Текст книги "Das letzte Relikt"
Автор книги: Robert Masello
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»Ich weiß, wer es ist«, erklärte Carter freiwillig. »Ich habe sogar …«
»Wir kennen ihn ebenfalls. Er ist einer der Transvestiten, die in dieser Ecke arbeiten. Er wurde hin und wieder zusammengeschlagen, das werden sie alle. Aber so etwas Übles ist noch nie vorgekommen.«
»Sie meinen also, einer seiner … Kunden hätte ihm das angetan?«
Detective Finley trat zur Seite, um die Bahre vorbeizulassen. Selbst jetzt, wo die Leiche in eine Plastikdecke gehüllt war, war der Gestank noch heftig. Die Sanitäter trugen Zellstoffmasken.
»Das kann ich im Moment noch nicht sagen. Aber was mich stutzig macht, ist die Tatsache, dass es genau gegenüber von dem Ort passiert ist, wo ich die letzten Brandopfer gesehen habe.«
Obwohl es schwierig war, Finleys Augen durch die dicken Brillengläser zu erkennen, hatte Carter das Gefühl, eindringlich gemustert zu werden.
»Was haben Sie eigentlich in diesem Labor gemacht?«, fragte Finley.
»Wir haben an einem Fossil gearbeitet. Ein seltener Fund, aus Italien.«
»Haben Sie brennbare Stoffe verwendet, wie zum Beispiel chemische Mittel? Schneidbrenner?«
Er griff nach Strohhalmen, so viel war Carter klar, aber zum ersten Mal dämmerte es Carter, dass er vielleicht aufpassen sollte, was er sagte. »Es wurden ein paar zusätzliche Scheinwerfer provisorisch angebracht«, räumte er ein. »Der Brandinspektor glaubt, dass das Feuer dadurch verursacht wurde.«
Detective Finley schürzte die Lippen. »Ziemlich großer Rums für eine falsche Sicherung.«
Natürlich könnte Carter erklären, was wirklich geschehen war, wenn er wollte. Er könnte ihm sagen, was Russo ihm mitgeteilt hatte, dass Mitchell den Laser auf die Felsplatte gerichtet hatte, einen Felsen, in dessen Inneren sich Kammern mit explosiven Gasen befanden. Doch aus irgendeinem Grund tat er es nicht. Er erzählte auch nicht, was Russo in seinem verwirrten Zustand über das lebendig gewordene Fossil gesagt hatte.
»Haben Sie jemals mit diesem Typ, Donald Dobkins, der Hure, geredet?«
»Nein«, sagte Carter, ehe er sich verbesserte und sagte: »Ach, doch, einmal.« Verdammt, dachte er. Finley würde seine Verwirrung bemerken. »Ich war auf dem Land, als sich der Unfall ereignete, aber direkt danach bin ich zum Labor, am Tag nach dem Unfall. Da habe ich ihn auf der Straße gesehen. Er faselte etwas davon, dass er jemanden aus dem brennenden Gebäude hatte kommen sehen.« Warum hatte er immer stärker das Gefühl, ein Alibi abzugeben?
»Und wer, glaubte er, war herausgekommen?«
Carter zögerte. Er wusste, wohin das führen könnte. Vielleicht dachte Finley, dass Donald Dobkins den Brandstifter erkannt hatte und dieser zurückgekommen war, um sich des Zeugen zu entledigen. Aber Carter wusste, dass es nicht so gewesen war. »Wenn Sie es genau wissen wollen, er sagte, er habe einen nackten Mann aus Licht gesehen«, antworte Carter. Das würde zumindest der Befragung in diese Richtung ein Ende bereiten.
Doch Finley wirkte merkwürdigerweise nicht überrascht. »Passt zu der allgemeinen Beschreibung.«
Passte zu was?
»Obwohl Mr Russo immer wieder das Bewusstsein verlor, als er hier rausgebracht wurde«, fügte der Detective hinzu, »murmelte er etwas ganz Ähnliches.«
»Ach ja?«
Der Detective nickte, während er in seinen Taschen herumwühlte und eine Visitenkarte zutage förderte, die so abgewetzt aussah, als hätte er sie bereits Dutzende Male überreicht. »Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, rufen Sie mich an.« Er wandte sich zu seinem Wagen. »In der Zwischenzeit werden wir Ausschau halten nach jemandem, der aus Licht besteht und durch die Gegend spaziert.«
Der Krankenwagen fuhr davon, und einen Augenblick später folgte ihm das Auto des Detectives. Einer der Polizisten stand immer noch oben am Kelleraufgang und sprach in ein Walkie-Talkie. Schließlich begriff Carter, dass er jetzt frei war zu gehen, obgleich niemand ihm eine besondere Erlaubnis erteilt hatte.
