Текст книги "Das letzte Relikt"
Автор книги: Robert Masello
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12. Kapitel
Nicht mehr lange, und es würde dämmern. Vor nur wenigen Momenten war der Himmel noch tiefschwarz gewesen, und jetzt schimmerte er bereits in einem tiefen kräftigen Indigoblau. Ezra eilte dahin, den Blick auf den Gehweg gerichtet, die Arme vor der Brust verschränkt, um den Mantel geschlossen zu halten.
Er wusste nicht, wohin er ging, und es kümmerte ihn auch nicht. Er wusste nur, dass er aus seinem Zimmer raus musste, raus aus dieser Wohnung, dass er nicht aufhören durfte, sich zu bewegen. Er musste unter Leute, selbst wenn es nur wenige waren, die zu dieser unchristlichen Uhrzeit vereinzelt unterwegs waren, zusammen mit vorbeirumpelnden Bussen und Taxis auf dem Weg zum Depot. Er brauchte die Aktivität, diese absolut banale Alltäglichkeit der Geschäftigkeit, die ihn umgab.
Er brauchte es, um zu vergessen, was in der Nacht geschehen war.
Er hatte gearbeitet. Tat er noch irgendetwas anderes? Die Schriftrolle machte Fortschritte, schneller, als er erwartet hätte. Die Bruchstücke schienen geradezu an die richtigen Stellen zu fallen. Stundenlang hatte er sich in die Arbeit vertieft und wie immer jedes Zeitgefühl verloren. Der CD-Player hatte zur nächsten CD gewechselt, Beethovens Klavierkonzert Nr. 5. In der zeitweiligen Stille hatte er mit behandschuhten Fingern vorsichtig ein Fragment der Schriftrolle zwischen zwei andere gelegt, und die enge, kunstvolle Handschrift schien zu seinem Entzücken ineinanderzufließen und einen Sinn zu ergeben. Doch als er den Kopf tiefer gebeugt hatte, um seine Arbeit zu begutachten, hatte er eine Stimme gehört, die etwas in sein Ohr flüsterte, so deutlich wie er das Ticken seiner Armbanduhr hörte. Die Worte waren nicht zu entziffern gewesen, als handele es sich um eine fremde Sprache, und doch war die Bedeutung irgendwie klar. Sie lautete ja … mach weiter.
Und es klang, als würde sich der Sprecher direkt über seine Schulter lehnen.
Er riss den Kopf zurück und wirbelte auf seinem Stuhl herum. Sein Nacken kribbelte, und sein Herz pochte heftig.
Aber da war niemand. Im Raum war keiner außer ihm selbst.
Dabei hatteer die Stimme gehört. Und er hatte einen Atemzug gespürt, einen warmen Lufthauch an seiner Wange.
Dann setzte leise das Klavierkonzert ein.
Er stand von seinem Stuhl auf, die Beine fühlten sich ein wenig schwach an. Die Vorhänge am Fenster, die doppelten Vorhänge, die Gertrude auf seine Bitte hin aufgehängt hatte, bewegten sich – kaum wahrnehmbar, aber sie bewegten sich. Mit zögernden Schritten ging er auf sie zu. Hielt sie fest. Zog sie auseinander.
Er spürte einen leichten Zug, ein kühler Windhauch drang durch die Ritzen im Türrahmen der Terrassentür. Aber die Türen waren geschlossen, und der Balkon war leer.
Er war allein im Zimmer.
Er kehrte zum Schreibtisch zurück und blickte auf seine Arbeit hinunter. Die Oberfläche des Tisches war zur Hälfte mit Bruchstücken und Teilen der Schriftrolle bedeckt, die er gewissenhaft ausgebessert und zusammengefügt hatte. Er hatte sie sogar schon ansatzweise übersetzt und festgestellt, dass es sich tatsächlich um das Buch Henoch handelte. Er hatte also recht gehabt, verdammt recht. Es war Henochs Bericht von seiner Reise gen Himmel, und von dem, was er dort erblickt hatte. Der Text handelte von Engeln, die hell um den Thron Gottes herum erstrahlten, und von anderen, den gefallenen, die in Ungnade gefallen waren. Der Text handelte von einem kommenden Krieg. Von einer Seuche, die auf Erden wüten würde. Es war ein Traum, es war eine Prophezeiung … und sie gehörte ihm. Niemand anders hatte sie gesehen, niemand hatte sie gelesen, seit Tausenden von Jahren. Manchmal fühlte sich das Gewicht dieser Entdeckung wie ein Hammer im Inneren seines Kopfes an, der drohte, seinen Schädel zu zertrümmern.
