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Das letzte Relikt
  • Текст добавлен: 8 октября 2016, 21:19

Текст книги "Das letzte Relikt"


Автор книги: Robert Masello


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Ужасы


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»Das ist es nicht«, entgegnete sie, als sie an der Bleecker Street an der Ampel warteten. »Ich könnte im Moment nicht aus der Galerie weg, und wenn du allein fährst, wie sollen wir dann …?«

Carter begriff. »Ach so, das. Ich könnte dir ein paar Proben im Kühlschrank dalassen.«

»Du bist immer so romantisch. Übrigens, das wollte ich dir noch sagen: Dr. Westons Praxis hat angerufen. Nächsten Samstag hast du einen Termin. Morgens.«

Um seine Zeugungsfähigkeit testen zu lassen. Carter dachte mit Schrecken daran, während sie die letzten paar Blocks nach Hause gingen. Er spürte bereits Versagensängste in sich aufsteigen.

Ihre Wohnung im zweiten Stock eines alten roten Backsteingebäudes wies direkt auf den Washington Square Park. Bei den irrsinnigen Immobilienpreisen in Manhattan würde sie normalerweise mehrere tausend Dollar im Monat kosten. Aber zum Glück gehörte das Haus der Universität, welche die Wohnungen günstig an Fakultätsmitglieder vermietete.

Carter schloss die Tür auf und schaltete das Licht an, während Beth ihren Mantel an den hölzernen Garderobenständer im Foyer hängte.

»Willst du zuerst unter die Dusche?«, fragte sie.

»Nein, geh du nur«, sagte er und riss bereits den Umschlag von FedEx auf.

»Das hatte ich mir schon gedacht.«

Carter ging ins Wohnzimmer und ließ sich in seinen Lieblingssessel fallen, einen abgenutzten Lederlehnsessel, den er seit seiner Studentenzeit besaß. Er riss den Umschlag beinahe in zwei Hälften. Aus einer Mappe rutschten ein paar Hochglanzbilder auf seinen Schoß, und er musste rasch danach greifen, ehe sie zu Boden fielen. Mit dem Fuß zog er den Couchtisch näher heran und schüttete alles auf die marmorierte Tischplatte.

Obenauf lag ein getippter Brief mit dem Briefkopf der Universität von Rom, nach dem er als Erstes griff. » Dottore«, begann er. So hatte Joe ihn stets angeredet. »Ich schicke dir zur Kenntnisnahme alle beigefügten Proben. Und meine Grüße. Und jetzt erzähle ich dir die Geschichte von diesen Sachen, die dich, wie ich denke, sehr interessieren wird, und dann reden wir darüber.« Sein Englisch hatte sich enorm verbessert, hatte jedoch immer noch diese wunderbar gestelzte Art. Joe benutzte zum Beispiel keine Kurzformen, aber bisher war das Schreiben vollkommen verständlich. Carter überflog den Rest des sechsseitigen, einzeilig bedruckten Briefes, ehe er wieder zum Anfang zurückblätterte.

Die Schilderung begann, seltsam genug, mit einem Bericht über die Wasserstände eines Ortes namens Lago d’Averno, von dem Carter noch nie gehört hatte. Offensichtlich war der Wasserspiegel des Sees auf den tiefsten Stand seit vielleicht mehreren Millionen Jahren gefallen. Eine Höhle, die die ganze Zeit unter Wasser gelegen hatte, möglicherweise sogar Hunderte von Metern tiefer als heute, war durch die seismischen Aktivitäten in dieser Region langsam nach oben geschoben und so zum ersten Mal zugänglich gemacht geworden. Ein junges amerikanisches Paar waren die Ersten, die zufällig darauf stießen. In Klammern hatte Joe hinzugefügt, dass der Mann dort verunglückte und ertrank.

In dieser Höhle hatte man eine versteinerte Kreatur entdeckt. Joe entschuldigte sich für den Gebrauch des vagen Begriffs Kreatur, erklärte jedoch, dass genau diese Ungewissheit der Grund dafür sei, warum er seinen alten Freund Carter in erster Linie kontaktiere. »Aus den Teilen des Fossils, die wir sehen können, ist es nicht klar, womit wir es zu tun haben.« Es gäbe etwas, das aussähe wie erweiterte Klauen, fuhr der Brief fort, was die Vermutung nahelegte, dass es sich um ein Raubtier mittlerer Größe handelte, aber diese Klauen schienen ebenso über deutlich ausgebildete Mittelhandknochen und Fingerglieder zu verfügen. Merkmale also, die nur auf einen hominiden Vorfahren hindeuten konnten. »Aber ein Hominid, der im evolutionären Zeitplan viel zu alt ist, um möglich zu sein.«

Carter verstand bereits, warum Joe so verwirrt war. Aber warum unterzogen sie die Probe nicht einem einfachen Carbon-14-Test und warteten ab, was dabei herauskam? Damit hätte Carter angefangen.