Es wirkte alles so … unspektakulär. Er hatte eine Leiche entdeckt, einen toten, verbrannten Körper, und jetzt war schon alles vorbei. Er ging davon. Niemand hatte mehr weitere Fragen an ihn, es gab nichts mehr, das er tun könnte. Möglicherweise war das der Grund, warum ihn das ganze Grauen, das er gerade erlebt hatte, in einer verspäteten Reaktion erst jetzt traf. Da er nichts zu tun hatte und mit niemandem reden musste, konnte er sich plötzlich ganz auf die Realität konzentrieren, auf die grausige, haarsträubende Entdeckung, die er gemacht hatte. Es war nicht die erste Leiche, die er je gesehen hatte. Bei seinen Expeditionen hatte er es gelegentlich mit Todesfällen zu tun, mit den sterblichen Überresten von Menschen, die auf natürlichem Weg oder durch ein Unglück gestorben waren. Aber das hier war etwas ganz anderes. Dies war einer jener Anblicke, die einen bis in die Träume hinein verfolgten. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Als hätte er im Moment nicht schon genug Probleme, Schlaf zu finden.
Zitternd stellte er den Kragen seiner Lederjacke auf. Langsam wurde es Zeit, den Parka hervorzuholen. Obwohl es erst Spätnachmittag war, war das Licht bereits ziemlich spärlich. Die Tage wurden kürzer. An der Ecke vierte Straße West wartete er gerade an der Ampel, als er plötzlich das Gefühl hatte, jemand stünde rechts hinter ihm. Und beobachtete ihn. Er drehte sich um, aber der nächste Fußgänger war eine ältere Frau mit einer Gehhilfe, die den Blick auf das Pflaster gerichtet hatte.
Er überquerte die Straße und schritt für den Rest des Heimwegs forsch aus. Nicht nur, um warm zu werden, sondern auch, um dieses unheimliche Gefühl abzuschütteln, jemand folge ihm. Ein-oder zweimal drehte er sich abrupt um, doch niemals sah er einen Verdächtigen. Als er das Foyer seines Hauses betrat, blieb er stehen, um die Post aus dem kleinen Metallbriefkasten zu holen. Diese Briefkästen, dachte er, waren offensichtlich lange vor der Zeit der Versandkataloge entworfen worden. Anstatt auf den unzuverlässigen Fahrstuhl zu warten, entschied er sich für die Treppe und nahm zwei Stufen auf einmal.
Beth war nicht zu Hause, und in der Wohnung war es dunkel. Er ging von Zimmer zu Zimmer, schaltete die Lampen an und legte eine CD der Hives in die Stereoanlage. Er wollte peppige schnelle Musik, die seine Aufmerksamkeit fesselte. Er riss den Kühlschrank auf, nahm ein Bier heraus und ging ins Wohnzimmer. Er lümmelte sich aufs Sofa und streckte die Beine aus. Über seinem Kopf sah er die Vogelbilder von Audubon. Von denen Joe eines abgenommen hatte, um es durch ein Kruzifix zu ersetzen. Worum, fragte er sich, ging es hier eigentlich wirklich? Er hatte nie die Gelegenheit gehabt, ihn zu fragen, und jetzt wäre es ganz eindeutig keine gute Idee.
Vielleicht sollte er nach dem Abendessen noch einmal im Krankenhaus vorbeischauen, nur um gute Nacht zu sagen.
Er hob eine Ausgabe des New York Magazinevom Boden neben dem Sofa auf und begann darin zu blättern. Vielleicht entdeckte er eine Empfehlung für ein Downtown-Restaurant, das Beth und er heute Abend ausprobieren konnten, irgendein überfülltes und lautes Lokal. Doch kaum hatte er das Heft aufgeschlagen, als er jemanden draußen vor der Wohnungstür hörte. Er hielt die Zeitschrift ganz still und lauschte. Für Beth war es noch ein wenig zu früh. Raleigh bestand darauf, dass seine Angestellten die volle Zeit im Laden absaßen. Doch als Carter vom Sofa aufstand, schwang die Tür auf, und Beth trat ein, ihren Lederkoffer in der einen und eine ausgebeulte Plastiktüte in der anderen Hand, aus der es verdächtig nach chinesischem Essen roch.
»Lass mich das nehmen«, sagte er und eilte herbei, um ihr die Tüte abzunehmen, die jeden Moment zu reißen drohte.