Und vielleicht war genau das heute Nacht geschehen, dachte er. Vielleicht hatte sich ein klitzekleiner Spalt in seinem Schädel aufgetan, nur für den Bruchteil einer Sekunde, und das Geräusch dieser Stimme entweichen lassen. Vielleicht war die Stimme gar nicht von außen gekommen; womöglich war sie aus dem Inneren seines eigenen Kopfes gekommen. Der zweigeteilte Geist war wieder bei der Arbeit.
Ein Löschzug der Feuerwehr raste mit heulenden Sirenen über die First Avenue, mehrere Taxis im Kielwasser. Eine Limousine hielt am Bordstein an, und ein Mädchen im glitzernden Partykleid, das seine Schuhe in den Händen hielt, stieg aus. Ein paar Tauben kreuzten im perfekten Gänsemarsch seinen Weg. Wie die Beatles auf dem Cover von Abbey Road, dachte er.
Der Himmel war dunkelblau, aber die Sonne ging auf.
Ezra ging weiter. Wenn er an einer Straßenecke anhalten musste, um auf Grün zu warten, lief er auf der Stelle weiter. Er brauchte dieses Gefühl von Bewegung, das Gefühl, Energie zu verbrauchen. Er musste seine Schritte auf dem Gehweg hören, die Autos, die vorbeirauschten – irgendetwas, solange es nicht die Stimme in seinem Ohr war.
Ein Mann in einem Blumenladen spritzte den Bürgersteig ab, hielt aber inne, um Ezra vorbeizulassen.
Vor einem japanischen Restaurant, das Ezra gelegentlich besucht hatte, stand ein hölzerner Bottich mit frischem Fisch. Als er vorbeiging, schien ein großer Fisch mit glitzernden silbernen Schuppen ihn mit totem Blick zu fixieren.
Er hastete weiter. Mit jeder Minute nahm der Verkehr zu. Die Sonne war endgültig aufgegangen. Der Besitzer eines koreanischen Lebensmittelladens rollte das schwere Metallgitter hoch, das seine Tür und sein Schaufenster bedeckte.
Ezra ging weiter. Je länger er unterwegs war, desto besser fühlte er sich. Die Stimme in seinem Ohr verstummte allmählich. Es war gut, draußen zu sein, gut, die Morgenluft und den Puls des Lebens um sich herum zu spüren. Vielleicht sollte er das regelmäßig machen. Vielleicht sollte er anfangen, lange Spaziergänge zu machen, etwas Sport zu treiben.
Bevor er sich dessen bewusst war, stand er an der Ecke zur neunundachtzigsten Straße, der Straße, in der sein Onkel Maury wohnte. Er bemerkte es erst, als er vor der alten Wiener Bäckerei stehenblieb, in der sein Onkel seine Plunderstückchen am liebsten kaufte. Die Tür zur Bäckerei war geschlossen, aber im Inneren brannte Licht, und er sah eine Frau, die ein Tablett mit orangefarbenen Halloweenkeksen in den Schaukasten schob.
Leise klopfte er gegen die Glasscheibe in der Tür. Wäre es nicht eine nette Überraschung, seinen Onkel mit seinem Lieblingsgebäck zu wecken?
Die Frau kam um den Tresen herum und wischte sich die Hände an der Schürze ab.
»Haben Sie schon geöffnet?«, rief Ezra durch die Tür. »Kann ich schon etwas kaufen?«
Sie beugte sich vor, nur um gleich darauf wieder zurückzuweichen. »Wir haben geschlossen«, sagte sie und wandte sich ab.
Geschlossen? Sie hatte ausgesehen, als wollte sie nach dem Schlüssel greifen, um ihn einzulassen. Um welche Uhrzeit öffneten sie? Er trat selbst einen Schritt zurück, um zu sehen, ob er ein Schild mit den Öffnungszeiten entdecken konnte. Dann sah er sein Spiegelbild im Glas. Ein Mann mit glasigem Blick, Stoppelbart und zerzaustem Haar, den Mantel eng um sich geschlungen, blickte ihm entgegen. Erst jetzt stellte er fest, dass einer seiner Schuhe nicht zugeschnürt war.
Kein Wunder. Er überlegte, ob er noch einmal klopfen und versuchen sollte, die Frau von seiner geistigen Gesundheit zu überzeugen, doch sie war bereits im Hinterzimmer verschwunden, wo sie zweifellos darauf wartete, dass er verschwand.
