Текст книги "Das letzte Relikt"
Автор книги: Robert Masello
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Carter durchsuchte seine Taschen, fand die Umschläge und reichte Ezra, worum dieser gebeten hatte.
»Danke«, sagte Ezra und öffnete die hintere Tür des Wagens. »Wir müssen uns morgen zusammensetzen und unsere Aufzeichnungen vergleichen.«
Carter nickte nur, als der Wagen anfuhr. Und obwohl er sich fühlte, als hätte er an Ort und Stelle Wurzeln geschlagen, raste sein Verstand mit einer Meile pro Sekunde dahin. Nichts von all dem ergab einen Sinn, und es war lächerlich, so zu tun als ob. Das Fossil, das Pergament – die Knochen, die Haut – waren Teil einer ausgeklügelten List, irgendeiner bizarren Intrige, eines Scherzes. Es mussteso sein. Wenn Bill Mitchell nicht tot wäre, wäre er der Erste, den Carter in Verdacht hätte, hinter allem zu stecken. Aber Mitchell wartot, und dieser Teil war beileibe kein Scherz. Der Einsatz war bereits viel zu hoch. Joe war fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.
Es konnte kein Spiel sein und auch keine Intrige.
Irgendetwas musste da vor sich gehen. Ein schreckliches Drama offenbarte sich, und Carter befürchtete, dass er, ob er wollte oder nicht, dazu bestimmt war, eine Hauptrolle darin zu spielen.
32. Kapitel
Ezras Mut hatte neuen Auftrieb erhalten. Endlich waren seine Befürchtungen durch Beweise untermauert worden. Für einen Mann, der wusste, dass der Wahnsinn stets um die Ecke lauerte, war es seltsam tröstlich, herauszufinden, dass selbst die unmöglichsten Gedanken, die er erwogen hatte, vielleicht doch möglich waren.
Er war nicht verrückt. Allerdings schien das Universum es irritierenderweise zu sein.
Er schaute aus dem hinteren Wagenfenster und grübelte über das nach, was er gerade in Permuts Labor erfahren hatte. Die Schriftrolle bestand aus dem lebendigen Gewebe eines Lebewesens unbestimmter Herkunft. Beim Fragment des Fossils handelte es sich um Knochen derselben unidentifizierten Quelle.
Aber war diese Kreatur das, wofür er sie hielt? Und wer – oder was – hätte sie bei lebendigem Leib häuten können?
»Kimberly geht’s immer noch mies«, sagte Maury auf dem Vordersitz und unterbrach seine Gedanken. »Und sie finden auf Teufel komm raus nicht heraus, was sie eigentlich hat.«
Das überraschte Ezra nicht. Wenn seine Vermutung stimmte, dass es etwas mit ihrem Last-Minute-Partygast zu tun hatte, dann würden sie nie darauf kommen.
»Dein Dad ist gerade bei ihr.«
Davon war Ezra ausgegangen, und das war der Grund, warum er ihr jetzt einen Besuch abstatten wollte. Es war eine Gelegenheit, sich mit ihm zu versöhnen. Außerdem gehörte es sich einfach, ermahnte er sich, unter diesen Umständen.
Das Krankenhaus war ohnehin schon exklusiv, doch der Flügel mit Kimberlys Suite lag noch einmal besonders abgeschieden. Hier waren die Flure mit teurem Teppichboden belegt, die Wände mit farbenfrohen Drucken dekoriert, und die Türen bestanden aus poliertem Mahagoni. Für Ezra sah es eher nach einem kleinen europäischen Hotel aus als nach einem Krankenhaus, was zweifelsohne auch beabsichtigt war. Sein Vater saß im Vorraum, als Ezra eintraf, und schaltete gerade sein Handy aus.
»Ich habe Maury gesagt, dass er nicht auf uns zu warten braucht«, sagte er zu Ezra, »aber natürlich musste er wieder mit mir streiten.« Er warf das Telefon auf das Sofapolster.
»Wie geht es Kimberly?«
»Vor einer halben Stunde hatte sie einen hysterischen Anfall, hat sich alle Schläuche herausgerissen und angefangen zu delirieren.«
»Worüber?«
»Worüber?« Verwirrt blickte sein Vater ihn an. »Sie redete wirr, nichts davon ergab einen Sinn.«
»Erzähl es mir trotzdem.«
»Über Vögel und Feuer. Sie wurde von Vögeln angegriffen, deren Flügel aus Feuerbestanden. Zufrieden?«
Ezra merkte sich die Information, um sie am nächsten Tag an Carter und Russo weiterzugeben. Wer wusste schon, ob irgendein Hinweis sich als wichtig erweisen würde?