»Danke«, sagte Beth und schloss die Tür hinter sich mit einem Fußtritt. Dann drehte sie den Schlüssel im Schloss um und legte den Riegel vor. Anschließend spähte sie durch den Spion.
»Heute Abend bist du aber besonders vorsichtig«, sagte Carter und stellte die Tüte auf den Küchentresen.
»Na ja, ich habe unten einen ziemlichen Schrecken bekommen.«
Carter ließ die Tüte Tüte sein und ging zu Beth.
»Was ist passiert?«
»Eigentlich nichts. Ich habe einfach nicht aufgepasst, als ich ins Haus gekommen bin.«
Carter wartete.
»Ich trug den ganzen Krempel, und ich war schon im Foyer, ehe ich begriff, dass jemand da war. Normalerweise bin ich aufmerksamer.«
»Wer war es?« Carter dachte an sein Gefühl, auf dem Weg nach Hause verfolgt zu werden.
»Ich weiß nicht, ich konnte ihn nicht besonders gut erkennen.« Sie zog ihren Mantel aus und hängte ihn an den Holzständer neben der Tür. »Ich glaube, er wollte nicht, dass ich ihn ansehe. Er war groß, blond, glaube ich, und trug eine Sonnenbrille. Beinahe sofort, nachdem ich das Haus betreten hatte, drehte er sich um und verließ das Foyer. Ich wollte gerade die Post holen.«
»Ich habe sie bereits geholt«, sagte Carter wie betäubt.
»Gut, weil ich nicht mehr nachgesehen habe. Er stand direkt davor. Ich könnte sogar schwören, dass er mit dem Finger über unsere Namen auf dem Briefkasten fuhr.«
Carter fühlte einen eisigen Schauder und schloss Beth instinktiv fest in die Arme.
»Es geht mir gut«, sagte sie mit einem nervösen Lachen, »wirklich. Sobald ich meinen Schlüssel in die Tür zur Lobby gesteckt habe, ging er nach draußen und die Treppe hinunter.«
»Hast du gesehen, wohin er gegangen ist?«, fragte Carter.
»Es sah aus, als sei er über die Straße in den Park gegangen, aber ich habe nicht gewartet, um es herauszufinden.«
Carter ließ Beth los und rannte zum vorderen Fenster, das zum Park hinaus zeigte. Die Straßenlaternen waren noch nicht eingeschaltet, und in der Abenddämmerung war es schwer, viel zu erkennen. Ein paar Inlineskater zogen noch ihre Runden auf den Fußwegen, ein Mädchen im Teenageralter führte einen Hund spazieren, und ganz hinten verließ gerade eine hochgewachsene Gestalt im roten Mantel den Park durch den anderen Eingang.
Carter schnappte sich seine Lederjacke vom Garderobenständer und entriegelte hastig die Tür.
»Wo willst du hin?«, fragte Beth alarmiert. »Du wirst doch wohl nicht etwa nach dem Kerl suchen?«
»Ich habe ihn gesehen«, sagte Carter, sperrte die Tür auf und rannte hinaus.
»Aber ich habe dir doch gesagt«, erklärte Beth, obwohl sie ihn bereits die Treppe hinunterstürzen hörte, »dass er eigentlich gar nichts gemacht hat!«
Sie hörte Carters Füße auf dem Treppenabsatz landen, dann die nächsten Stufen hinunterrasen. Sie eilte zur Tür und rief: »Carter! Vergiss die ganze Sache doch einfach!«
Sie hörte, wie die Tür zum Foyer aufgerissen wurde und anschließend krachend ins Schloss fiel.
»Mach keinen Mist, Carter«, rief sie ins leere Treppenhaus hinein. Sie stand an der offenen Wohnungstür und dachte Und jetzt?Sie bedauerte, dass sie überhaupt etwas gesagt hatte.
Sie schloss die Tür und lehnte den Kopf von innen dagegen. Warum regte sich Carter nur so darüber auf? Ihr kam der Gedanke, dass sie es hier womöglich mit einer klassischen Verdrängungsreaktion zu tun hatte. Vielleicht hatte er die schlechte Nachricht vom morgendlichen Termin in der Praxis noch nicht ganz verdaut, und jetzt bahnten sich die Frustration und die aufgestaute Energie ihren Weg in alle möglichen unpassenden Richtungen … wie zum Beispiel diese.
Sie verschloss alle Schlösser bis auf den Türriegel und ging in die Küche, um das chinesische Essen wegzuräumen. Zumindest hatte sie ihm nichts von der unheimlichsten Sache überhaupt erzählt. Sie könnte schwören, dass der Typ, als er hinter ihr im Foyer gestanden hatte, in der Luft herumgeschnüffelt hatte. Wie ein Hund, der einen neuen Geruch aufnimmt.