Er überquerte die Straße und ging an einer Reihe baufälliger Backsteinhäuser vorüber. Sein Onkel wohnte im dritten Stock, nach vorne raus, und Ezra wusste, dass er einen leichten Schlaf hatte und früh aufstand. Vor der Treppe, auf der jemand eine leere Bierflasche abgestellt hatte, blieb er stehen und schaute hoch zum Fenster seines Onkels. Das Licht war auf jeden Fall an.
Im Foyer klingelte Ezra, aber er kannte seinen Onkel und wartete die Antwort nicht ab, sondern trat wieder nach draußen auf die Straße. Er wusste, dass sein Onkel am Fenster stehen und auf den Bürgersteig schauen würde, um herauszufinden, wer ihn belästigte.
Als er sah, wie der Vorhang zurückgezogen wurde, winkte er. Maury, noch im Bademantel, starrte zu ihm hinunter, als wollte er eine unwahrscheinliche Information verarbeiten. Schließlich ließ er den Vorhang einfach fallen, und als Ezra wieder im Foyer war, summte die Tür, und er konnte sie aufstoßen.
Als er um den Treppenabsatz bog, hatte Maury seine Tür weit geöffnet. »Was zum Teufel hast du denn so früh morgens hier zu suchen?« Dann, als sei ihm etwas Schreckliches eingefallen, fügte er hinzu: »Dein Vater? Ist mit ihm alles in Ordnung?«
»Soweit ich weiß, geht es ihm gut. Er ist immer noch mit Kimberly in Palm Beach.«
Ezra ging in die Küche, durch die man das Apartment betrat. Alle Zimmer der Wohnung lagen in einer Reihe hintereinander, wie bei einem Eisenbahnwaggon. Erst kam die Küche, dann das Schlafzimmer und nach vorne raus das Wohnzimmer.
»Willst du einen Kaffee?«, fragte sein Onkel und deutete auf ein Glas mit Folger’s Instantkaffee auf der Arbeitsplatte. »Ich wollte mir gerade einen machen.«
»Ja, das wäre klasse. Ich habe an der Wiener Bäckerei angehalten, um dir ein Plunderstückchen mitzubringen, aber sie haben mich nicht reingelassen.«
Maury lachte leise auf. »Das kann ich ihnen nicht verdenken. Du siehst aus, als wärst du gerade aus der Klapse entwischt.«
In gewisser Weise fühlte er sich auch genau so. Diese gespenstische Stimme, tief, eindringlich und seltsam unheilvoll, hallte erneut in seinem Kopf wider.
Maury nahm einen zweiten Becher aus dem Abtropfgestell, löffelte etwas löslichen Kaffee hinein. »Willst du ihn stark?«, fragte er, und als Ezra nickte, fügte er weitere Löffel hinzu. Er goss das kochende Wasser ein und ging dann voraus ins Wohnzimmer.
Sein Onkel setzte sich in seinen Relaxsessel aus weißem Kunstleder mit Heizkissen und Massagefunktion, und Ezra nahm ihm gegenüber auf dem Sofa Platz. Von den Wänden hingen die Tapeten wie Schriftrollen herunter.
»Ich warte immer noch auf eine Antwort«, sagte sein Onkel. »Das ist keine übliche Zeit für einen Besuch. Was ist los?«
Ezra nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Ich konnte nicht schlafen und habe einfach einen Spaziergang gemacht.«
»Gertrude hat mir erzählt, dass du nachts überhaupt nicht mehr schläfst. Sie sagt, dass du nicht vor der Morgendämmerung zu Bett gehst und erst am Nachmittag aufstehst. Was treibst du nachts, Ezra?«
»Ich arbeite.«
»Kannst du nicht tagsüber arbeiten wie die meisten Menschen?«
»In der Nacht ist es besser. Ruhiger. Weniger Unterbrechungen.« Bis auf diese spezielle Nacht natürlich.
Maury wirkte nicht überzeugt. »Was sagt deine Ärztin dazu? Diese Dr. Neumann?«
»Ich habe nicht mit ihr darüber geredet.«
»Vielleicht solltest du das tun. Sie verschreibt dir doch Medikamente, gegen die Stimmungsschwankungen und so?«
»Ja«, sagte Ezra. Er schaute hinunter auf seine Tasse und staunte über die Art und Weise, wie das Lampenlicht in buntschillernden Kreisen auf der Oberfläche des heißen Kaffees reflektiert werden konnte. Er hatte Dr. Neumann nichts von seiner Schlaflosigkeit erzählt, da er wusste, dass sie ihm nur ein Schlafmittel verschreiben würde, und Schlaf war nicht das, was er wollte. Nicht solange er eine so aufregende Arbeit machte und an so bahnbrechendem Zeug dran war. Die einzigen Mittel, die er von ihr verschrieben haben wollte, waren die Pillen, die ihm halfen, sich zu konzentrieren, ihn wach hielten und weit genug beruhigten, damit er sich ganz der im Moment vor ihm liegenden Arbeit widmen konnte.