Eine Krankenschwester in weißer Uniform mit marineblauen Paspeln, die eher nautisch als medizinisch wirken sollte, kam aus dem Patientenzimmer. Sie trug ein Tablett mit einer Spritze und anderem Krimskrams. »Sie ist jetzt stark sediert und wird bis zur Operation morgen früh durchschlafen.« Sie lächelte Sam und Ezra zu und verschwand.
»Was für eine Operation?«, fragte Ezra seinen Vater. »Haben sie herausgefunden, was ihr fehlt?«
»Nicht ganz.« Sein Vater hatte sein Anzugjackett auf das Sofa gelegt, und ließ sich jetzt, nur in Hemdsärmeln, hineinsinken. Auf der Brusttasche war natürlich sein Monogramm eingestickt, und die Manschettenknöpfe glitzerten. »Eine Blutvergiftung. Organversagen. Das Einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass sie schwanger ist.«
Ezra war nicht völlig überrascht, und sein Vater bemerkte es. »Du wusstest es?«, fragte er.
»Ich wusste, dass sie meine Zimmer als Kinderzimmer einrichten wollte.«
»Dazu wäre es nie gekommen.«
Einen Moment lang schöpfte Ezra Mut. War es am Ende doch möglich, dass sein Vater nie vorgehabt hatte, ihn durch ein neueres und jüngeres Modell zu ersetzen? Doch dann begriff er, was es wirklich bedeutete.
»Ich habe mich schon vor Jahren sterilisieren lassen«, räumte sein Vater ein. »Als du noch ein Teenager warst.«
Schweigen breitete sich aus. Sam begriff, wie es auf Ezra wirken musste, aber es war zu spät, um die Worte zurückzunehmen. Ezra musste mit dem Schlag fertig werden. »Am Anfang habe ich ihr nichts gesagt«, erklärte sein Vater, »warum auch? Und später, als ich feststellte, was sie sich wünschte, sollte sie nicht erfahren, dass ich es ihr nicht geben kann.«
Es dürfte so ziemlich das Einzige sein, das er ihr nicht geben konnte, dachte Ezra.
»Ich wollte sie nicht verlieren«, sagte Sam, und in diesem Moment begriff Ezra zum ersten Mal, dass sein Vater Kimberly tatsächlich und aufrichtig liebte. Er war nicht einfach nur ein alter Mann, der in ein hinreißendes junges Ding vernarrt war, wie Ezra und wahrscheinlich der Rest der Welt gedacht hatten. Die Tatsache, dass sie jetzt schwanger war, musste ein schwerer Schlag für ihn sein.
»Es ist mir völlig egal, wer … dafür verantwortlich ist«, sagte Sam, als er Ezras Gedanken erriet. »Jetzt spielt es ohnehin keine Rolle mehr.«
Ezra dachte an die blauen Flecken, die er auf ihrem Körper gesehen hatte, und war froh, jetzt mit Bestimmtheit zu wissen, dass sein Vater nichts damit zu tun hatte.
»Die ganze Sache ist völlig aus dem Ruder gelaufen«, fuhr Sam fort. »Die einzige Möglichkeit, ihr Leben zu retten, ist eine Abtreibung gleich morgen früh. Danach, so sagte man mir, wird sie nie wieder Kinder bekommen können.«
»Nach diesem brauche ich auch keine mehr«, sagte Kimberly, die schwankend in der Tür zu ihrem Zimmer aufgetaucht war. Sie trug ein langes blassrosa Nachthemd, und die Infusionsschläuche, die am Rollständer befestigt waren, steckten immer noch in ihrem Arm.
Doch was Ezra am meisten schockierte, war ihr Bauch. Selbst unter dem Nachthemd konnte er die Schwellung ihres Unterbauchs erkennen. Noch einen Tag zuvor war nichts zu sehen gewesen, und jetzt sah sie aus, als könnte sie jeden Moment ein Kind gebären. Wann war das geschehen? Wiekonnte das geschehen?