Als Carter den Park endlich erreicht hatte, war seine Jagdbeute verschwunden. Er rannte zur anderen Seite des Parks, wich einigen Autos aus und lief in die Richtung weiter, die der Kerl eingeschlagen zu haben schien. Weit vor sich, vielleicht zwei Blocks entfernt, meinte er, etwas Rotes zu erblicken, eine Sekunde bevor ein Bus ihm für den Moment den Blick versperrte.
Er beschleunigte seine Schritte, aber als der Bus weiterfuhr, war der rote Fleck verschwunden. Der Kerl konnte nach links oder rechts abgebogen sein, aber Carter entdeckte in keiner Richtung etwas, das nach ihm aussah. Er rannte geradeaus, und wieder meinte er, den roten Mantel zu erkennen, der gerade beim Obsthändler auf der anderen Straßenseite um die Ecke bog. Aber die Ampel war gegen ihn, und als sie endlich ein Einsehen hatte und er die Straße überqueren konnte, war der Kerl ihm schon wieder entwischt. Aber zumindest wusste er, in welche Richtung er verschwunden war. Carters Atem ging stoßweise, und er wünschte, er hätte nicht ausgerechnet seine abgetragenen Slipper an. Trotzdem rannte er weiter, schlängelte sich tänzelnd durch die anderen Menschen auf dem Gehweg. Nicht lange, und er fand sich in einer schmerzlich vertrauten Ecke wieder. Genau auf der anderen Seite der breiten Straße befand sich der Haupteingang des St. Vincent’s Hospital.
Und nirgends eine Spur von dem roten Mantel.
Mit einer Hand stützte er sich am Straßenschild ab, sah sich um und holte keuchend Luft.
Es war dieselbe Stelle, an der Ezra Metzger ihn nach der Beerdigung abgesetzt hatte. Er stand vor dem Grundstück, auf dem demnächst Villager-Genossenschaftswohnungen errichtet würden, wie die Plakatwand verkündete. Der Tag mochte vielleicht nicht mehr fern sein, aber im Moment war es ein dunkler und dreckiger Schandfleck. Ein verbogener, durch eine Kette gesicherter Zaun umgab das leere, verlassene Gebäude aus schäbigem braunem Klinker. Carter blickte auf die brüchigen Stufen, die zerbrochenen, mit Sperrholz vernagelten Fenster, die verzierte, aber trostlose Fassade aus der vorletzten Jahrhundertwende. Der Haupteingang war kreuz und quer mit schweren Bohlen vernagelt und mit einem Warnschild
BETRETEN VERBOTEN
versehen. Darüber hing an einer einzigen Schraube ein verrostetes Metallschild. Obwohl es mit Graffiti bedeckt war, konnte Carter die Worte MEDIZINISCHES ZUBEHÖR erkennen. Interessanter jedoch war die Inschrift hinter dem halb abgefallenen Schild, die in den Stein der ursprünglichen Fassade eingemeißelt war:
NEW YO K SANATOR M FÜR TUBER UL SE
UND INFEKT NSKRAN HEIT N.
Man musste nicht regelmäßig Das Glücksradsehen, um den Namen zu vervollständigen: New York Sanatorium für Tuberkulose und Infektionskrankheiten. Unter den eingemeißelten Buchstaben stand das Gründungsjahr: 1899.
Auf Carter wirkte das Gebäude wie aus einem Roman von Dickens. Wie lange es wohl in Betrieb gewesen war, ehe man es dem endgültigen Verfall preisgegeben hatte? Die Reinkarnation als Lager für medizinisches Zubehör jedenfalls schien auch schon eine ganze Weile zurückzuliegen. In Manhattan gab es nicht mehr viele Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert, und auch dieses hier würde bald dran glauben müssen. Normalerweise tat es Carter leid, diese alten Häuser verschwinden zu sehen, zu sehen, wie die Geschichte der Stadt ausgemerzt und durch seelenlose gläserne Wolkenkratzer und Wohntürme für Yuppies verdrängt wurde. Dieses spezielle Gebäude jedoch strahlte etwas aus, von dem er bezweifelte, dass es jemand vermissen würde. Selbst wenn er nicht gewusst hätte, welchem Zweck es ursprünglich einmal gedient hatte, hätte er es öde und entmutigend gefunden. Unheilvoll, wenn er ganz ehrlich war.