Das war der Grund, weshalb er ihr auch nichts von der Stimme erzählen würde, nicht erzählen konnte, die er diese Nacht gehört hatte, genauso wenig, wie er seinem Onkel davon erzählen konnte. Er wusste, wohin das führen könnte: bestenfalls zu endlosen Therapiesitzungen, schlimmstenfalls würde er gegen seinen Willen eingewiesen werden. Die Schriftrolle fügte sich Stück für Stück zusammen, aber es war eine irrsinnige Aufgabe, die einen glatt verrückt machen konnte. In der Tat war genau das vielen seiner Vorgänger passiert, wie Ezra besser als jeder andere wusste. Der Erste, der diesen Fluch zu spüren bekommen hatte, war Shapira gewesen, jener Mann, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts als Erster einige alte Manuskripte am Ufer des Toten Meers entdeckt hatte. Zu seinen Lebzeiten hielt man seine Entdeckungen für Fälschungen. Nichts, so folgerten die Forscher damals, hätte so lange in solch unwirtlichem Klima überdauern können. Nachdem Shapira lange Jahre berufliche Verachtung und Zurückweisung hatte erdulden müssen, mietete er sich in einem Hotel in Rotterdam ein und jagte sich eine Kugel in den Kopf. Nach den erstaunlichen Funden von Qumran 1947 war Shapira rehabilitiert. Andere machten dort weiter, wo er aufgehört hatte, oft genug mit ähnlich fatalen Folgen. Schriftrollenforscher waren bekannt dafür, leicht dem Wahnsinn und der Verzweiflung anheimzufallen, für ihren Alkohol-und Drogenmissbrauch und ihre Neigung zu Selbstmord. All das kam ziemlich regelmäßig vor, und einen solchen Fall kannte Ezra sogar persönlich. Eine Australierin, die bedeutendste Autorität in Bezug auf die Religion der Essener, hatte im Schrein des Buches in Jerusalem mit den Schriftrollen vom Toten Meer gearbeitet. In weniger als zwei Jahren war sie zu einer brabbelnden Fanatikerin geworden, die über die bevorstehende Apokalypse phantasierte und vor einem allgegenwärtigen Gespenst davonlief, das sie den Schattenmann nannte. Bei einer Konferenz in Haifa stürzte sie auf das Podium, und nachdem sie etwas über die Söhne des Lichts geschrien hatte, zündete sie sich selbst an. Sie überlebte mit schweren Verbrennungen und wurde nach Hause nach Melbourne geschickt, wo sie, seinen letzten Informationen nach, unter starken Medikamenten und permanenter Betreuung in einem privaten Sanatorium lebte.
Ezra wusste also, dass man sich sehr gut im Griff haben musste, wenn man die Schriftrollen studierte.
»Gertrude hat mich gestern angerufen«, sagte sein Onkel Maury in diesem Moment. Ezra blickte von seinem Kaffee auf. »Sie hatte ein paar Neuigkeiten, und sie will sie dir heute erzählen, sobald du aufgewacht bist.«
»Was ist es denn?«
»Dein Vater und Kimberly kommen aus Palm Beach zurück. In ein paar Tagen werden sie wieder in New York sein.«
Das waren in der Tat Neuigkeiten. Direkt nach dem Streit am Abendbrottisch hatten sie ihre Sachen gepackt und waren ohne ein Wort in sonnigere Gefilde geflüchtet.
