Текст книги "Das letzte Relikt"
Автор книги: Robert Masello
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Sie ließ sich noch tiefer in die Wanne sinken, bis das Wasser über ihre Schultern stieg. Mit dem ausgestreckten Fuß konnte sie den Wasserhahn erreichen und das Wasser langsam abdrehen, bis nur noch ein warmes Rinnsal übrig blieb. Sie schloss die Augen und versuchte erneut, den Kopf freizubekommen, aber wie sehr sie es sich auch wünschte, sie schaffte es nicht. Egal, wie angestrengt sie es versuchte, es gab keine Möglichkeit, den Strom der Gedanken aufzuhalten, der unausweichlich und unaufhaltsam zu dem einen Punkt führte, den sie am meisten fürchtete. Arius.
Wo war er jetzt? Was wollte er von ihr? Und wie konnte sie ihn jemals loswerden?
Unwillkürlich verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse, und ein kaltes Grauen ergriff sie, obwohl sie in heißes Wasser getaucht war.
Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden.
Sie öffnete die Augen und sah sich angstvoll im Raum um. Niemand war da.
Blut hatte das Badewasser rosig gefärbt und begann gerade über den Rand der Wanne zu laufen. Was für eine Sauerei, dachte sie, als sie sich aufsetzte und nach dem Wasserhahn griff. Rasch drehte sie daran, aber in die falsche Richtung, und der stärkere Wasserstrahl verursachte noch mehr Spritzer. Verdammt.
Sie drehte erneut am Hahn, dieses Mal in die richtige Richtung, aber das Wasser ließ sich trotzdem nicht ganz abstellen. Vielleicht war der Wasserhahn zu lange nicht benutzt worden und klemmte. Sie zog den Stöpsel aus dem Abfluss, doch dieser widersetzte sich ihr ebenfalls. Ihr blieb nichts anderes übrig, als so schnell wie möglich aus der Badewanne zu steigen, damit der Wasserspiegel sank, und die Pfütze mit ein paar Handtüchern aufzuwischen, ehe sie sich noch weiter ausbreitete. Sie wollte gerade aufstehen, als sie erneut dieses Gefühl hatte, das Gefühl, nicht allein zu sein.
Ihr Blick wanderte zu dem großen unverhängten Fenster. Obwohl es draußen dunkel war und die frisch geputzten Scheiben nur das Innere des Badezimmers reflektierten, ahnte sie eine Bewegung dahinter. So unglaublich es auch schien, aber irgendetwas schwebte auf der Höhe des Dachgeschosses in der Luft. Konnte es sich um einen Vogel handeln? Eine Fledermaus? War es ein Zweig, den sie vorher nicht gesehen hatte und den der Wind jetzt gegen das Glas drückte?
Ihre Hand auf dem Rand der Badewanne erstarrte. Sie traute ihren Augen nicht, als sie sah, wie der untere Rand des Fensters zitterte, als versuchte jemand, es von außen aufzuhebeln. Das Fenster war, wie alles im Haus, frisch gestrichen und quietschte, als es gewaltsam nach oben geschoben wurde.
Das passiert nicht wirklich, sagte sie sich. Das geschieht nicht in Wirklichkeit.
Und dann passierte es.
39. Kapitel
Carter verließ sich mehr auf sein Gedächtnis als auf irgendeinen Orientierungssinn. Er war erst einmal in Bens und Abbies Landhaus gewesen, und während der Fahrt hatte er die ganze Zeit auf der Rückbank gesessen und nicht auf den Weg geachtet.
Aber seine Erfahrung bei den Ausgrabungen hatte ihn offensichtlich nicht im Stich gelassen. Selbst bei dieser einen Gelegenheit musste er sich im Geiste Notizen über das Terrain und Wegmarkierungen gemacht haben. Erst jetzt, als er sich dem Haus näherte, musste er bei jeder Abzweigung, jeder Kurve und jeder Kreuzung lange und gründlich nachdenken. Er konnte es sich nicht leisten, auch nur einen einzigen Fehler zu machen.