Doch offensichtlich hatte Joe das auch getan. Schon im nächsten Absatz las Carter: »Wie man es erwarten darf, haben wir die vorschriftsmäßigen Radiocarbon-Datierungen durchgeführt. Da wir hier keinen Zugang zu einem Beschleuniger-Massenspektrometer haben« – kurz AMS, die, wie Carter wusste, außerhalb der Vereinigten Staaten kaum zu finden waren –, »haben wir fünf Gramm reinen Kohlenstoff vom Ausgangsmaterial isoliert und wiederholt Untersuchungen damit durchgeführt. Die Laborberichte dieser Testreihe sind beigefügt, siehe Anhang A.«

Carter blätterte in den Unterlagen, bis er den Anhang gefunden hatte. Es war die typische Darstellung, ein komplexes Diagramm mit den elementaren Zusammensetzungen und Zerfallsraten der Isotope, aber Carters Finger flog über die Seiten, bis er zu den Ziffern kam, nach denen er gesucht hatte, der abschließenden Altersschätzung. Und diese Zahl, das stimmte, ergab absolut keinen Sinn. Die Methode funktionierte, wennsie funktionierte, weil das Radiocarbon-Isotop Carbon-14, das in allen organischen Stoffen vorhanden war, egal ob es sich um Holz, Pflanzenfasern, Muscheln oder Tierknochen handelte, gleichmäßig alle 5730 Jahre zu fünfzig Prozent zerfiel. Wenn man über eine ausreichend große Probe verfügte, wie beispielsweise die fünf Gramm, die Joe hatte, bekam man eine ziemlich genaue Schätzung über das Alter selbst der frühesten prähistorischen Funde. Die berühmten Höhlenmalereien von Lascaux zum Beispiel wurden auf 15 000 bis 17 000 Jahre geschätzt. Es gab immer eine kleine Fehlerspanne, da Carbon-14 im Laufe der Geschichte nicht immer in gleichen Mengen produziert worden war, so dass die Radiocarbon-Datierung noch »korrigiert« oder »kalibriert« werden musste, um den chronologischen Schwankungen Rechnung zu tragen. Als Ergebnis blieb eine Diskrepanz von vielleicht ein paar hundert, in seltenen Fällen von ein paar tausend Jahren.

Doch selbst bei einem Spielraum von ein paar tausend Jahren ergaben Joes Berechnungen keinen Sinn, besonders dann nicht, wenn er immer noch erwog, dass es sich bei dem Fund möglicherweise um einen Hominiden handelte. Dieses Fossil vom Lago d’Averno hatte laut der Radiocarbon-Datierung vor Millionen von Jahren gelebt, lange bevor die allerersten Vorfahren der Menschheit auf der Erde herumliefen oder auch nur krochen.

Obwohl er noch nicht genau bestimmen konnte, wo sich der Fehler eingeschlichen hatte, entschied Carter, dass die Ergebnisse so fehlerhaft sein mussten, dass sie nutzlos waren. Es blieb nichts anderes übrig, als sie vollkommen außer Acht zu lassen.

Er blätterte zurück zum Brief. Dort räumte Joe ebenfalls ein, dass er mit der üblichen Radiocarbon-Methode nicht weiter vorankam.

Als nächsten Schritt hätte Carter die umgebende Gesteinsformation der Fundstelle analysiert, um anhand des Alters und der Zusammensetzung des Felsens, in den der Fund eingebettet war, herauszufinden, um was für ein Fossil es sich handelte oder handeln könnte. Offensichtlich war Joe zu demselben Schluss gekommen. »Die Ergebnisse der Untersuchung des umgebenden Felsens befinden sich im Anhang B.«