»Dein Vater ist nicht unbedingt ein Typ, mit dem man einfach zurechtkäme«, gab Maury zu, »und manchmal weiß ich nicht, wie deine Mutter es all die Jahre mit ihm ausgehalten hat. Aber wenn du in der Wohnung bleiben willst, und Gertrude sagte mir, dass du das willst, dann solltest du etwas mehr dafür tun. Du musst dich mehr bemühen, Ezra.«
Natürlich hatte sein Onkel recht, obwohl Ezra keine Ahnung hatte, wie diese Bemühungen aussehen könnten. Wenn seine Mutter noch leben würde, wäre es kein Problem. Sie war auf alles stolz gewesen, was er getan hatte, sei es das Bild eines Pferdes, das er gemalt hatte, oder weil er bei einer Spielshow im Fernsehen die richtigen Antworten erraten hatte. Es war sein Vater, dem das, was er tat, niemals gut genug war. Es war sein Vater, der stets glaubte, sein Sohn sei ihm nicht gewachsen. Der nichts von dem verstand, was Ezra Spaß machte oder für das er sich interessierte. Alles, worauf Sam Metzger sich verstand, war, wie man Geld verdiente, indem man Bürogebäude, Parkhäuser und Einkaufszentren hochzog. Was er auch anfasste, verwandelte sich in Gold, während alles, was Ezra berührte, zu Staub zerfiel.
Aber die Schriftrolle würde alles ändern. Was Ezra hier tat, würde die ganze Welt aufhorchen und von ihm Notiz nehmen lassen. Und dann würde sein Vater ihn endlich wahrnehmen und zugeben müssen, dass Ezra etwas getan hatte, etwas von so großer Tragweite, wie selbst er, der große Sam Metzger, es nicht geschafft hatte. Wenn dieser Tag käme, würde es der süßeste in Ezras Leben sein.
Und er war nicht mehr weit entfernt.
Doch was sollte er ihm in der Zwischenzeit als Friedensangebot anbieten? Einen Kuchen backen? Ihnen einen Brief mit einer Entschuldigung auf das Kopfkissen legen? »Ich versuche nur, meine Arbeit zu machen«, sagte er schlicht.
»Gut. Tu das«, sagte Maury, stellte seinen Kaffeebecher auf den Fußboden und rappelte sich aus dem Sessel auf. Das morgendliche Sonnenlicht strömte durch die schmutzigen Fenster in die Wohnung. »Ich könnte jetzt ein paar Plunderstücke vertragen. Wie sieht’s mit dir aus?«
»Ich zahle«, sagte Ezra.
»Das überlass lieber mir«, sagte Maury. »Dich werden sie nicht einmal in den Laden lassen.«
13. Kapitel
»Ist es in Ordnung, wenn ich die Frage direkt an Professor Russo richte?«, fragte Katie, und Carter, der sich die Bühne des Hörsaals mit ihm teilte, sagte:
»Nur zu.«
Katie stand auf und stützte sich auf die Rückenlehne des Sitzes vor ihr. Joe und Carter standen links und rechts der Dia-Leinwand, auf dem die künstlerische Darstellung eines fliegenden Pterodactyls zu sehen war. »Professor Cox glaubt, dass Vögel die modernen Abkömmlinge der Dinosaurier sind«, sagte Katie, »und dass einige Dinosaurier, einschließlich des Fossils, das wir in der letzten Vorlesung gesehen haben, sogar Federn hatten. Ich weiß, dass es eine große Diskussion darüber gibt. Welche Position nehmen Sie dabei ein?«
Carter hätte sich denken können, dass Katie versuchen würde, ihn dranzukriegen. Sie war die klügste Studentin in diesem Kurs, aber sie stiftete gerne Unruhe, und Joes Anwesenheit verschaffte ihr die perfekte Gelegenheit dazu. Es war fast, als hätte sie erraten, dass dies eine der wenigen Fragen in der Paläontologie war, bei der sie nicht einer Meinung waren.
Joe stopfte die Hände in die Taschen seines Tweedjacketts und sah aus, als überlege er, wie er darauf antworten sollte. Ehrlich sein oder sich der Meinung seines Gastgebers beugen?
»Ja, Sie haben recht. Über diesen Punkt wird viel gestritten«, sagte er, um Zeit zu gewinnen. Als er seine Hände wieder aus den Taschen nahm, hatte er ein Streichholzheftchen in der einen und ein zerknautschtes Päckchen Nazionalis in der anderen Hand. Er klopfte eine Zigarette heraus und war gerade dabei sie anzünden, als ein paar Studenten lachten und Carter erklären musste:
»Joe, tut mir leid, aber hier drin darfst du nicht rauchen.«
Einen Moment lang wirkte Joe ratlos, als habe er nicht einmal mitbekommen, dass er überhaupt eine Zigarette anstecken wollte, dann schnipste er das Streichholz aus. »Ja, natürlich.«
»Ich habe gelesen, dass man in Madagaskar einige Fossilien gefunden hat«, warf Katie ein, »die eine Art Tier darstellen, das Federn an den Unterarmen besitzt, wie ein Vogel. Aber es weist auch Klauen auf, die wiederum eher an einen Dinosaurier denken lassen.«
»Ich weiß. Ich glaube allerdings, dass dort ein Fehler gemacht wurde. Ich vermute, dass bei der Grabung Teile verschiedener Tiere entdeckt wurden. Für mich«, sagte Joe und blickte entschuldigend zu Carter hinüber, »gibt es immer noch zu viele … wie sagt man … offene Fragen. Ich kann zum Beispiel bei Vögeln keinen Daumenansatz erkennen«, er hob seinen eigenen in die Höhe und wackelte damit, »wie wir es bei den Dinosauriern haben. Ich sehe die Ähnlichkeiten, ja, zwischen Vögeln und einer Linie der Dinosaurier …«
»Den Theropoden?«, machte Katie sich wichtig.