Der Wagen hatte Gott sei Dank noch genügend Benzin im Tank und fuhr wie ein Traum. Ehe er in Richtung Norden aufgebrochen war, hatte er Ezra mit Mühe und Not auf die Rückbank bugsiert und ihn einmal um die Ecke direkt zur Notaufnahme des Krankenhauses gebracht. Ein Pfleger war mit einem Rollstuhl herbeigeeilt, und Carter hatte sie zum Aufnahmetresen begleitet. So schnell er konnte, gab er ihnen Ezras Daten, Namen, Adresse und Telefonnummer und einen kurzen Bericht darüber, was geschehen war. »Er ist mit voller Wucht auf den Bordstein gestürzt und genau mit dem Kopf aufgeschlagen.« Seiner Meinung nach war das so nah an der Wahrheit wie nötig. Auf die Frage nach der Krankenversicherung sagte er: »Wissen Sie, wer Sam Metzger ist?«
»Dieser Immobilientyp?«
»Ja«, erwiderter Carter. »Dies hier ist sein Sohn.«
Dann war er zum Auto zurückgerannt und gestartet.
Um diese Uhrzeit herrschte zum Glück nicht viel Verkehr, und sobald er aus der Stadt heraus war, war auf den Straßen so gut wie nichts mehr los. Er erinnerte sich an die Gießerei und die Tankstelle mit den altmodischen Pumpen. Beim Bahnübergang mit dem alten Schild mit Einschusslöchern fiel ihm ein, dass Ben hier einen Witz über den lokalen Sport gemacht hatte. Er wusste, dass er ganz in der Nähe des Hauses sein musste.
Was seine Angst nur noch steigerte. Die ganze Zeit über hatte er versucht sich einzureden, dass alles in Ordnung sein würde und dass Beth hier oben in Sicherheit sei. Er hatte angerufen, aber entweder hatten Ben und Abbie das Telefon noch nicht angemeldet, oder sie hatten eine neue Nummer bekommen. Neben ihm auf dem Beifahrersitz lag das Pyjama-Oberteil mit dem Leopardenmuster, auf Maurys Daily Racing Formund Zigarrenhüllen. Es ging ihr bestimmt gut. Sie war rasch in diesem Schlafzimmer im Dachgeschoss eingeschlafen, und den größten Schrecken würde sie bekommen, wenn es mitten in der Nacht an der Tür klopfte.
Vor sich sah er ein beträchtliches Schlagloch auf der rechten Spur, an das er sich ebenfalls erinnerte. Abbie hatte hier abgebremst, um ausweichen zu können.
Der große alte Baum, der sich über der Einfahrt erhob, musste bald kommen.
Aber was war eigentlich sein Plan? Er musste sich entscheiden, und zwar auf der Stelle. Sollte er einfach hinfahren und an die Tür klopfen? Oder war es vernünftiger, sich leise zu nähern und zuerst die Lage zu peilen?
Da war sie, die alte Eiche, und Carter wurde langsamer. Sich heimlich anzuschleichen wäre das Klügste. Als er in die Auffahrt einbog, schaltete er die Scheinwerfer aus. Unter sich in einer Senke konnte er das Haus erkennen. Abbies Wagen parkte davor. So weit, so gut.
Doch dann gab es einen Rums, und die Reifen begannen wegzurutschen. Er schaltete das Licht wieder an, nur um einen dunklen Graben zu entdecken, der sich an der Seite der Auffahrt entlangzog. Die Reifen rutschten noch weiter nach unten, und plötzlich schwankte der Wagen, als er über den Rand in den Graben schlitterte und mehr als einen Meter tief im Boden versank. Carter umklammerte den Lenker und trat auf die Bremse, aber da war es schon vorbei, fast so schnell, wie es begonnen hatte. Sein Knie stieß gegen irgendwas, vermutlich gegen die Handbremse, und der Sicherheitsgurt schnitt in seine Brust und Schultern. Der Wagen saß auf dem Boden des Grabens fest und war auf die rechte Seite gekippt. Die Scheinwerfer strahlten das umgebende schwarze Erdreich an. Aber zumindest war der Airbag nicht aufgegangen.
Was zum Teufel…? Carter stellte den Motor aus, löste den Sicherheitsgurt und versuchte, die Tür aufzustoßen. Doch er saß in einem so merkwürdigen Winkel fest, dass es zuerst nicht klappte. Er drehte sich auf dem Sitz um und drückte noch einmal kräftiger, und jetzt ging die Tür auf. Er musste sie mit einer Hand aufhalten, während er die Beine hinausschwang. Als die Tür wieder zufiel, landete er auf etwas Rundem, Weichem – einem orangefarbenen Straßenkegel. Hatte er den Warnhinweis übersehen, als er in die Auffahrt eingebogen war? Mist, er hätte das Licht nicht so schnell ausschalten sollen.
Auf allen vieren kroch er aus dem Graben. Als er sich anschließend umdrehte, erkannte er, dass der Wagen so tief verkeilt war, dass man einen Abschleppwagen brauchen würde, um ihn wieder herauszuholen.