»Warum bist du nicht im Bett?«, fragte Sam und stand vom Sofa auf. Falls er ebenso schockiert war wie Ezra, so merkte sein Sohn nichts davon. Aber wie hatte sie es bei den ganzen Beruhigungsmitteln, die sie bekommen hatte, überhaupt geschafft, aufzustehen?
»Ich muss zu ihm«, sagte sie und schob eine feuchte Haarsträhne zurück, die in ihrem Gesicht klebte. »Er ist der Einzige, der dafür sorgen kann, dass es aufhört.«
»Dass was aufhört?«, fragte Sam und ging zu ihr. »Ezra, ruf die Krankenschwester.«
»Das Feuer.«
»Hier ist kein Feuer«, sagte Sam und ergriff behutsam ihren Arm. Doch noch während Ezra zusah, zog sein Vater die Finger zurück und schüttelte sie in der Luft, als hätte er sich verbrannt.
Kimberly lachte irre. »Ich habe es dir gesagt.«
Ezra wollte zur Tür gehen, um eine Schwester zu rufen, aber er blieb wie gelähmt stehen. Kimberlys Blick flackerte auf, als sei in ihrem Inneren ein Feuer entfacht worden, das langsam zu einer lodernden Flamme anwuchs.
»Was zum Teufel …« Sams Worte verloren sich, während er zurückwich und auf die Flurtür zuschwankte.
Stöhnend krümmte Kimberly sich zusammen und umklammerte ihren Bauch. »Mach, dass es aufhört«, murmelte sie durch zusammengebissene Zähne.
Ezra packte sie, ehe sie vornüberkippte, und ihre Blicke trafen sich. Es war, als blickte er in den Krater eines Vulkans, kurz vor dem Ausbruch.
»Schwester! Doktor! Wir haben einen Notfall!« Sein Vater war draußen im Flur und schrie sich die Lunge aus dem Leib.
»Bring es um«, sagte Kimberly. Ihr Atem war so heiß, dass Ezra spürte, wie er sein Gesicht verbrannte, dann brach sie zusammen. Der Ständer mit den Infusionsschläuchen krachte zu Boden. Ezra drehte sie um. Ihre Haut war heiß wie ein Bügeleisen. Als er in ihre Augen sah, könnte er schwören, dass dort noch jemand war, Etwas, das ihn aus Kimberlys glühend gelben Augen heraus ansah.
»Platz da!«, sagte der Arzt und schob Ezra zur Seite. Der Notfallwagen rollte ratternd ins Zimmer.
»Zum Teufel«, rief der Arzt aus und blies sich auf die verbrannten Fingerspitzen.
»Töte es«, wimmerte Kimberly zwischen zwei heißen keuchenden Atemzügen. »Ich halte es nicht länger aus.«
»Eis! Wir müssen sie in ein Eisbad legen!«
Die Krankenschwestern wuselten hektisch durcheinander.
Schockiert hockte Ezra sich neben sie auf den Boden, sein Gewicht ruhte auf den Händen, als sie plötzlich in Zuckungen ausbrach. Sie presste die Hände auf ihren Leib und grub die Finger in die eigene Haut, als versuchte sie, sich das Baby selbst herauszureißen. Sie hob die Knie bis zur Brust hoch, und ein Blutstrom ergoss sich unvermittelt über den Boden.
Dem Arzt wurde eine Spritze gereicht, doch seine Hände zitterten so heftig, dass er sie nicht entgegennehmen konnte. »Ich … kannes nicht tun!«
Eine Schwester schnappte sich die Spritze und versuchte es selbst. Dieses Mal verschwand die Nadel im Arm, brach jedoch ab, als Kimberly sich unter Schmerzen wand.
»Wir brauchen einen Druckverband – sofort!«, schrie die Schwester.
Kimberlys Bauch schien anzuschwellen, wie ein Luftballon, den man plötzlich noch einmal kräftig aufgepumpt hatte. »Bringt mich um!«, schrie sie im Todeskampf, »tötet mich!«
Sie warf den Kopf zurück, und sie stieß einen Schrei voller Angst und Verzweiflung aus, einen Schrei, der Ezra durch Mark und Bein ging … und in den jemand einzufallen schien. Er könnte schwören, dass er noch eine Stimme gehört hatte, ein gedämpftes Wehklagen in ihrer Gebärmutter.