»Ja. Sie haben Ihrem Professor gut zugehört«, sagte Joe lächelnd, »doch selbst zu diesen Theropoden, den Fleischfressern, gibt es keine eindeutige Verbindung.« Er zuckte die Achseln. »Aber darum geht es schließlich in der Wissenschaft. Debatten, Diskussionen und Entdeckungen. Ich könnte mich irren und mein Freund Carter letztendlich recht behalten. Das ist möglich. Und da Sie in seinem Kurs sitzen und nicht in meinem, denke ich, dass Sie lieber mit seiner Sichtweise übereinstimmen sollten.«
Es gab vereinzeltes Gelächter im Hörsaal, und Carter wollte schon nach vorn treten und wieder für Ruhe sorgen, als ein anderer Student fragte: »Herrscht unter europäischen Forschern Konsens in diesen ganzen Fragen? Unterscheidet sich die europäische Sichtweise von der amerikanischen? Was zum Beispiel denkt die italienische Wissenschaftsgemeinde?«
»Sie wollen, dass ich für ganz Europa spreche, oder auch nur für Italien?«, fragte Joe mit großen Augen, und Carter sagte: »Mach ruhig. Soweit ich weiß, schneidet niemand mit, was du sagst. Die Bühne gehört dir.«
Joe ging mehr in die Mitte, und Carter zog sich in den Schatten im Hintergrund zurück, was genau der Platz war, an dem er heute sein wollte. In der Nacht hatte er schlecht geschlafen, und selbst jetzt kehrten seine Gedanken immer wieder zu den Ereignissen rund um die Anlieferung des Fossils zurück.
Als er endlich so weit gewesen war, seine eigenen Untersuchungen anzustellen, hatte Carter sich voller Energie in die Arbeit gestürzt. Er hatte die Ketten entfernt, die den Felsen auf der Plattform festhielten, und die breiten gelben Klebestreifen abgerissen, mit denen die Plastikplane befestigt war. Dann hatte er vorsichtig von oben nach unten die Plane selbst aufgeschnitten, so dass die Stücke sich vom Felsen lösten wie Blütenblätter, die sich weit öffneten und schließlich matt herunterhingen. Schließlich lagen die Plastikstreifen gleich einem Nest um den Stein herum. Der Felsen selbst war das reinste Wunder. Ein massiver unebener körniger Block, voller Furchen und Rillen, der überall glitzerte und aus einer Vielzahl unterschiedlichster Mineralien bestand. Geologie war noch nie Carters Stärke gewesen, aber selbst er konnte mit bloßem Auge erkennen, dass dieses besondere Exemplar ein sehr langes und ereignisreiches Leben hinter sich hatte. Jeder hätte es erkennen können.
»In Italien ist die Regierung sehr knauserig, was die Bewilligung von Geldern angeht, so dass wir nur sehr schlecht Zugang zu moderner Technik haben. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass wir gerne nachdenkenund mit Theorienarbeiten«, sagte Joe gerade. »Erst später versuchen wir, Beweise zu finden, die unsere Theorie belegen.«
Die Studenten lachten erneut, und eine weitere Frage wurde gestellt. Erleichtert stellte Carter fest, dass Joe sich für die Aufgabe erwärmte. Er wusste, dass sein Freund ein guter Dozent war, und vermutete, dass er bei seinen eigenen Studenten in Rom ziemlich beliebt war.
