völlig echt und färbte auf seine Finger ab.
Seine Finger? Was war denn das für ein dummer Fehler. Ihre Finger.
Andererseits…
Nun, sie hatte kleine Büschel von Schnurrbarthaaren an den Mundwinkeln. Lange. Irgendwie wüst. Und unbekannt. Ralph konnte sich an einen feinen Flaum auf ihrer Oberlippe erinnern, aber ein Schnurrbart? Auf keinen Fall. Der war neu.
Neu? Neu? Was denkst du da? Sie ist zwei Tage nach dem Attentat auf Robert Kennedy in Los Angeles gestorben, also was, in Gottes Namen, kann neu an ihr sein?
Zwei konvergierende Wände waren auf beiden Seiten von Bertha Roberts entstanden, sie bildeten die Küchenecke, wo sie soviel Zeit verbracht hatte. An einer hing ein Gemälde, an das Ralph sich noch gut erinnern konnte. Es zeigte eine Familie beim Essen – Dad, Mom, zwei Kinder. Sie reichten sich Kartoffeln und Mais und sahen aus, als würden sie sich darüber unterhalten, wie ihr Tag jeweils verlaufen war. Niemand bemerkte, daß sich eine fünfte Person in dem Zimmer befand -ein Mann in einem weißen Gewand, mit sandfarbenem Bart und langem Haar. JESUS CHRISTUS, DER UNSICHTBARE GAST, stand auf einer Plakette unter diesem Bild. Aber der Christus, an den sich Ralph erinnerte, hatte gütig und ein wenig verlegen ausgesehen, weil er lauschte, ohne daß sie es merkten. Diese Version dagegen sah kalt und berechnend aus… abschätzend… möglicherweise richtend. Und er hatte eine dunkle, fast cholerische Gesichtsfarbe, als hätte er etwas gehört, das ihn in Wut versetzte.
[»Mom? Bist du -«]
Sie legte die Nadeln wieder auf die rote Decke – diese seltsam glänzende rote Decke – und hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.
[Komm mir nicht mit Moms daher, Ralph – hör mir einfach zu und paß auf. Halt dich da raus! Es ist zu spät für dein Einmischen und Herumalbern. Du kannst nur alles noch schlimmer machen.]
Die Stimme war richtig, aber das Gesicht stimmte nicht und stimmte immer weniger. Am deutlichsten zeigte es sich an der Haut. Glatt und ohne Runzeln – ihre Haut war Bertha Roberts’ einzige Eitelkeit gewesen. Die Haut der Kreatur im Schaukelstuhl war rauh… sogar mehr als rauh. Sie war schuppig. Und seitlich am Hals befanden sich zwei Geschwülste (oder waren es Geschwüre?). Als er das sah, regte sich eine schreckliche Erinnerung (nimm es von mir runter, Johnny, oh bitte NIMM ES RUNTER) tief unten in seinem Verstand. Und -
Nun, ihre Aura. Wo war ihre Aura?
[Vergiß meine Aura und vergiß diese fette alte Hure, mit der du herumgezogen bist… obwohl ich wette, daß sich Carolyn gerade im Grab umdreht.]
Der Mund der Frau (keine Frau dieses Ding ist keine Frau) auf dem Schaukelstuhl war nicht mehr klein. Die Unterlippe war nach außen geschwollen und hing herunter. Der Mund selbst hatte einen sabbernden, höhnischen Ausdruck angenommen. Einen seltsam vertrauten sabbernden, höhnischen Ausdruck.
(Johnny, es beißt mich, ES BEISST MICH!)
Auch die Barthaare an den Mundwinkeln hatten etwas gräßlich Vertrautes.
(Johnny, bitte, seine Augen, seine schwarzen Augen)
[Johnny kann dir nicht helfen, mein Junge. Er hat dir damals nicht geholfen, und er kann dir auch jetzt nicht helfen.]