Er wandte sich dem Haus zu. Ein paar Lampen waren noch an, und vor dem Gebäude lag ein Stapel Baumaterial. Als er sich Abbies Wagen näherte, stellte er fest, dass die neuen Vorhänge noch auf der Rückbank lagen. Irgendwie fand er das beruhigend; als sei alles ganz so verlaufen, wie Abbie und Beth es geplant hatten. Zumindest bis jetzt.
Vielleicht stellte sich ja heraus, dass alles in Ordnung war. Es sah aus, als sei er gerade rechtzeitig gekommen, um weitere Katastrophen abzuwenden.
Nach dem, was mit Ezra passiert war, und jetzt mit dem Wagen, hatte er für heute Nacht von Katastrophen die Nase voll.
40. Kapitel
Als das Fenster oben am Rahmen anschlug, klirrten die Glasscheiben. Entsetzt kauerte sich Beth im schützenden warmen Wasser der Badewanne zusammen. Erneut schwappte das Wasser über den Rand der Wanne.
Eine kalte Bö wehte in den Raum, wirbelte den Wasserdampf auf und verdichtete ihn. In dem Dampf sah sie Arius, als hätte er sich direkt aus der Schwärze der Nacht materialisiert. Er trug wieder seinen langen schwarzen Mantel und die runde Brille mit den bernsteinfarbenen Gläsern.
Ich werde dich immer finden,hörte sie, als würden die Worte in ihrem Kopf widerhallen.
Beth war sprachlos und konnte sich vor Angst nicht rühren.
Aber fürchte dich nicht.Er strich sein goldenes Haar von dem aufgestellten Kragen seines Mantels. Ich würde dir niemals weh tun.
Diese Stimme in ihrem Kopf war seltsam tröstend, vertraut und beruhigend. Aber sie wusste, selbst jetzt, dass sie ihr nicht trauen durfte. Sie wusste, dass sie ebenso unheilvoll wie verführerisch war. Sie wusste, dass es die Stimme des Teufels war.
»Du hast Joe Russo getötet«, flüsterte sie mit bebender Stimme.
Der Engel gab keine Antwort.
»Und du hast auch Bill Mitchell getötet.«
Wieder nichts. Aber der Dampf schien dichter zu werden und an ihm zu haften, anstatt sich in der kalten Luft zu verziehen. Der Wasserhahn tröpfelte weiter, ein seltsam heiteres Geräusch.
»Warum bist du hier? Was willst du?«
Ich will nur, was du bereits hast.
Beth war verblüfft. Was konnte sie haben, das er begehren könnte? Was konnte sie haben, das dieses Wesen nicht selbst haben konnte?
Als hätte er ihre Frage ebenfalls gespürt, sagte Arius leise, aber mit hörbarer Stimme: »Eine Seele.«
»Du willst … meine Seele?«
»Nicht für mich«, sagte er mit derselben seidigen honigsüßen Stimme. »Für unsere Kinder.«
Ihr stockte der Atem, und sie begann zu zittern, obwohl sie im heißen Wasser lag. Die Bewegung schickte eine weitere kleine Welle über den Rand der Wanne und vergrößerte die Pfütze. Bald musste sie die vom Dunst verhüllten Füße des Engels erreichen. Sie sah, wie er den Blick senkte und einen Schritt zurücktrat.
»Geht es dir nicht gut?« Solange sie nicht verrückt war oder das alles hier überhaupt nicht passierte, könnte sie schwören, dass aufrichtige Besorgnis in seiner Stimme mitschwang. Aber was hatte ihre Gesundheit mit dem Wasser zu tun?
Sie schaute in die Wanne. Das Wasser war immer noch von ihrem Blut getönt, aber nur ganz leicht. War es das?
Sie verspritzte noch mehr Wasser über den Rand und wartete, ob er noch weiter zurücktreten würde, und das tat er.
Konnte er das Blut sehen? Konnte er es riechen? Sie wusste, dass er sie aufspüren konnte, wie ein Bluthund, also war er möglicherweise dazu imstande.
Aber war es das Wasser oder das Blut? Andererseits, dachte sie, was spielte es schon für eine Rolle? Es ließ ihn zurückweichen, und das genügte ihr für den Moment. Vielleicht, dachte sie, während ihre Gedanken sich überschlugen, könnte sie schnell genug genügend Wasser aus der Wanne spritzen, um aus der Wanne zu springen und davonzulaufen.
In diesem Moment hörte sie Abbies Stimme vom Fuß der Treppe.