Aber an jenem ersten Abend im Labor hatte er wesentlich weniger Interesse und Begeisterung gezeigt, als Carter erwartet hätte. Vielleicht war die ganze Sache für ihn schlichtweg enttäuschend. Joe hatte sich zurückgehalten und nur gelegentlich einen Kommentar abgegeben oder eine Feststellung gemacht, während Carter auf dem Felsen herumgeklettert war wie ein Kind auf dem Baum. Einmal hatte er sich flach oben auf den Stein gelegt und versucht, sich vorzustellen, was in seinem Inneren versteinert worden war. Wie lag das Fossil? Welche Knochen waren noch erhalten? Was würden sie ihm möglicherweise über die Evolution und die prähistorische Welt verraten?
»Du solltest vorsichtig sein. Immerhin liegst du auf einer tickenden Zeitbombe«, hatte Joe gesagt und ihn damit an die Kammern mit explosiven Gasen erinnert, die sie beide im Felsen eingeschlossen vermuteten.
»Solange ich das verdammte Ding nicht punktiere, dürfte ich in Sicherheit sein«, hatte Carter erwidert. Doch er wusste, dass dieser Zeitpunkt kommen würde. Letztendlich würden sie einen Weg finden müssen, den Stein wegzumeißeln, zu schmirgeln, zu hacken, zu sprengen oder gar zu lasern, der den Rest des Fossils gefangen hielt. Bis jetzt konnte man nur erkennen, was man von Anfang an erkennen konnte. Diese lange gebogene Klaue, die sich aus dem Felsen zu graben schien. Carter hatte bereits zahllose Fossilien aus allen Teilen der Welt zu Gesicht bekommen, aber so etwas hatte er noch nie gesehen. Es war nahezu unmöglich, es in Worte zu fassen oder es jemandem zu vermitteln, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, aber von diesem Fossil schien eine unbeschreibliche Lebendigkeitauszugehen. Es gab kein besseres Wort, um es zu beschreiben. Als Carter nicht widerstehen konnte und die Greifkrallen streichelte, fühlte es sich nicht an, als würde er eine lang verstorbene Kreatur berühren, ein verkalktes, verknöchertes, versteinertes Ding. Er hatte das Gefühl, ein … schlafendes Wesen anzufassen. Und obwohl er wusste, dass er sich irren musste, dass sein Eindruck unmöglich richtig sein konnte, hatte er das Gefühl, das Ding sei merklich, vielleicht sogar messbar wärmer als der Stein, der es umgab.
»Der Beckenknochen und auch das Schambein sind beim Madagaskarfossil noch sehr primitiv ausgebildet«, erklärte Joe gerade. »Für die späte Kreidezeit ist das eher ungewöhnlich.«
»Haben Sie irgendeine Erklärung dafür, wie das geschehen sein könnte?«, fragte Katie.
»Möglicherweise Isolation. Auf einer Insel kann eine Spezies unter Umständen länger überleben als auf dem Festland. Sie kann eine eigene Entwicklung durchgemacht haben, einen eigenen Nebenweg der Evolution eingeschlagen haben, in ihrem eigenen Tempo, ihrer eigenen … Nische.«
Wohl wahr, dachte Carter. Vielleicht ließen sich damit einige der Anomalien des Fundes in Madagaskar erklären. Aber ihr eigenes Vorzeigefossil vom Lago d’Averno? Im Laufe der Jahrmillionen war der italienische Stiefel, wie alle anderen modernen Länder und Kontinente, gewandert und hatte sich verändert, aber seit mehr als zweihundert Millionen Jahren war er Teil dessen, was Geowissenschaftler Laurasia nennen. Das heutige Italien war niemals in irgendeiner Weise undurchdringlich für extraterritoriale Einflüsse oder Mutationen gewesen. Selbst die alpidische Faltung, die sich im Känozoikum vollzogen hatte, war aus Sicht der Geologie keine große Sache gewesen.
»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«, bat Katie, und Carter spitzte die Ohren.
»Fragen Sie, dann werden wir sehen«, erwiderte Joe gutmütig.
»Warum sind Sie hier in New York? Besuchen Sie nur Ihren alten Freund Professor Cox, oder sind Sie zum Arbeiten hergekommen?«
Seltsam, wie dieses Mädel ins Schwarze treffen konnte. Selbst Joe wirkte perplex und warf Carter einen raschen Blick zu, gerade als es zum Ende der Stunde läutete.