Wieder überprüfte Carter Joes Arbeit, und wieder konnte er keine offenkundigen Fehler oder Versäumnisse entdecken. Joe hatte die Arbeiten genau nach Lehrbuch erledigt. Trotzdem waren die Ergebnisse auch dieses Mal absolut rätselhaft. Das Felsgestein war vulkanischen Ursprungs und stark mit Pyroxenen durchsetzt, so viel war klar. Doch dem erstaunlich hohen Anteil an Silizium, seiner Streifung und Dichte nach zu urteilen, war es aus einem nahezu unglaublich tiefen und heißen Bereich der Erdkruste spiralförmig an die Oberfläche gedrückt worden. Im Inneren des Felsens, gleichsam als Mahnung an diesen gewundenen Weg von der Asthenosphäre durch die äußere Kruste hindurch, fand sich eine ungewöhnlich hohe Konzentration eingeschlossener, flüchtiger Gase. Carter ließ sich in seinem Sessel zurücksinken und dachte kurz darüber nach. Im Endeffekt hatten sie es hier mit einer unermesslich beständigen und dichten Gesteinsprobe zu tun, die wie eine selbstgebastelte Bombe vor den Augen explodieren konnte, wenn man sie nicht richtig behandelte. Wie eine ziemlich gewaltige selbstgebastelte Bombe.

Kein Wunder, dass Joe zögerte weiterzumachen, ehe er sich ausgiebig mit Kollegen beraten hatte.

Das Problem lag darin, einen Weg zu finden, das Fossil in einem möglichst intakten Zustand aus dem explosiven Gestein zu entfernen, mit dem es unter Umständen unlösbar verbunden war, ohne die Bombe zu zünden.

»In der Pappmappe«, schrieb Joe, »findest du Fotos von dem Fossil in situ

Darauf hatte Carter gewartet. Als die Fotos ihm entgegengefallen waren, hatte er sie absichtlich wieder zurückgelegt. Er wollte sie nicht ansehen, ehe er das übrige Material gesichtet hatte und wusste, womit er es zu tun hatte. Inzwischen wusste er, was bereits feststand, und was, in diesem besonderen Fall, noch in der Schwebe hing, und erst jetzt war er bereit, einen Blick auf die sichtbaren Beweise zu werfen und sich selbst ein Bild davon zu machen. Er beugte sich vor und öffnete die Mappe auf dem Tisch.

Das oberste Bild war so wunderschön, dass es aus einer Reisebroschüre hätte stammen können. Im Vordergrund sah man nichts als blaues Wasser mit kleinen Wellen, und im Hintergrund eine Wand aus schroffen grauen Klippen mit vom Wind gebeugten Zypressen. Auf Seehöhe lag der Eingang einer Höhle, die immer noch teilweise unter Wasser lag und auf dieser Aufnahme kaum zu erkennen war. Carter schaute auf die Rückseite des Fotos, wo Joe das Datum notiert und dazugeschrieben hatte: »Lago d’Averno, Höhle, aus etwa 150 Metern Entfernung.«

Carter legte das Bild mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch und nahm das nächste zur Hand.

Bei diesem hatte der Fotograf sich der Höhle schon viel weiter genähert. Die Öffnung war rau und zerklüftet, und an einer Seite waren die Köpfe zweier Taucher mit Taucherbrillen und Schnorcheln zu sehen. Auf der Rückseite stand »Eingang zur Höhle«, was kaum nötig gewesen wäre, doch in Klammern war hinzugefügt: »Wusstest du, dass ich tauchen kann?« Carter lächelte. Nein, dass Joe tauchen konnte, war ihm neu.

Die nächsten Fotos zeigten das Innere der Höhle, die offensichtlich von einer starken Taschenlampe beleuchtet worden war. Die nassen Wände und Decken waren in helles Licht mit scharfem Schatten getaucht, und der Fels glitzerte wie Pyrit und Diamanten. Von dem Fossil hingegen sah Carter nichts.

Er nahm sich das nächste Bild, und dieses Mal stockte ihm der Atem. Im harten hellen Licht der Lampe, die teilweise in der linken oberen Ecke zu erkennen war, konnte er jetzt die vom Felsen eingeschlossenen Knochen erkennen. Er hatte Tausende solcher Fotos gesehen, von Fossilien aus allen Teilen der Welt, aber so etwas war ihm noch nie untergekommen. Unwillkürlich erinnerte ihn der Anblick an Michelangelos Jüngstes Gerichtin der Sixtinischen Kapelle. Dieses Fossil mit den knotigen langen Klauen, oder Krallen, oder Fingern beschwor die Vorstellung von sich windenden Figuren herauf, die sich in der Phantasie des Künstlers in der Hölle tummelten. Es war fast, als läge diese Kreatur im Sterben, leide über das erträgliche Maß hinaus und kämpfe darum, wieder freizukommen. Ein Teil der Gliedmaßen war erkennbar oder zumindest als vager Umriss auszumachen, aber das war auch schon alles. Gleichwohl spürte Carter immer noch die höchst instinktive und überwältigende Reaktion der Kreatur. Sieh an, dachte Carter, ich benutze dasselbe Wort wie Joe.