»Beth? Ist alles in Ordnung bei dir da oben?«
Arius wandte den Kopf zur verschlossenen Tür. Sein Profil war so perfekt, als sei es auf eine Münze geprägt.
»Raus hier!«, schrie Beth. »Verlass das Haus!«
»Was?«, rief Abbie, und es klang, als erklimme sie die Wendeltreppe.
»Raus aus dem Haus, Abbie!«
»Hier unten zieht es ganz furchtbar«, sagte sie, und ihre Stimme kam näher. »Ist bei dir irgendwo ein Fenster offen?«
Arius wandte sich zur Tür, und Beth schrie ihn an: »Nein! Lass sie in Ruhe!«
Doch er öffnete die Tür und schloss sie rasch hinter sich. Der Dampf waberte gegen die Rückseite der Tür, als wollte er ihm folgen.
Beth kauerte sich im Wasser zusammen, strengte sich an, irgendetwas zu hören, aber das einzige Geräusch war das stete Tröpfeln des Badewassers auf die kalten weißen Fliesen. Ihr nasses Haar fühlte sich an, als sei es an der Stirn und den Seiten des Gesichts gefroren. »O Abbie«, sagte sie zu sich, während sie darum kämpfte, ihr eigenes Entsetzen in Schach zu halten, »lauf! Bitte, bitte, lauf!«
41. Kapitel
Leise schlich Carter auf die vordere Veranda, aber bevor er klingelte, versuchte er die Tür zu öffnen. Zu seiner Erleichterung war sie hörbar verriegelt. Trotzdem hielt ihn etwas davon ab, zu klingeln oder zu klopfen. Man konnte es übertriebene Vorsicht nennen, aber er wusste, dass er nicht hineingehen oder gar einschlafen könnte, ehe er nicht zumindest kurz nach dem Rechten gesehen hatte.
Er machte so wenig Krach wie möglich und schlich zur Rückseite des Hauses. Wenn sie nicht gehört hatten, wie er mit dem Wagen im Graben gelandet war, würden sie ihn vermutlich auch nicht hören, wenn er draußen herumschnüffelte. Das untere Schlafzimmer war noch hell erleuchtet, und oben im Gästebereich brannte das Licht im Badezimmer. Das Fenster war für so eine kalte Nacht ziemlich weit geöffnet. Dabei wusste er aus Erfahrung, dass Beth es liebte, das Badezimmer in eine Sauna zu verwandeln, nicht in einen Iglu. Er kauerte sich hinter einen Busch und blickte erneut zu dem unverhängtem Fenster des unteren Schlafzimmers.
Er konnte Abbie auf dem großen Messingbett erkennen, die Arme über dem Kopf. Sie trug ein weißes Nachthemd, das an ihren Oberschenkeln nach oben gerutscht und verdreht war. Die Laken waren weggestoßen und hingen auf den Boden, als hätte sie sich im Schlaf hin und her geworfen. Zumindest von seinem Beobachtungsposten aus schien daran nichts ungewöhnlich zu sein. Sie musste bei eingeschaltetem Licht eingeschlafen sein. Carter passierte das ständig, dass er am Morgen mit einem aufgeschlagenen Buch auf der Brust aufwachte, und er fühlte sich ein wenig schuldig, weil er sie jetzt dabei beobachtete.
Aber dann schien sich etwas zu verändern. Das Licht im Zimmer veränderte sich, als ein Schatten drohend über dem Kopfteil aus Messing auftauchte. Jemand war bei Abbie im Zimmer, stand aber so, dass Carter ihn nicht sehen konnte. Bitte,betete er, lass es nur Beth sein. Oder Ben, der seine Pläne geändert hat und doch mit ihnen aufs Land gefahren ist.Der Schatten wurde größer, und dann sah er, nein, es war nicht Beth. Und auch nicht Ben. Es war eine hochgewachsene Gestalt, steif und gerade wie eine Marmorstatue, mit leuchtend goldenem Haar. Während er mit wachsendem Entsetzen zusah, trat die Gestalt auf das Bett und Abbie zu. Jetzt erkannte Carter, dass sie nicht schlief und dass sie ihre Arme nicht nur über den Kopf gelegt hatte. Sie waren irgendwie an die Bettpfosten aus Messing gefesselt.