Aber es gab kein Zeichen von dem Mann in dem roten Mantel, weder hier noch sonst wo. Entweder hatte Carter ihn verloren, oder der Kerl hatte ihn bewusst abgeschüttelt.
Ein kalter Wind pfiff die Straße entlang, und Carter zitterte. Ein Krankenwagen mit rotierenden Lichtern bog in der Ferne um die Ecke und näherte sich dem Eingang zur Notaufnahme.
Er überquerte die Straße und dachte an das chinesische Essen, das Beth mitgebracht hatte. Die Aussicht darauf war verdammt verlockend. Er blieb noch einmal stehen und blickte zurück zu dem verlassenen Gebäude mit den verbarrikadierten Fenstern. Die massiven Wände sahen aus, als würden sie meditieren. Plötzlich hatte er das unerklärliche Gefühl, dass das Haus selbst, heruntergekommen, unbewohnt und kurz vorm Zusammenfallen, seinen Blick erwiderte. Verrückt, er wusste es, aber so war es. Er wandte sich ab und ging davon. Ein Zitat, möglicherweise von Nietzsche, schoss ihm durch den Kopf. Wie ging es noch genau? Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.
Wie wahr.
23. Kapitel
»Und Henoch sah, eingereiht inmitten der Engel, jene, die bekannt waren als die Wächter. Ihr Haar glich gehämmertem Gold, ihre Gewänder … Ihre Augen, welche sie niemals schlossen, waren tief wie Brunnen in der Wüste. Sie wachten über die … der Menschen und lehrten sie viele Dinge.«
Ezra war erfreut, wie sich die Stücke der Schriftrolle zusammenfügten. Es war eine mühsame Arbeit, aber er hatte gerade einen weiteren zerfledderten Schnipsel gefunden, der sich genau an der richtigen Stelle ordentlich in den Text einzufügen schien, als er ein Klopfen an der nächsten Tür, der Schlafzimmertür, hörte.
Verdammt. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um gestört zu werden.
Er ignorierte das Klopfen, aber es ertönte erneut, und dieses Mal hörte er Gertrude, die mit leiser Stimme aus dem Korridor rief: »Ezra, da ist ein Anruf für dich.«
Ein Anruf? Ezra hatte nicht einmal eine eigene Telefonnummer. Wer sollte ihn auch anrufen? Und was Freunde anging … Dann dämmerte es ihm, wer es sein könnte, und ohne auch nur die Latexhandschuhe auszuziehen, sprang er von seinem Zeichentisch auf, rannte ins nächste Zimmer und riss die Tür auf.
»Es ist ein gewisser Carter«, sagte Gertrude und hielt ihm das schnurlose Telefon hin.
»Hier ist Ezra«, sagte er und scheuchte die neugierige Gertrude fort. »Carter Cox?«
»Ja.«
Er klang nicht gerade freudig. Trotz der einsilbigen Antwort spürte Ezra, dass Carter ihn nur widerwillig anrief.
»Ich hatte gehofft, dass Sie anrufen«, sagte Ezra, um ihn weiter zu ermutigen.
»Und ich hatte gehofft, ich bräuchte es nicht.«
»Aber jetzt haben Sie es getan, und das ist alles, was zählt. Sie haben also über das nachgedacht, was ich im Wagen gesagt habe? Das ist gut. Das ist ein Anfang.«
Carter räusperte sich und sagte: »Ja. Nun ja, vielleicht.«
»Wann wollen wir uns treffen? Um zu reden?«
»Ich habe heute zum Lunch Zeit«, sagte Carter. »Und wenn Sie Lust hätten, nach Downtown in den Fakultätsclub der NYU zu kommen, würde ich Sie gerne einladen.«
Nein, dachte Ezra, das klang entsetzlich. Außerdem hatte Kimberly vor, sich heute von Onkel Maury auf eine Einkaufstour fahren zu lassen, so dass ihm nichts anderes übrigbliebe, als ein Taxi zu nehmen. Ob er damit wohl die Auflage vom Gericht verletzte, ständig erreichbar zu sein?
»Wie wäre es«, sagte Ezra, plötzlich ganz beflügelt, »wenn Sie hierherkämen? Ich könnte einen Lunch zubereiten lassen, und wir könnten uns absolut ungestört unterhalten.«
Es gab eine Pause, dann sagte Carter: »Also gut, danke. Wo wohnen Sie?«
Ezra gab ihm die Adresse und legte auf. Anschließend stand er stocksteif da und dachte nach. Was hatte Carter schließlich doch noch dazu gebracht, die Nummer zu wählen, die er auf einen Fetzen Papier gekritzelt hatte? Er hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben. Und jetzt war der Anruf gekommen. Was sagt man dazu! Dinge, die womöglich größer waren, als selbst er, Ezra, es sich vorstellen konnte, waren erneut in Bewegung gesetzt worden. Wenn es tatsächlich einen größeren Plan gab, hatte er vielleicht gerade einen kurzen Blick darauf erhascht.