Es gab noch mehr Fotos, von verschiedenen Winkeln aus aufgenommen, aber sie zeigten nichts Neues mehr von dem Fossil. Der Rest war und blieb im Felsen verborgen. In der nächsten Bildfolge war das Fossil selbst sorgfältig verhüllt und zugedeckt, während Arbeiter in Taucheranzügen dabei waren, einen Teil der Wand zu markieren. Sie bohrten Löcher, um den Druck zu mindern, und lockerten den Felsen mühselig mit Anschlaghämmern, elektrischen Bohrern und Handpickeln. Die letzten Bilder zeigten, wie ein Forschungsschiff, auf dessen Achterdeck ein Kran montiert war, die Felsplatte fortschleppte, die inzwischen durch eine Plattform aus sechs riesigen gelben Pontons gesichert war. Joe und der andere Taucher, ohne Masken, aber immer noch im Taucheranzug, standen links und rechts der Felsplatte. Sie hatten die Beine gespreizt und die Hände auf den Felsen gestützt, wie Großwildjäger neben der erlegten Trophäe.

Auf dem letzten Foto der Mappe sah man die Felsplatte unter einem Kunststoffbaldachin. Sie ruhte, gestützt von einem halben Dutzend Stahlböcken, anscheinend in einem offenen Innenhof. Auf die Rückseite hatte Joe geschrieben: »Halle der Biologischen Fakultät, Universität von Rom«. Dann folgten die Daten der Probe. »Der Fossilblock ist 3,5 Meter lang, 3,5 Meter breit und 2,5 Meter tief.« Oder, in Fuß, zehn auf zehn auf sieben. Das Gewicht betrug 1,25 Tonnen oder, wie Carter rasch überschlug, rund 3300 Pfund. Egal, welche Maßstäbe man anlegte, es war ein gewaltiges und gewaltig schwerfälliges Exemplar.

Carter legte das letzte Foto zurück und nahm noch einmal Joes Brief zur Hand. Die letzte Zeile lautete: »Es ist meine beachtliche Meinung, dass die ungewöhnlichen Merkmale nahelegen, dass es sich um einen Fund von großer wissenschaftlicher Bedeutung handelt.«

Das konnte man wohl sagen.

Carter lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah auf die Uhr. Zu seiner Überraschung war es bereits fast Mitternacht. Dann fiel sein Blick erneut auf das Foto, das im Inneren der Höhle gemacht worden war, dasjenige, auf dem die Kreatur sich aus dem Felsen herauszugraben schien. Es war ein Bild, von dem er wusste, dass er es nie wieder würde vergessen können. Er stand auf und schaltete das Licht aus. Doch bevor er ins Bett ging, hielt er inne und drehte das Foto um, so dass es mit der Vorderseite zum Tisch zeigte.

Warum, fragte er sich, irgendwie von sich enttäuscht, hatte er das getan?


6. Kapitel

»Es muss schwierig für Sie sein, nach so vielen Jahren in der Ferne wieder zurückzukommen«, sagte Dr. Neumann, legte ihre Finger aneinander und musterte Ezra mit ihrem vorsichtig neutralen Blick. »Wie geht es Ihnen damit?«

Wie es ihm damit ging? Gut, dachte Ezra. Ganz gut – solange sich ihm niemand in den Weg stellte und man ihn in Ruhe ließ, damit er tun konnte, was er tun musste. »Es ist eine Umstellung«, sagte er in der Annahme, es sei eine vollkommen befriedigende Antwort, weder negativ noch positiv.

»Natürlich.« Sie lächelte und schwieg, aber er kannte den Trick. Das war ihr Psychotherapeutenlächeln, mit dem sie einen dazu bringen wollte, sich ihr anzuvertrauen. Das Schweigen sollte mit der Zeit so unangenehm werden, dass man es unbedingt brechen wollte und dabei alle möglichen Geheimnisse ausplauderte. Nein, es hatte sich nicht viel geändert. Nicht einmal die abstrakten Drucke an den Wänden ihrer Praxis, das leise Summen der Heizung oder die Position der beiden Sessel, in denen sie saßen. Er fühlte sich, als sei er zwanzig Jahre in der Zeit zurückgereist, bis zu dem Moment, in dem er ihr zum ersten Mal begegnet war. Kurz nachdem der Direktor der Horace Mann School seine Eltern darüber informiert hatte, dass Ezra, trotz seiner astronomisch guten Werte beim IQ-Test und allen anderen üblichen Leistungstests, sich nicht, nun ja, so recht anpasste. Weder akademisch noch sozial.