Natürlich nicht. Sein älterer Bruder Johnny war vor sechs Jahren gestorben, Ralph war bei der Beerdigung Sargträger gewesen. Er war an einem Herzanfall gestorben, wahrscheinlich ebenso vom Zufall diktiert wie der, an dem Bill McGovern gestorben war, und -
Ralph sah nach links, aber die Pilotenseite des Cockpits war ebenfalls verschwunden, und Ed Deepneau mit ihr. Ralph sah den alten Gasherd und Holzofen, wo seine Mutter in dem Haus in der Kansas Street gekocht hatte (eine Aufgabe, die sie ihr Leben lang bitter verabscheut und schlecht erfüllt hatte), und den Bogen zum Eßzimmer. Er sah den Eßtisch aus Ahornholz. Ein Glaskrug stand in der Mitte. Der Krug war prallvoll mit leuchtenden roten Rosen. Jede schien ein Gesicht zu haben… ein blutrotes Gesicht mit aufgerissenem Mund…
Aber das ist falsch, dachte er. Völlig falsch. Sie hatte nie Rosen im Haus – sie war allergisch gegen fast alles, was geblüht hat, und bei Rosen war es am schlimmsten. Sie nieste wie verrückt, wenn sie in ihre Nähe kam. Ich habe sie nur einmal ein Indianerbukett auf den Tisch stellen sehen, und das bestand nur aus Herbstgräsern. Ich sehe Rosen, weil -
Er betrachtete wieder die Kreatur in dem Schaukelstuhl, die roten Finger, die nun zu Anhängseln zusammengeschmolzen waren, die fast wie Flossen aussahen. Er betrachtete die scharlachrote Masse, die auf dem Schoß der Kreatur lag, und die Narbe an seinem Arm fing wieder an zu kribbeln.
Was, in Gottes Namen, geht hier vor?
Aber er wußte es selbstverständlich; er mußte nur von dem roten Ding im Schaukelstuhl zu dem Bild sehen, das an der Wand hing, das Bild des Heilands mit dem scharlachroten Gesicht und der bösen Miene, der der Familie beim Abendessen zusah, um es zu bestätigen. Er war nicht in seinem alten Haus in der Kansas Street, und er war auch nicht exakt in einem Flugzeug über Derry. Er befand sich am Hof des Scharlachroten Königs.
Kapitel 29
Ohne darüber nachzudenken, warum er es tat, schob Ralph eine Hand in die Tasche des Pullovers und nahm einen von Lois’ Ohrringen. Seine Hand schien weit entfernt zu sein, wie eine Hand, die jemand anderem gehörte. Und ihm fiel etwas Interessantes auf: Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie Angst gehabt, bis jetzt. Keinmal. Er hatte geglaubt, daß er Angst hatte, aber das war eine Illusion gewesen – er war nur ein einziges Mal kurz davor gewesen, nämlich in der öffentlichen Bibliothek von Derry, als Charlie Pickering ihm ein Messer in die Achselhöhle gebohrt und gedroht hatte, er würde ihm die Eingeweide aus dem Leib schneiden. Aber das war nichts weiter als ein gelinder Augenblick des Unbehagens, verglichen mit dem, was er jetzt empfand.
Ein grüner Mann kam…er schien gut zu sein, aber ich könnte mich irren.
Er hoffte, daß sie das nicht getan hatte; er hoffte es mit aller Kraft. Denn der grüne Mann war alles, was er jetzt noch hatte.
Der grüne Mann, und Lois’ Ohrringe.
[Ralph! Komm zu dir! Sieh deine Mutter an, wenn sie mit dir redet! Siebzig Jahre, und du benimmst dich immer noch, als wärst du sechzehn, mit einem schlimmen Fall von Pimmelausschlag!]
Er drehte sich zu dem Ding mit den roten Flossen um, das auf dem Schaukelstuhl saß. Jetzt hatte es nur noch vage Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Mutter.
[»Du bist nicht meine Mutter, und ich befinde mich immer noch in dem Flugzeug.«]
[Das bist du nicht, mein Junge. Mach dir nichts vor. Ein Schritt aus meiner Küche hinaus, und dir steht ein langer Absturz bevor.]
[»Du kannst jetzt ruhig aufhören. Ich kann sehen, was du bist.«]
Das Ding sprach mit einer blubbernden, erstickten Stimme, die Ralphs Rückgrat in eine dünne Eisbahn verwandelte.
[Das stimmt nicht. Du denkst es vielleicht, aber es stimmt nicht. Du würdet mich nie und nimmer ohne eine meiner Verkleidungen sehen wollen. Glaub mir, Ralph, wirklich nicht.]
Er stellte mit wachsendem Entsetzen fest, daß sich das MutterDing in einen gewaltigen weiblichen Katzenwels verwandelt hatte, einen hungrigen Gründler mit Stummelzähnen zwischen den wulstigen Lippen und Barthaaren, die fast’ zum Kragen der Bluse reichten, das es noch trug. Die Kiemen an seinem Hals öffneten und schlössen sich wie Rasiermesser und gaben den Blick auf entzündetes rotes Fleisch frei. Die Augen waren rund und purpurn geworden, und die Höhlen glitten vor Ralphs Augen auseinander. Das ging so lange, bis die Augen sich seitlich am schuppigen Gesicht der Kreatur wölbten, und nicht mehr vorn.
[Beweg keinen Muskel, Ralph. Du wirst wahrscheinlich bei der Explosion sterben, auf welcher Ebene du dich auch befinden magst – die Druckwellen breiten sich hier wie in jedem Gebäude aus -, aber dieser Tod wird immer noch wesentlich besser sein als der Tod durch mich.]