Dem Anlass zu Ehren duschte Ezra, rasierte sich und zog einen frischen schwarzen Rollkragenpullover an. Als Carter eine Stunde später eintraf, wartete er bereits im Foyer auf ihn, um ihn zu begrüßen. Carter, das merkte er, war einen Moment lang überrascht von der prunkvoll ausgestatteten Wohnung. Die Skulpturen von Rodin, die gewölbten Decken, der Ausblick aus dem Penthouse. Ezra war natürlich daran gewöhnt.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte er, nahm ihm die Lederjacke ab und reichte sie Gertrude, die wie eine Mutterglucke um sie herumschwirrte. »Folgen Sie mir«, sagte er und führte seinen Gast über den polierten Marmorfußboden. »Wir werden im Esszimmer speisen. Dort haben wir vollkommene Ruhe.« Doch dann hörte er Kimberlys Stimme, die gerade auf sie zukam, und er blieb stehen. Sollte sie nicht schon längst zum Shoppen sein?
»Ich werde heute bei ein paar Galerien vorbeischauen«, sagte sie gerade, »aber damit bin ich bis zum späten Nachmittag fertig. Merken Sie mich für halb sechs vor.«
Einen Moment später kam sie in Sicht, als sie gerade ihr Handy zuklappte. Als sie Ezra und Carter sah, blickte sie von einem zum anderen, als versuchte sie herauszufinden, was an dem Bild nicht stimmte. Diamantohrringe glitzerten diskret unter ihrem kastanienbraunen Haar.
»Du hast Besuch von einem Freund?«, sagte sie mit kaum verhohlener Überraschung zu Ezra. »Ich bin Kimberly Metzger«, sagte sie zu Carter und streckte ihm eine perfekt manikürte Hand entgegen.
»Carter Cox.«
»Sie sind nicht zufällig«, fragte sie und senkte die Stimme, »sein Bewährungshelfer, oder?«
So sehr er sie auch hasste, Ezra war beeindruckt. Sie schaffte es in Rekordzeit, ihn schlechtzumachen.
»Vom Gericht?«, fuhr sie fort, ehe Carter sich eine Antwort einfallen lassen konnte. »Oder aus Dr. Neumanns Praxis?«
»Nein, nichts dergleichen«, sagte Carter leicht befremdet. »Ich unterrichte an der NYU. Ezra und ich haben einige Dinge zu besprechen. Über seine … Forschung.«
Sie nickte und sagte: »Oh, seine Forschung«, während sie ihr Telefon in die schwarze Handtasche von Chanel gleiten ließ. »Das ist bestimmt sehr wichtig.« Sie drückte auf den Knopf für den Lift und schenkte ihnen keinerlei Beachtung mehr.
Ezra führte seinen Gast durch mehrere riesige und verschwenderisch ausgestattete Räume. Carter entdeckte ein Porträt eines flämischen Malers, von dem er hätte schwören können, dass er es einmal in der Raleigh Galerie gesehen hatte. Obwohl Ezra kein Wort sagte, merkte Carter, dass er innerlich kochte. Da seine Mutter unmöglich noch so jung und hübsch sein konnte, musste es sich bei ihr um seine Stiefmutter handeln. Die böse Stiefmutter, der Art nach zu urteilen, wie sie miteinander umgingen.
Im Esszimmer war der Tisch, an dem mit Leichtigkeit zwanzig Personen Platz fanden, für zwei gedeckt. Gefaltete Leinenservietten, Kristallkelche, glänzendes Silber. Zwei Gedecke mit kunstvoll pochiertem Lachs auf wildem Reis waren bereits serviert. Carter und Ezra nahmen an einem Ende des Tisches Platz, Ezra am Kopf der Tafel und Carter direkt rechts neben ihm, von wo aus er durch eine Reihe von Terrassentüren auf eine großzügige Veranda mit kleinen Bäumen und Büschen blickte.
Carter war hungrig, und das Essen war ebenso gut zubereitet wie angerichtet. Ezra hingegen stocherte nur hier und da auf seinem Teller herum. Es schien, als wartete er nur auf den Moment, bis sein Gast auf den Grund ihres Treffens zu sprechen käme. Ein-oder zweimal erhaschte Carter einen Blick auf die Haushälterin, die ihren Kopf aus der Küchentür steckte und ihn sofort wieder zurückzog, als wollte sie sich nur vergewissern, dass die beiden Jungs auch allein zurechtkämen.