Selbst der Arzt und die Schwester hielten schockiert inne. Sie hatten es ebenfalls vernommen.
Und dann lag Kimberly vollkommen still, ihr Körper auf dem mit Blut bedeckten Boden erschlaffte, die Augen schlossen sich und der Mund klappte auf. Die Spitzen ihrer Haare knisterten wie Draht unter Spannung, um schließlich ebenfalls Ruhe zu geben.
»Völliges Organversagen«, sagte der Arzt benommen und mit monotoner Stimme.
Ezra wusste, dass sie es nicht schaffen würden, sie zurückzuholen, egal, wie sehr sie sich abmühten.
Nach dem, was sie durchgemacht hatte, hatte er den Verdacht, dass sie es ohnehin vorziehen würde, tot zu bleiben.
33. Kapitel
Für Russo gab es am Tag nicht viel, worauf er sich freuen konnte. Da waren die kurzen Morphinschübe, die er sich selbst verabreichen konnte, indem er den schwarzen Knopf drückte, der neben seiner verbrannten Hand auf dem Bett lag, genau neben dem roten Rufknopf. Da waren die Träume, in denen er sich verlieren konnte, davon, wie er in dem Vorort von Rom aufgewachsen war und mit den Freunden seiner Kindheit die uralten Ruinen erforscht hatte. Und da war die zärtliche Fürsorge einer hübschen jungen Schwester namens Monica.
Heute hatte sie ihm während des Verbandswechsels alles über die Verabredung vom vorigen Abend erzählt. Als sie die antiseptische Salbe aufgetragen hatte, hatte sie ihn mit den neuesten Schlagzeilen versorgt. Er sah ihr gerne in die Augen. Sie waren dunkel und strahlten, und sie zeigten kein Entsetzen bei seinem Anblick. Vielleicht, weil sie schon so viele Brandopfer gesehen hatte. »Dr. Baptiste hat mir gesagt, dass es bei Ihnen nächste Woche mit den Hauttransplantationen losgeht«, erzählte sie ihm jetzt.
»Ach ja?«, murmelte Russo durch seine immer noch schwarzen Lippen.
»Das ist gut«, sagte Monica und hob behutsam seinen linken Unterarm an, um frische Salbe aufzutupfen.
Der Schmerz war immer noch ungeheuer, und Russo drückte den schwarzen Knopf für eine weitere Dosis Morphin.
Monica bemerkte es und sagte: »Tut mir leid, ich weiß, dass es wahnsinnig wehtun muss.«
Russo hätte ihr gerne widersprochen, aber er konnte nicht. Vorsichtig legte Monica seinen Arm wieder zurück. »Das war’s für heute.«
Er hätte sich gefreut, wenn sie noch bleiben könnte. Wenn sie einfach nur ein wenig neben seinem Bett sitzen und ihm von ihrem Tag erzählen würde, von ihren Freunden, von was immer sie wollte. Aber er wusste, dass sie noch andere Patienten hatte, um die sie sich kümmern musste.
Das Morphin würde ihn ohnehin schon bald in seine Träume entführen. Wenn er Glück hatte, würden es gute Träume sein. Wenn nicht, würden es Albträume sein, von knisternden Flammen, von Stürzen aus großen Höhen in bodenlose Tiefen. Leider gab es keine Möglichkeit, vorher zu wissen, was für ein Traum es sein würde.
»Sie möchten, dass ich Sie damit zudecke, richtig?«, fragte Monica und hielt eine Ecke des Plastik-Sauerstoffzelts in der Hand.
»Da ich Sie ohnehin nicht mehr ansehen kann«, wisperte Russo, »ja.«
Monica lachte. »Durch das Plastik sehe ich besser aus«, sagte sie und senkte die Folien, bis sie beinahe seine Schultern und Brust berührten. Sie behinderten zwar seinen Blick, aber er wusste, dass ihm nicht viel entging. Wie lange konnte man die Rückseite einer Tür und die billige Reproduktion eines van Goghs anstarren? Die kühle frische Luft erleichterte ihm das Atmen, und das leise Surren des Sauerstofftanks wirkte beruhigend, wie das Heranrollen der Wellen am Meeresstrand.