Was sollte er tun? Sollte er einen Warnschrei ausstoßen? Oder die Scheibe einwerfen? Er sah sich um und entdeckte ein paar lose Ziegel im Dreck. Ben hatte ihm erzählt, dass sich an der Stelle einst eine Veranda befunden hatte. Er eiste einen Stein von dem fast gefrorenen Boden los, doch unvermittelt wurde er von einem verstohlenen Geräusch über ihm abgelenkt. Nur wenige Meter von ihm entfernt fielen lose Schuttteile auf den Boden. Er blickte auf und sah einen nackten Fuß, der auf dem steilen abschüssigen Schindeldach nach Halt suchte. Ein dünner abgestorbener Zweig fiel vom Dach.
Dann tauchte Beth auf. Sie trug nichts als den kurzen weißen Bademantel, den er ihr zum Valentinstag geschenkt hatte. Sie kletterte auf das Dach und schaute verzweifelt in alle Richtungen. Direkt hinter dem Haus fiel der Boden steil ab, und vom Dach bis nach unten waren es gut sechs Meter.
Carter warf den Stein fort und kroch von dem Busch fort. Ohne ein Wort zu sagen, winkte er mit den Armen, um Beth auf sich aufmerksam zu machen. Fassungslos erstarrte Beth. Selbst von hier unten konnte er ihre vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen erkennen, während er ihr durch Gesten zu verstehen gab, durchzuhalten. Spring nicht!Er formte die Worte mit dem Mund Warte!Dann rannte er zur Vorderseite des Hauses.
Er wusste, dass er zwischen den Betonziegeln und Dielenbrettern eine Leiter gesehen hatte. Sie lag zusammengeklappt auf dem Boden, und das Metall fühlte sich kalt und glatt an, als er es berührte. Er hob die Leiter vom Boden hoch, um jedes Geräusch zu vermeiden, und schleppte sie zur Rückseite des Hauses.
Mit beiden Händen klammerte Beth sich an die Fensterbank, als Carter sich mit der Leiter abmühte, um sie aufzuklappen. Beths Füße begannen zu rutschen, und ein Regen aus Dreck und totem Laub löste sich von den Schindeln. Carter drückte das zentrale Scharnier mit der Hand nach unten und lehnte die Leiter genau unter das Badezimmerfenster.
Sie war nicht lang genug.
»Warte«, flüsterte er und hoffte, dass sie ihn hören konnte, »warte!«
Rasch kletterte er bis nach oben und streckte die Hand aus. »Lass dich runter«, flüsterte er. »Ich fang dich auf.«
Beth ließ eine Hand los und streckte sie Carter entgegen. Er konnte sie immer noch nicht erreichen. »Du musst die andere Hand auch loslassen«, drängte er, und Beth gehorchte widerstrebend. Sie rutschte ein Stückchen, eine Schindel löste sich und rollte über ihren Fuß. Doch gerade, als sie vollends die Balance zu verlieren drohte, bekam Carter ihre Hand zu fassen.
»Halt durch!«, sagte er und zog sie zu sich, während er schwankend auf der höchsten Sprosse der Leiter stand. Einen Augenblick glaubte er, sie würden beide hintenüber kippen. Doch Beth bohrte ihre Zehen in die losen Schindeln und bremste ihren Fall. Carter stieg ein paar Sprossen herunter, dirigierte Beth auf die Leiter und langsam nach unten.
Sobald sie den Boden erreicht hatten, zog er sie in ihre Arme. Sie zitterte, und als er ihr Haar küsste, stellte er fest, dass es nass und eiskalt war. Er zog ihren Bademantel weiter zu und verknotete den Gürtel.
»Abbie …«, flüsterte Beth, »sie ist immer noch drinnen …«
»Ich weiß.«
»… mit ihm«, beendete sie den Satz schaudernd.
Er musste Beth dazu überreden, zu verschwinden und sich irgendwo weit weg vom Haus in Sicherheit zu bringen. Aber wohin, und wie? Es war kein anderes Haus zu sehen, und das Auto der Metzgers würde nicht so bald aus dem Graben kommen.
»Du hast nicht zufällig Abbies Wagenschlüssel, oder?« Doch er kannte die Antwort, ehe er die Frage überhaupt gestellt hatte.
»Was? Nein.« Beth befreite sich aus seiner Umarmung. »Wir müssen ihr helfen.«
»Beth, du kannst nichts tun«, sagte Carter. »Lass mich dich in Sicherheit bringen, und dann komme ich zurück und helfe Abbie, ich schwöre es dir.« Doch wie ein Kämpfer, der schon einiges hatte einstecken müssen, taumelte Beth bereits auf das erleuchtete Fenster des unteren Schlafzimmers zu.
»Beth … bleib stehen«, mahnte er und folgte ihr.