Nach einer halbherzigen Unterhaltung über die Möglichkeit eines Streiks beim öffentlichen Nahverkehr fragte Carter, ob der Bauplatz gegenüber des St. Vincent’s Hospitals tatsächlich ein Projekt von Ezras Vaters sei.
»Das sind sie alle«, erwiderte Ezra wegwerfend.
Okay, dachte Carter, hier war er in ein Fettnäpfchen getappt. Jetzt wagte er nicht mehr, nachzufragen, auf was seine Stiefmutter sich bezogen hatte, als sie ihn gefragt hatte, ob er Ezras Bewährungshelfer sei. Wer war dieser Kerl wirklich? Irgendein Krimineller?
»Also, wann erzählen Sie mir endlich, warum Sie angerufen haben?«, fragte Ezra, als er sich nicht länger bezähmen konnte. »War es Ihre eigene Idee, oder hat jemand sie darauf gebracht? Ihr italienischer Freund zum Beispiel?«
Carter war beeindruckt. Der Typ mochte seltsam sein, aber seine Vermutungen trafen stets den Nagel auf den Kopf. »Ja, es war Russo. Heute Morgen im Krankenhaus.«
»Was hat er gesagt?«
Carter hasste es, auch nur daran zu denken. Bei seinem Besuch hatte er erwähnt, dass er einen Mann getroffen habe, der genau wie Joe glaubte, das Fossil sei zum Leben erwacht. Daraufhin hatte Joe sich den Filzstift geschnappt und Rede mit ihm!auf die kleine Tafel gekritzelt. »Er möchte, dass ich mit Ihnen rede, um herauszufinden, was Sie wissen.«
»Das ist alles?«, fragte Ezra.
»Er kann noch nicht sprechen, seine Lungen und Stimmbänder wurden beim Feuer arg in Mitleidenschaft gezogen. Er kann nur ein paar Worte auf einmal mitteilen.«
»Ich möchte selbst mit ihm sprechen, sobald das möglich ist. Werden Sie es mich wissen lassen, wenn es so weit ist?«
Carter nickte, obwohl er im Stillen dachte, dass Ezra der letzte Mensch war, dem er das mitteilen würde.
»Eines Tages muss ich mich mit ihm hinsetzen und meine Theorien in aller Ausführlichkeit mit ihm diskutieren.«
»Theorien? Worüber?«
Ezra spielte mit ein paar Reiskörnern auf seinem Teller herum, als würde er überlegen, wie er das, was er zu sagen hatte, am besten formulierte. »Ihr Freund ist durch eine schreckliche Erfahrung aufgeschlossen dafür geworden. Aber ich bin mir nicht wirklich sicher, wie es bei Ihnen damit steht. Sie sind das, was ich einen Mann der Wissenschaft nennen würde«, sagte er und blickte immer noch nicht auf, »und meiner Erfahrung nach bedeutet das, dass Sie ziemlich voreingenommen sind.«
Carter reagierte verärgert. »Das ist meiner Erfahrung nach gewiss nicht richtig. Wenn Sie mich fragen, sind Wissenschaftler die aufgeschlossensten, wissbegierigsten Menschen auf der Welt.«
»Das stimmt nur, solange ihre Fragen sie zu den Antworten führen, die sie von Anfang an erwartet hatten«, erwiderte Ezra. »Nur solange sie das finden, wonach sie an den üblichen Stellen gesucht und genau das Erwartete gefunden haben.«
Carter wollte nicht den Eindruck erwecken, er sei übermäßig defensiv, und bedachte diese Erwiderung. Tatsächlich, da war etwas Wahres dran. Waren seine Entdeckungen in der Knochengrube ursprünglich nicht von den meisten seiner Kollegen außer Acht gelassen worden? Hatten er und andere nicht erbitterten Widerstand gegen den Gedanken erfahren, dass es sich bei den modernen Vögeln um die direkten Nachfahren der Dinosaurier handelte? Musste die Theorie der Geochronologie, der er selbst anhing, nicht immer noch einen schweren Kampf austragen, um akzeptiert zu werden? »Okay«, räumte er schließlich ein, »ich weiß, worauf Sie hinauswollen, und ich gebe zu, dass ich selbst einigen Widerstand gegen neue Ideen zu spüren bekommen habe.«
Ezra schnaubte unbeeindruckt.