Er war sich nicht sicher, wie viel Zeit verstrichen war, als er hörte, wie die Tür zu seinem Zimmer geöffnet und wieder geschlossen wurde. Waren es fünf Minuten? Eine halbe Stunde? Durch die dicke Folie sah er eine Gestalt vor dem van Gogh stehen. Es war nicht Monica, so viel war sicher, und es war auch nicht Dr. Baptiste. Die Gestalt war hochgewachsen und ganz in Schwarz gekleidet.
Ihm stockte der Atem.
Es war ein Mann, sehr blass, mit blonden, nein leuchtend goldenen Haaren.
Ich bin gekommen, um dir zu danken,hörte Russo, wobei er nicht sicher war, ob der Mann tatsächlich gesprochen hatte oder ob die Worte einfach nur irgendwie in seinen Kopf gelangt waren.
Russo streckte die Finger auf dem kühlen Bettlaken aus und suchte nach dem roten Knopf, mit dem er die Schwester rufen konnte. Aber er war nicht dort. Monica musste ihn verlegt haben, als sie seine Verbände gewechselt hatte.
Ich wünschte, ich könnte es dir vergelten.
Du könntest mir die Schmerzen nehmen,dachte Russo und fragte sich, ob seine Gedanken wohl ebenfalls den Empfänger erreichten. Zugleich überlegte er, ob das alles womöglich nur ein ungewöhnlich lebhafter Morphintraum war.
Die Gestalt kam näher, und durch das Plastik des Sauerstoffzelts erkannte Russo, dass sie eine kleine bernsteinfarbene Sonnenbrille trug. Das lange Haar war gleich goldenen Flügeln aus der Stirn gestrichen. Die Gestalt zog einen Stuhl neben das Bett und setzte sich.
Russos Herz erfüllte sich mit Grauen. Das musste Arius sein, der gefallene Engel, wie Ezra ihn beschrieben hatte. Die Gestalt aus Licht, die in jener entsetzlichen Nacht dem Felsblock entstiegen war.
Du weißt, wer ich bin.
Erneut tasteten Russos Finger blindlings nach dem Rufknopf, doch stattdessen erwischten sie den Morphinknopf. Er gab sich selbst eine weitere Dosis. Wenn das ein Traum war, brauchte er vielleicht nur noch tiefer einzutauchen, um ihm zu entkommen.
Aber bin ich der Einzige?
»Ich hoffe es«, sagte Russo. Unter dem Sauerstoff klangen die Worte gedämpft.
Arius stutzte, als überlegte er, wie er das zu verstehen hatte. Dann hallten die Worte Erinnerst du dich, was ich dir einmal sagte?in Russos Kopf wider.
Arius streckte den Arm aus und berührte Russos Hand, mit der er nach dem Rufknopf suchte. Mit etwas, das sich anfühlte wie eine Kralle, kratzte er einen Streifen der verbliebenen schmerzempfindlichen Haut ab. Russo stöhnte, aber auch dieses Geräusch wurde von dem Plastik und dem ständigen Murmeln des Sauerstofftanks gedämpft.
Leiden ist ein Geschenk Gottes.
Russo streckte die Hand, die nur noch aus Schmerz zu bestehen schien, zum Nachttisch neben dem Bett aus. Arius verfolgte seine Anstrengungen, und als Russo Mühe hatte, die Schublade zu öffnen, übernahm er es zuvorkommend für ihn.
Mit bebenden Fingern tastete Russo das Innere ab und umklammerte schließlich das hölzerne Kruzifix, das er darin verwahrte. Er zog es heraus und streckte es Arius entgegen. Sein verbrannter Arm zitterte.
»Weißt du … was das ist?«, stieß Russo hervor. »Jesus Christus … unser Retter.«
Gelangweilt griff Arius danach und nahm ihm das Kreuz fort. Dann lass dich von ihm retten. Er wollte es gerade wegwerfen, doch dann, als hätte er es sich anders überlegt, schob er es stattdessen in die Tasche seines Mantels.
Unter dem Plastikzelt sank Russo zurück in sein Kissen. Er konnte an nichts anderes denken und nichts anderes tun, als zu hoffen, dass jemand, irgendjemand, plötzlich ins Zimmer käme.