»Ein wenig von beidem«, sagte Carter über den Lärm hinweg. »Die gute Nachricht ist, dass Professor Russo Ihnen auf informeller Basis zur Verfügung stehen wird. Und die schlechte Nachricht ist, dass unsere Arbeit Sie – um es professionell auszudrücken – nichts angeht. Ich sehe Sie nächste Woche. Vergessen Sie nicht, mir Ihre Semesterarbeiten in mein Postfach im Fachbereichsbüro zu legen.« Während die Studenten auf den Ausgang zuströmten, wandte er sich an Joe: »Und, wie gefällt es dir, in den Staaten zu unterrichten?«
Joe wiegte seinen Kopf vor und zurück. »Gar nicht so schlecht. Aber es wäre besser, wenn ich dabei rauchen könnte.«
»Für eine Sondererlaubnis müsstest du dich an den Chef des Fachbereichs wenden.«
»Und die würde ich bekommen?«
»Eher nicht.«
Nach dem Lunch in der Kantine der Fakultät, wo Joe das zweifelhafte Vergnügen hatte, den Fachbereichsleiter Stanley Mackie kennenzulernen, verbrachten sie den Rest des Tages im Labor. Der Argon-Laser war geliefert worden, und ein Techniker vom Fachbereich Medizin brauchte mehrere Stunden, um Carter und Joe die Anwendung zu erklären. Im Großen und Ganzen hatte Carter das Gefühl, zu wissen, wie er das Teil bedienen musste, aber er würde es nicht vor nächster Woche ausprobieren. Und selbst dann würde er es erst an den Proben des Smilodontesten, die kürzlich der Universität gespendet worden waren. Erstens waren sie nichts Besonderes, und zweitens hatten sie keine gefährlichen Gase in sich eingeschlossen.
Um Punkt sechs Uhr, als er immer noch in das Handbuch des Lasers vertieft war, ertönte draußen ein lautes Hupen, direkt hinter den Metalltoren des Labors.
»Carter?«, sagte Joe.
»Hm?«, machte Carter ohne aufzublicken.
»Ich glaube, deine Freunde sind da.«
Carter konnte es nicht glauben, bis er auf die Uhr schaute. Er hatte mit Beth ausgemacht, dass er um sechs Uhr bereit sei für ihren Ausflug aufs Land, und um es ihm leichter zu machen, hatte sie vorgeschlagen, Ben und Abbie zu bitten, mit dem Wagen direkt bis vor die Labortür zu fahren.
Carter warf das Handbuch in die Reisetasche zu seinem anderen Kram und zog seine Lederjacke an. »Und du kommst wirklich allein zurecht?«, fragte er Joe.
»Ich bin ein großer Junge«, sagte Joe. »Und heute Abend gehe ich auf eine New Yorker Party«, sagte er und wedelte mit der Einladung zu Bill Mitchells vorgezogener Halloween-Feier herum. »Viel Spaß!«
Das Auto hupte erneut, und Carter schlüpfte aus der Tür.
Beth saß hinten, und Carter rutschte neben sie. »Tut mir leid, hoffentlich habe ich euch nicht zu lange warten lassen«, sagte er und stellte seine Füße auf die Reisetasche.
»Kein Problem«, sagte Ben und drehte sich um, während er zurücksetzte.
»Wir wollten unterwegs anhalten und zu Abend essen«, sagte Abbie vom Vordersitz. »Es gibt ein kleines nettes Restaurant, mit einem Elchkopf über der Bar und so was, etwa anderthalb Stunden von hier.«
»Klingt großartig«, sagte Beth und drückte Carters Hand auf dem Rücksitz. Mittlerweile saßen sie nur noch zusammen auf der Rückbank eines Wagens, wenn sie Taxi fuhren, und dann mussten sie sich gut festhalten. Dies hier war wesentlich romantischer.
»Beth hat uns erzählt, du würdest an etwas sehr Spannendem arbeiten«, sagte Ben, während der Wagen durch den dichten Verkehr auf der Houston Street westwärts kroch.
»Kannst du uns verraten, was es ist?«, fragte Abbie, »oder ist diese Information geheim?«
Beth fragte sich, was Carter darauf antworten würde. Normalerweise war er sehr verschlossen, was seine Forschungsarbeit anging, und bei diesem Projekt ganz besonders. Sie hatte bereits ein schlechtes Gewissen, weil sie es überhaupt erwähnt hatte.
»Es ist anders als alles, was ich bisher gesehen habe«, sagte er. Die Verwunderung in seiner Stimme überraschte Beth. »Ein massiver Block aus vorwiegend vulkanischem Gestein, aber mit einem eingebetteten Fossil, das anscheinend perfekt erhalten geblieben ist.«
»Und das ist selten?«, fragte Ben über die Schulter und navigierte durch die Autoschlangen. Wie sie selbst, versuchten die meisten Leute, zum West Side Highway zu gelangen.