Aber sie befanden sich bereits beide in dem schwachen Lichtrechteck, das aus dem Fenster nach draußen fiel. Beth blieb stehen, starrte in das Zimmer mit dem großen Messingbett, den dazu passenden Nachttischen und dem orientalischen Teppich. Carter blickte ebenfalls hinein, aber alles was er sah, war ein leerer Raum.
»O mein Gott«, sagte Beth und trat näher, den Blick nach oben gerichtet. Jetzt sah auch Carter, was sie entdeckt hatte. Oben an der Zimmerdecke, sich langsam drehend wie ein leuchtender Stern, schwebte Arius. Sein Körper umschlang Abbies und hielt sie beide in der Luft über dem Bett. Ihr Kopf hing im Nacken, als hätte sie das Bewusstsein verloren, und die Arme, die bis auf einen Bademantelgürtel an einem Handgelenk nackt waren, baumelten schlaff an den Seiten.
Arius’ Leib pulsierte in einem goldenen Licht, als er sie in seiner Umarmung nahm. Unwillkürlich musste Carter an einen Naturfilm denken, den er einmal gesehen hatte. Libellen hatten sich mitten in der Luft vereinigt und hektisch mit den Flügeln geschlagen, während sie an Ort und Stelle zu stehen schienen.
Beth hatte den Stein gefunden, den Carter vorhin hineinwerfen wollte, und richtete sich auf.
»Beth«, sagte er, »was tust du da?«
»Das muss aufhören«, sagte sie heiser, und ehe er sie aufhalten konnte, hatte sie den Stein geworfen, direkt in das Schlafzimmerfenster.
Das Fenster erzitterte beim Aufprall, tausend kleine Risse bildeten sich wie bei einem Spinnennetz, doch die Scheibe blieb ganz.
Im Schlafzimmer klammerte Arius sich immer noch an den Körper seines Opfers, doch langsam wandte er den Kopf zum Fenster.
Beth hob einen weiteren Stein vom Boden auf und warf erneut. Dieses Mal zersplitterte das beschädigte Fenster, und die Glasscherben stürzten wie ein Wasserfall herab.
Arius ließ Abbie los, so dass sie rücklings aufs Bett fiel.
Mehr brauchte Carter nicht zu sehen. »Komm«, brüllte er und zog an Beths Hand. »Komm schon!«
Er zerrte sie vom Haus fort und in die Dunkelheit des dahinterliegenden Feldes. Barfüßig stolperte Beth über den unebenen Boden, und Carter musste sie wieder aufrichten und sie weitertreiben. Aber wo sollten sie hin? Am Ende des Feldes, in über einhundert Metern Entfernung, lag die aufgegebene Apfelplantage. Die schwarzen Zweige der abgestorbenen Bäume glitzerten im Mondlicht, und dahinter ragte der einzige Schlupfwinkel weit und breit auf.
»Die Scheune!«, rief er und hielt immer noch Beths Hand fest.
An seiner Seite taumelte sie weiter, und er konnte an nichts anderes denken, als sie dort zu verstecken und dann zurückzukommen und irgendwie Arius zu erledigen.
Sie rannten auf den Obsthain zu. Die ordentlichen Reihen, in denen die Bäume einst gepflanzt worden waren, waren jetzt unregelmäßig und schwer zu erkennen. Wurzeln ragten aus dem Boden, und verdrehte Äste streckten sich einander entgegen, berührten sich manchmal sogar wie knochige Finger. Während sie rannten, schaute Carter immer wieder zurück. Wo war Arius? Warum folgte er ihnen nicht?
»Wie können wir … ihn töten?«, keuchte Beth.
»Ich weiß es nicht«, sagte Carter und schlug einen spröden Zweig aus dem Weg.
Beth wurde langsamer, und Carter sah etwas Dunkles an der Innenseite ihrer Beine. Zuerst dachte er, es sei nur Schmutz, aber dann glänzte es matt im Mondlicht, und er erkannte, dass es sich wahrscheinlich um Blut handelte. Sie musste sich geschnitten haben, als sie vom Dach geklettert war, oder an einem der Zweige, die ihnen im Weg lagen.
»Willst du dich einen Moment ausruhen?«, fragte er. Er blickte zum Haus zurück, konnte aber immer noch nichts sehen. Das Licht war an, aber er sah keine Bewegung.
»Nein, ich kann … weiter«, sagte sie. Trotzdem blieb sie stehen, beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie. Ihr heißer Atem bildete in der Nachtluft Dampfwolken. Sie hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der jetzt gegen ihre Wange fiel. Zärtlich legte Carter eine Hand zwischen ihre Schultern.