»Wie viele von euch«, fragte Arius, »wissen von mir?«
Dieses Mal hatte Russo ihn eindeutig sprechen hören. Die Worte waren in der Luft, nicht in seinem Kopf. Und so entsetzt, wie er war, empfand er die Stimme, die Stimme dieses gefallenen Engels, als klangvoll, beinahe tröstend.
»Nicht viele.«
Arius nickte nachdenklich.
Russo wagte zu fragen: »Aber warum … bist du hier?« War es alles nur ein Versehen, vielleicht das entsetzlichste Missgeschick, das der Menschheit je zugestoßen war?
Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Arius: »Alles geschieht zu einem bestimmten Zweck. Vielleicht war es deine Aufgabe, mich zu befreien.«
Diese Vorstellung war fast zu grauenhaft für Russo, um auch nur darüber nachzusinnen. Der Judas des einundzwanzigsten Jahrhunderts – sollte dasseine Bestimmung sein?
»Meine ist es vielleicht, mich zu vermehren.«
Russo musste einen Moment nachdenken, um das Wort zu verstehen. Vermehren?Er musste es falsch verstanden haben. Unter dem Zelt, mit der summenden Sauerstoffpumpe und dem in seinen Ohren rauschenden Blut, war es schwer, sich wirklich sicher zu sein. Außerdem war es immer noch möglich, dass nichts von dem wirklich geschah, oder etwa nicht? Dass das alles nur ein weiterer furchterregender Traum war, schlimmer noch als die Träume vom Feuer und dem Sturz aus dem Himmel.
»Aber wie?«, murmelte Russo. »Du hast keine Freunde auf der Welt.«
Arius schien darüber nachzudenken, dann tat er es mit einem Achselzucken ab. »Dann werde ich sie erschaffen.« Er beugte sich näher. »Nach meinem Bild.«
Russos Gedanken überschlugen sich. Was könnte er damit gemeint haben? Deutete er damit an, wer er glaubte zu sein?
Und mir schwebt bereits eine … Gefährtin vor,sagte die Stimme in seinem Kopf erneut. Es schien, als sei diese Information so vertraulich, dass sie nicht laut ausgesprochen werden durfte.
Der Engel lächelte, doch seine Lippen bewegten sich nicht. Die Zähne strahlten, wie die eines Wolfes, durch das Plastikzelt. Auf einmal wusste Russo, als sei ihr Bild in seinen Kopf telegraphiert worden, dass es Beth war, die er auserwählt hatte.
Seine Gedanken rasten. Was konnte er tun, um ihn aufzuhalten? Wie konnte er Carter und Beth von seinem Krankenhausbett aus warnen? Auf dem Nachttisch stand ein Telefon, und gerade, als er sich fragte, wie oder ob er es überhaupt benutzen konnte, begann es zu klingeln.
Ungerührt blickte Arius erst auf das Telefon, dann zu Russo. Schließlich nahm er den Hörer ab, hob, ohne ein Wort zu sagen, den Saum des Plastikzelts an und hielt den Hörer, bis Russo imstande war, ihn mit bebenden Fingern selbst zu halten. Obwohl das Plastik nur wenige Zentimeter angehoben war, nahm Russo den Duft von frischem Grün wahr, wie in einem regennassen Wald, der über ihn hinwegwehte.
»Joe? Hier ist Carter.«
Das hatte Russo erwartet.
»Wie geht es dir heute?«
»Bones«, sagte Russo mit kaum hörbarer Stimme, »etwas … Wichtiges passiert hier gerade.« Wie viel würde Arius ihn sagen lassen? Und was würde er tun, wenn Russo versuchte, zu viel auszuplaudern?
»Was? Wäscht die süße Schwester, die du so magst, dich gerade mit dem Schwamm?«
»Nein«, hauchte Russo. »Ich habe … einen Besucher.«
»Ist Beth da? Ich weiß, dass sie dich besuchen wollte.«
»Nein, Bones«, sagte Russo so eindringlich, wie er es schaffte, »es ist derjenige, über den wir sprachen.« Er betete, dass Carter seinen Hinweis verstand.
Und offensichtlich tat er das. Die Stille im Telefonhörer war ohrenbetäubend. Russo konnte sich nur vorstellen, was in Carters Kopf vorging. Glaubte er ihm? Dachte er, er würde phantasieren? Oder sei auf einem Morphintrip?
»Mein Gott«, sagte Carter.
Er glaubte ihm.