Der Katzenwels riß das Maul auf. Die Zähne umgaben ein blutrotes Maul, das voll von seltsamen Eingeweiden und Geschwülsten zu sein schien. Es schien ihn auszulachen.
[»Wer bist du? Bist du der Scharlachrote König?]
[Das ist Eds Name für mich – wir sollten einen eigenen haben, findest du nicht? Mal sehen. Wenn du nicht möchtest daß ich Mom Roberts bin, warum nennst du mich dann nicht Kingfish? Du erinnerst dich doch noch an Kingfish aus dem Radio, oder?]
Ja, natürlich erinnerte er sich… aber der echte Kingfish war nie in Amos ‘n Andy gewesen, und er war eigentlich auch kein Kingfish gewesen. Der echte Kingfish war ein Queenfish gewesen, und der hatte in den Barrens gelebt.
An einem Sommertag des Jahres, in dem Ralph Roberts sieben geworden war, hatte er beim Angeln mit seinem Bruder John einen riesigen Katzenwels aus dem Kenduskeag gezogen – das war in den zwanziger Jahren gewesen, als man noch essen konnte, was man in den Barrens fing. Ralph hatte seinen älteren Bruder gebeten, das konvulsivisch zuckende Ding für ihn vom Haken zu nehmen und in den Eimer mit frischem Wasser zu werfen, den sie neben sich am Ufer stehen hatten. Johnny hatte sich geweigert und unbekümmert zitiert, was er den Anglerkodex nannte: Gute Angler befestigen ihre Köder selbst, graben ihre Würmer selbst aus und lösen ihren Fang selbst vom Haken. Erst später war Ralph klar geworden, daß Johnny vielleicht nur versucht hatte, seine eigene Angst vor der riesigen und irgendwie außerirdisch wirkenden Kreatur zu verbergen, die sein kleiner Bruder an dem Tag aus dem trüben, pißwarmen Wasser des Kenduskeag gezogen hatte.
Ralph hatte es schließlich fertiggebracht, den pulsierenden Körper des Katzenwelses anzufassen, der glitschig, schuppig und stachelig zugleich zu sein schien. Dabei hatte Johnny, um ihm Angst zu machen, zu ihm gesagt, er solle sich vor den Barthaarenhüten. Sie sind giftig. Bobby Therriault hat mir gesagt, wenn man sich an einem sticht, kann man gelähmt werden. Den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen. Also sei vorsichtig, Ralphie.
Ralph hatte das Tier hierhin und dorthin gedreht und versucht, den Haken aus den dunklen, nassen Innereien zu lösen, ohne die Hände auch nur in die Nähe der Barthaare zu bringen (er glaubte Johnny das mit dem Gift nicht, aber gleichzeitig glaubte er auch jedes Wort), und dabei war er sich überdeutlich der Kiemen, der Augen und des Fischgeruchs bewußt gewesen, der ihm mit jedem Atemzug tiefer in die Lunge einzudringen schien.
Schließlich hatte er Knorpel im Inneren des Katzenwelses reißen hören und gespürt, wie sich der Haken löste. Frische Blutströme liefen aus dem schnappenden Maul des sterbenden Tiers. Ralph stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus -zu früh, wie sich herausstellte. Als sich der Haken löste, schlug der Katzenwels gewaltig mit dem Schwanz aus. Die Hand, mit der Ralph ihn befreit hatte, rutschte ab, und plötzlich schloß sich das blutende Maul des Katzenwels um die ersten beiden Finger von Ralphs Hand. Wieviel Schmerz hatte er gespürt? Viel? Wenig? Vielleicht gar keinen? Ralph konnte sich nicht erinnern. Aber an Johnnys aufrichtigen, ungespielten Schreckensschrei und an seine eigene Überzeugung, daß der Katzenwels sich an ihm rächen würde, weil er ihn tötete, indem er ihm die beiden ersten Finger der rechten Hand abbiß, daran konnte er sich noch genau erinnern.
Er erinnerte sich, wie er selbst geschrien und die Hand geschüttelt und Johnny angefleht hatte, ihm zu helfen, aber Johnny hatte sich mit blassem Gesicht und vor Ekel verzerrtem Mund abgewendet. Ralph hatte die Hand wie verrückt geschüttelt, in weiten Bögen, aber der Katzenwels hatte sich festgeklammert wie der leibhaftige Tod, die Barthaare (giftige Barthaare, die mich für den Rest meines Lebens an den Rollstuhlfesseln) schlugen und flatterten gegen Ralphs Handgelenke, und die schwarzen Augen des Fischs glotzten ihn an.