»Es wird alles wieder gut«, sagte er und fragte sich, ob das die Wahrheit war. War es möglich, dass Arius ihnen tatsächlich nicht nachsetzte?
Oder war er immer noch mit Abbie beschäftigt?
»Wie«, fragte Beth, immer noch vornübergebeugt, »bist du hierher gekommen?«
»Ich habe mir Ezras Wagen geliehen.«
Hoffnungsvoll blickte sie zu ihm empor.
»Er steckt in einem Graben fest. Unbrauchbar.«
Erneut ließ sie den Kopf sinken und holte tief Luft.
»Wir sollten weiter«, sagte Carter. Es brachte nichts, ihr zu erzählen, was mit Ezra geschehen war.
Beth richtete sich auf und zog die Aufschläge des Bademantels zusammen. »Es gibt etwas, vor dem er sich fürchtet«, sagte sie.
»Was?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber es könnte Wasser sein.«
Carters Gedanken überschlugen sich. Hatte in der Schriftrolle irgendetwas darüber gestanden? Hatte Ezra irgendetwas in diese Richtung angedeutet? »Wie kommst du darauf?«
»Ich habe gerade gebadet, als er mich gefunden hat. Und er hat Abstand gehalten.«
»Vom Wasser?«
»Es war aber auch Blut darin.«
Carter machte ein verwirrtes Gesicht.
»Ich habe Blutungen.«
Ehe er die Sache weiterverfolgen konnte, sah er eine Bewegung im Dachgeschoss des Hauses. Er zog Beth hinter einem Busch nach unten, als er eine Gestalt am weit geöffneten Badezimmerfenster erblickte.
»Er ist oben«, sagte Carter.
Das Licht, das vom Fenster ausstrahlte, wurde heller, als hätte jemand ein Flutlicht im Raum eingeschaltet.
»Warum ist er hinaufgegangen?«, sagte Beth. »Er weiß doch, dass ich weg bin.«
»Vielleicht, weil er von dort besser sehen kann«, erwiderte Carter. »Lass uns weiter.«
Sie drehten sich um und schlichen mit gesenkten Köpfen durch die Bäume. Als Carter erneut zurückblickte, war das Haus dunkel. Es war fast noch beängstigender, Arius nichtirgendwo zu sehen. Außerdem sorgte er sich um Beth. Warum hatte sie Blutungen? Das Blut an ihren Beinen sah frischer und nasser aus als zuvor. Sobald sie die Scheune erreicht hatten, musste er herausfinden, was ihr fehlte, und ihr ein paar von seinen eigenen warmen Kleidungsstücken geben.
Und dann? Was konnte er sonst noch tun? Ezra wusste weiß Gott nicht auf alles eine Antwort, aber ein paar hatte er doch gehabt. Jetzt war Carter ganz auf sich allein gestellt. Wenn es in dieser Schriftrolle oder in den Laborergebnissen irgendeinen Hinweis darauf gab, wie er einen Engel besiegen konnte, der so alt war wie die Zeit selbst, musste er ganz allein darauf kommen, während er auf der Flucht war.
Über ihren Köpfen ertönte ein Geräusch, wie das Schlagen breiter Schwingen. Als Carter aufblickte, sah er zwischen den Zweigen der kahlen Bäume ein goldenes Licht, das sich rasch über den Nachthimmel bewegte. Er wusste, was es war. Das Licht schoss hinauf, bis es nicht größer war als ein Stern, verharrte, als sei es festgenagelt, ehe es unvermittelt zur Erde zurückstürzte.
»Beeil dich!«, sagte Carter, packte Beths Hand und zerrte sie durch den Obsthain. Während sie rannten, hörten sie ein Rauschen, das wie Wind klang und die ganze Zeit näher kam. Ein schwaches Licht beleuchtete den dunklen Boden und die abgefallenen Blätter vor ihnen.
Carter zog Beth in ein schützendes Dickicht. Die Zweige zitterten und knackten wie zerbrechende Knochen, und trockenes Laub wirbelte vom Boden auf. Als das Licht wieder schwächer wurde, drängte Carter: »Komm, weiter.« Die Scheune war nur noch etwa hundert Meter entfernt, aber es gab keine Deckung mehr zwischen ihnen und den lose in den Angeln hängenden Türen. »Wir können es schaffen.«
Beth rappelte sich auf und rannte los über das offene Gelände. Carter schaute nach oben und folgte ihr. Sein heißer Atem bildete Nebelwolken in der Luft, und sein Knie begann zu schmerzen. Als er mit dem Auto im Graben gelandet war, musste es mehr abbekommen haben, als er anfangs dachte. Trotzdem rannte er weiter auf die alten weißen Holztüren zu und überlegte fieberhaft, was er tun sollte, sobald sie drinnen waren.