»Ich komme«, fügte er leise hinzu. »Kannst du ihn aufhalten? Ich mache mich sofort auf den Weg.«
Arius schob eine Hand unter das Zelt, nahm den Hörer fort und sprach hinein. »Ich muss gehen«, sagte Arius zu Carter.
Russo sah, dass er auflegen wollte, wobei ihm auffiel, dass sein Mittelfinger kürzer zu sein schien als die anderen. Dies war vielleicht die letzte Chance, die er je haben würde, die einzige Gelegenheit, Alarm zu schlagen. »Bones, lass ihn nicht in deine Nähe kommen! Lass ihn nicht in die Nähe von Beth!«
Aber der Hörer lag bereits auf der Gabel.
Wie viel hatte Carter verstanden? Hatte er Russos abgerissenes Krächzen, gedämpft von dem Plastikzelt, überhaupt gehört?
Langsam erhob sich Arius von seinem Stuhl. In dem dunklen Mantel sah er aus wie eine Säule aus schwarzem Rauch, mit einem glühenden Licht an der Spitze.
Russo konnte nicht zulassen, dass er ging, er musste ihn zum Hierbleiben bewegen und, wenn möglich, töten. Aber wie sollte er das anstellen?
Als Arius sich zum Gehen wandte, hob Russo die Beine und schob sie aus dem Bett. Selbst mit all dem Morphin in seinen Adern war der Schmerz unerträglich. Er hatte keine Ahnung, ob seine Beine ihn tragen würden.
Er schob das Plastikzelt beiseite und riss sich die Infusionsschläuche aus den Armen. Jetzt konnte er zum ersten Mal seit jener entsetzlichen Nacht Arius’ Gesicht erkennen. Die perfekten Züge, wie aus makellosem Marmor gemeißelt, die Mähne aus dichtem schimmerndem Haar, die Augen, die ohne zu blinzeln hinter dem bernsteinfarbenen Glas schimmerten.
Russo machte einen Schritt auf ihn zu. Seine Beine zitterten wie die eines neugeborenen Fohlens, und er streckte die verbrannten Arme aus.
Arius trat zurück, und Russo schwankte auf ihn zu. »Ich werde nicht zulassen … dass du ihnen wehtust«, flüsterte er.
Arius lächelte freundlich und breitete seine Arme aus. Russo stürzte sich auf ihn, doch er stolperte und fand sich schließlich in der Umarmung des Engels wieder.
Und ich werde dich nicht leiden lassen.
Einen Moment lang fühlte Russo sich seltsam getröstet. Leicht wie eine Feder hing sein Körper in den Armen des Engels. Es war, als würde er schwerelos in einer Gartenlaube gewiegt.
Doch dann spürte er noch etwas. Ein Funken schien sich in seinem Inneren zu entzünden, tief in seinen Eingeweiden, und der Schmerz war größer als alles, was er bislang erlebt hatte. Zu dem Geruch des Waldes, dem Duft feuchtglänzender Blätter und regennasser Erde, gesellte sich der beißende Geruch von Rauch, von trockenen Spänen, die Feuer fingen. Entsetzt sah Russo Rauch vor seinem Gesicht aufsteigen … Rauch, der aus seinem eigenen Mund und seiner Nase drang. Rauch, der von einem Feuer herrührte, das seinen Körper spürbar von innen verzehrte.
Arius trat beiseite und ließ ihn fallen. Ein Rauchmelder löste Alarm aus und schrillte immer wieder in dem geschlossenen Raum.
Russo lag auf dem Boden. Seine Haut kräuselte sich vom Feuer, das in seinen Adern brannte, und er beobachtete, wie Arius nach dem Türknauf griff. Die Sprinkleranlage ging los und benetzte seine deformierten Glieder mit lauwarmem Wasser. Seine Haut zischte.
Arius ging hinaus und schloss die Tür. Russo sackte zu einem Haufen zusammen und spürte, wie seine Haut Blasen warf, bis schließlich Flammen darunter hervorbrachen. Er versuchte, ein Gebet zu sprechen, aber ehe er auch nur ein Wort sagen konnte, hatte das Feuer den offenen Sauerstofftank gefunden, der immer noch zischend neben dem Bett stand. Der ganze Raum explodierte in einem grellen Ball aus Hitze und Licht. Für Russo wurde es wohlige und ewige Nacht.