Schließlich hatte er ihn gegen einen Baum in der Nähe geschlagen und ihm das Rückgrat gebrochen. Der Fisch war immer noch zuckend ins Gras gefallen, und Ralph war mit dem Fuß daraufgetreten, was den ultimativen Horror nach sich zog. Ein Schwall Gedärme quoll aus dem Maul des Fischs, und aus der Stelle, die Ralphs Absatz aufgerissen hatte, ergoß sich eine schleimige Flut blutiger Eier. Da war ihm klar geworden, daß der Kingfish in Wirklichkeit ein Queenfish und nur einen oder zwei Tage vom Laichen entfernt gewesen war.
Ralph hatte von der grausigen Masse auf seine eigene blutige, schuppenübersäte Hand gesehen und geheult wie eine Todesfee. Als Johnny seine Hand berührte, um ihn zu beruhigen, war Ralph ausgerissen. Er hatte erst aufgehört zu laufen, als er zu Hause angekommen war, und er hatte sich den Rest des Tages geweigert, sein Zimmer zu verlassen. Es hatte fast ein Jahr gedauert, bis er wieder Fisch gegessen hatte, und mit Katzenwelsen hatte er nie wieder etwas zu tun gehabt. Das heißt, bis heute.
[»Ralph!«] Das war Lois’ Stimme… aber aus der Ferne. Aus weiter Ferne!
[»Du mußt sofort etwas unternehmen! Laß dich nicht von ihm aufhalten!«]
Jetzt sah Ralph, daß das, was er für eine Strickdecke auf dem Schoß seiner Mutter gehalten hatte, in Wirklichkeit eine glänzende Matte blutiger Eier auf dem Schoß des Scharlachroten Königs war. Er beugte sich über diese pulsierende Decke zu ihm, und seine wulstigen Lippen bebten in gespielter Fürsorge.
[Stimmt was nicht, Ralphie? Wo tut es weh? Sag es Mutter.]
[»Du bist nicht meine Mutter.«]
[Nein – ich bin der Queenfish! Ich bin gut drauf und stolz darauf. Ich hob den Swing, und ich hob das Ding! Tatsächlich kann ich sein, was ich will. Du weißt es vielleicht nicht, aber Verwandlungen haben eine altehrwürdige Tradition in Derry.] [»Kennst du den grünen Mann, den Lois gesehen hat?«]
[Selbstverständlich! Ich kenne jeden in der Nachbarschaft!]
Aber Ralph bemerkte einen Ausdruck flüchtiger Verwirrung in dem Schuppengesicht.
Die Hitze in seinem Unterarm nahm weiter zu, und da kam Ralph plötzlich eine Erkenntnis: Wenn Lois jetzt hier wäre, würde sie ihn kaum sehen können. Der Queenfish verströmte ein pulsierendes, immer heller werdendes Leuchten, das ihn allmählich einhüllte. Das Leuchten war rot statt schwarz, aber es war nichtsdestotrotz ein Leichentuch, und jetzt wußte er, wie es war, wenn man sich darin befand, in einem aus seinen schlimmsten Ängsten und traumatischsten Erlebnissen geflochtenen Netz. Es gab keinen Weg hinaus und keine Möglichkeit, es durchzuschneiden, so wie er das Leichentuch um Eds Trauring herum durchgeschnitten hatte.
Wenn ich entkommen will, dachte Ralph, muß ich es tun, indem ich so schnell und energisch vorwärts laufe, daß ich auf der anderen Seite durchbrechen kann.
Den Ohrring hielt er immer noch in der Hand. Jetzt drehte er ihn so, daß die ungeschützte Spitze auf der Rückseite zwischen den beiden Fingern herausragte, die der Katzenwels vor dreiundsechzig Jahren hatte fressen wollen. Dann sprach er ein kurzes Gebet, aber nicht zu Gott, sondern zu Lois’ grünem Mann.
Der Katzenwels beugte sich weiter nach vorne, und die Karikatur eines höhnischen Grinsens breitete sich auf seinem nasenlosen Gesicht aus. Die Zähne in diesem schlaffen Grinsen sahen jetzt länger und spitzer aus. Ralph sah Perlen einer klaren Flüssigkeit an den Enden der Barthaare und dachte: Gift. Wirst den Rest deines Lebens im Rollstuhl verbringen. Mann, ich hob solche Angst. Todesangst.
Lois, aus weiter Ferne kreischend: [»Beeil dich, Ralph! DU MUSST DICH BEEILEN!«]
Ein kleiner Junge schrie irgendwo, viel näher; schrie und schwenkte die rechte Hand, schwenkte den Fisch, der sich an seinen Fingern festgebissen hatte, die im Maul eines schwangeren Monsters steckten, das nicht loslassen wollte.