Der Spalt zwischen den Scheunentüren war nur schmal, aber Beth schlüpfte rasch hindurch. Carter folgte ihr, drehte sich hastig um und versuchte, die Türen zuzudrücken. Aber die Scharniere auf der einen Seite waren kaputt, und die Ecke war fest im Boden verkeilt. Wie kräftig er auch schob, die Tür rührte sich nicht. Er stützte sich mit der Schulter dagegen und probierte es erneut, während Beth sich auf alle viere niederließ und wie rasend begann, die Erde und Wurzeln, welche die Tür offen hielten, wegzukratzen. »Wir müssen erst das hier wegschaffen«, sagte sie, wühlte im Dreck und schleuderte ihn beiseite. Carter versuchte, die Tür anzuheben, aber sie war viel zu groß und schwer. Beth scharrte im Dreck wie ein Hund, der einen Knochen ausgrub, und sagte schließlich: »Versuch es noch einmal.«
Carter schob erneut und trat gegen den unteren Teil. Dieses Mal bewegte sich die Tür quietschend ein paar Zentimeter. »Sie rührt sich«, sagte Carter, und Beth grub weiter. Mit seinem gesamten Gewicht lehnte Carter sich an die Tür, bis Beth aufstand und sich ebenfalls dagegenwarf. Das alte Holz knarzte, bewegte sich schließlich zitternd und stieß beinahe an den Rand des anderen Torflügels. »Das reicht«, sagte Carter, griff nach dem Querbalken und ließ ihn herunter. Doch der Balken tat ihm nicht den Gefallen, ganz herunterzufallen, Carter musste sich auf die Zehenspitzen stellen und mit beiden Händen daran ziehen, bis die beiden Flügel endlich von hinten gestützt wurden.
Endlich war die Tür verschlossen. Keuchend trat er zurück. Beth strich sich die Haare aus den Augen und zitterte in ihrem Bademantel. Carter öffnete den Reißverschluss seiner Lederjacke und sagte: »Schnell, zieh die hier an.«
»Nein«, sagte sie schaudernd. Er fürchtete, dass sie bereits einen Schock erlitten hatte.
»Doch.« Anstatt zu versuchen, ihr erst den Bademantel auszuziehen, stopfte er einfach ihre Arme in die Ärmel und nestelte dann am Reißverschluss herum. »Wir werden die Sache durchstehen«, sagte er. »Wir werden hier heil rauskommen.«
Ihr Blick war wild und unfokussiert. Carter zog sie an seine Brust. Mondlicht schimmerte durch die Ritzen zwischen den verrotteten Dachbalken, aber es genügte, damit Carter erkennen konnte, dass die Scheune fast leer war. Am anderen Ende machte er ein paar baufällige Pferdeboxen aus. Darüber befand sich ein gefährlich durchhängender Heuboden.
»Sollen wir uns verstecken?«, murmelte Beth in sein Hemd, und Carter antwortete: »Ja, da oben«, und deutete auf den Boden. Der Plan war genauso gut wie jeder andere. Aber er wusste auch, dass es nicht viel brachte. Sicherlich wusste Arius, wohin sie verschwunden waren. Oder würde es früh genug irgendwie herausfinden.
Er hielt die wackelige Leiter fest und ließ Beth als Erste hinaufklettern. Der Boden war ziemlich geräumig, aber an der Rückseite offen, so dass sie die dunkle Landschaft sehen konnten. Wenn es früher einmal Türen gegeben hatte, waren sie längst verschwunden. Der Holzboden war mit Haufen aus modrigem verfaultem Heu bedeckt, und an den Wänden hingen verloren ein paar rostige Werkzeuge, eine alte Heugabel, eine Harke und eine Hacke. »Zieh den Kopf ein«, sagte Carter und kniete sich neben Beth, »und lass dich nicht blicken.«
Doch als er begann, sich von ihr zu lösen, umklammerte sie seinen Arm und sagte: »Wo willst du hin?«
»Ich lasse dich nicht allein. Ich will mich nur umschauen. Vielleicht gibt es hier etwas, das uns von Nutzen sein könnte.« Er hatte gerade ihre Finger von seinem Ärmel gelöst und sich erhoben, als die Scheunentüren gegen den Querbalken schlugen, der sie verschloss.