»Aber jeder gute Wissenschaftler«, fuhr Carter fort, »gleichgültig, ob Astronom oder Paläontologe, will tatsächlich die Wahrheit herausfinden. Er will wissen, was der Beweis zeigt oder die empirisch gesammelten Daten enthüllen. Er hat kein Interesse daran, für die eine oder andere Theorie zu plädieren, ehe er sich angesehen hat, was er vor sich hat, und ein Muster oder eine Idee erkennt, die allem einen Sinn gibt.«
»Aber das setzt voraus, dass er weiß, wohin er schauen muss, dass er weiß, welche Daten er sammeln muss und wie diese miteinander zu verknüpfen sind.«
»Ja, sicher«, sagte Carter und fragte sich, wie man es sonst machen sollte. »Ein Wissenschaftler, der nicht weiß, welches Material für seine Arbeit relevant ist, wird niemals weit kommen.«
»Und ich nehme an, dass Sie zum Beispiel glauben, Sie wüssten es? Sie glauben, dass Sie alles mit einbezogen haben, was für die Arbeit mit dem Fossil relevant sein könnte. Ist es nicht so?«
Womit sie wieder beim Fossil wären. »Ja, das glaube ich.«
»Sind Sie sich darüber im Klaren, dass eine Minute nach der Explosion in Ihrem Labor die Glocken in jeder Kirche in der Stadt zu läuten begonnen haben?«
Carter erinnerte sich, davon im Radio gehört zu haben, als sie von Abbies und Bens Landhaus zurückgefahren waren. »Ja. Es war eine Art Halloweenstreich.«
»Ein Streich, für den es bis jetzt noch keine Erklärung oder Lösung gibt.«
»Und Sie glauben, dass das Glockengeläut etwas mit meiner Arbeit zu tun hat?«, sagte Carter ungläubig. »Wollen Sie etwa sagen, dass die Gewalt der Explosion eine Art … ja was, ausgelöst hat? Eine einheitliche Schwingung in den Kirchenglocken im ganzen Umkreis?«
Unvermittelt beugte Ezra sich vor, wobei er den Teller mit den Ellenbogen zur Seite schob. »Sie haben keine Ahnung, wovon ich rede! Die Fakten springen Ihnen ins Auge, aber Sie wollen sie einfach nicht sehen!«
Carter erinnerte sich an seinen Gedanken darüber, in einen Abgrund zu blicken. »Welche Fakten meinen Sie?«
»Glauben Sie, diese beiden Ereignisse sind nichts als Zufall?«
»Genau das denke ich. Was sollte es sonst sein?«
In Ezras Blick loderte Überzeugung oder, wie Carter dachte, der Wahnsinn. Er merkte, dass sein Gastgeber versuchte, sich zu einer Entscheidung durchzuringen. Er schätzte Carter ab und fragte sich, ob er das Thema anschneiden sollte, dem er schwerlich länger ausweichen konnte. Schließlich sagte er, mit einer Stimme, die andeutete, dass er einige tiefgreifende Vorbehalte überwunden hatte. »Kommen Sie mit.«
Ezra warf seine Serviette auf den Tisch, erhob sich und verließ den Raum. Carter folgte ihm. Er hatte keine Ahnung, wo es hinging oder was ihn dort erwartete, aber nach der Unterhaltung, die sie gerade geführt hatten, sollte er sich besser auf etwas gefasst machen. Was immer Ezra ihm zeigen wollte, es würde … ziemlich absonderlich sein.
Am Ende eines langen Korridors blieb Ezra stehen und schloss eine Tür auf. Er hielt sein eigenes Zimmer, seine eigenen Räume, verschlossen? Carter hatte immer mehr das Gefühl, es mit einer paranoiden Persönlichkeit zu tun zu haben. Ezra trat ein, und sobald Carter das Zimmer ebenfalls betreten hatte, schloss und versperrte er die Tür hinter ihnen.
»Ich muss gewisse Vorsichtsmaßnahmen ergreifen«, sagte Ezra.
Carter nickte, als würde er verstehen. Das Schlafzimmer, in dem er jetzt stand, war sehr groß und gut möbliert, aber bis jetzt hatte er nichts entdeckt, das ihm sonderlich unheimlich oder bemerkenswert vorgekommen wäre. Wenn Ezra etwas hatte, das er ihm zeigen wollte, dann musste es sich hinter der Tür zu seiner Linken verbergen.
»Ehe ich Sie einweihe«, sagte Ezra, »müssen Sie mir versprechen, dass Sie niemandem ein Wort davon verraten. Kann ich mich darauf verlassen?«