»Wie kommen Sie mit Ihrem Vater zurecht? Hat sich Ihre Beziehung zu ihm verbessert?«

»Wir gehen einander aus dem Weg«, sagte Ezra, »so gut es geht.« Das entsprach der Wahrheit. Sein Vater hielt sich entweder in seinem Büro in der Madison Avenue auf, wo er herummauschelte und Ränke schmiedete, um sich auch noch die letzten Fitzelchen der Stadt unter den Nagel zu reißen, die er nicht bereits besaß. Oder er war auf einer Veranstaltung der feinen Gesellschaft, zu der Kimberly ihn mitschleifte.

»Sie haben jetzt doch auch eine Stiefmutter, war es nicht so? Ich meine mich zu erinnern, in der Zeitung gelesen zu haben, dass Ihr Vater wieder geheiratet hat.«

Jetzt, dachte Ezra, wurde sie unaufrichtig. Natürlich wusste sie, dass sein Dad wieder geheiratet hatte. Wahrscheinlich wusste sie über sein Treiben besser Bescheid als Ezra. In der ganzen Zeit in Israel hatte er penibel alle New Yorker Zeitungen gemieden, und er hatte nie jemandem verraten, dass er Sam Metzgers Sohn war, es sei denn, es ließ sich nicht vermeiden.

»Ja, er hat eine neue Frau. Ihr Name ist Kimberly«, sagte er. Nervös umklammerten seine Finger die Plastiktüte in seinem Schoß. Wann bekäme er endlich die Gelegenheit, auf den wahren Grund zu sprechen zu kommen, warum er diesen Termin vereinbart hatte?

»Wie ist Ihr Verhältnis zu ihr?«

Ezra konnte beinahe überhaupt nicht antworten. Er war dieser Sache so überdrüssig, wollte das alles nicht durchexerzieren, wollte keine Fragen über seine Familie, seine Gefühle und seine Zukunft beantworten. Er hatte sich diesen Termin geben lassen, weil seine Medikamente zur Neige gingen, und solange er kein neues Rezept bekäme, würde es ihm verdammt schwerfallen, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Oder zu schlafen. Oder seine Stimmungsumschwünge in den Griff zu bekommen. Er brauchte einfach Nachschub.

»Sie ist in Ordnung. Sie sehe ich auch nicht oft.« Und weil er glaubte, dass es der guten Frau Doktor gefallen würde, und weil er das Gefühl hatte, ein wenig mehr Interesse zeigen zu müssen, fügte er hinzu: »Es ist eher so, als sei da plötzlich eine ältere Schwester im Haus. Sie ist nur ein paar Jahre älter als ich.«

»Tatsächlich?«, sagte Dr. Neumann und nickte langsam. »Wie interessant.«

Verdammt,dachte Ezra. Sie hat angebissen. Jetzt hatte er unbeabsichtigt schlafende Hunde geweckt. Neumann wäre glatt in der Lage, diese Bemerkung mehrere Sitzungen lang auszuschlachten. Und wann würde er sie endlich da haben, wo er sie schon jetzthaben wollte?

»Was meinen Sie, welche Auswirkungen das auf Ihre Beziehung zu Ihrem Vater hat? Wenn Sie Kimberlys Einfluss darauf beschreiben müssten, würden Sie eher sagen, sie baut eine Brücke oder eine Mauer zwischen Ihnen beiden?«

»Auf diese Weise habe ich noch nie darüber nachgedacht«, sagte Ezra und versuchte, seine Stimme frei von Geringschätzung zu halten. Er hatte keine Ahnung, wo diese Fragerei hinführen sollte, und Neumann konnte bis in alle Ewigkeit mit diesen dämlichen Metaphern und sinnlosen Fragen weitermachen. Erneut fingerte er an der Tasche auf seinem Schoß herum, und dieses Mal geruhte sie, davon Notiz zu nehmen.

»Ich habe das Gefühl, dass Sie abgelenkt sind, Ezra«, sagte sie mit einer gewissen Schärfe. »Dass es etwas gibt, das wir zunächst benennen und klären müssen. Was ist in der Tasche, die Sie da festhalten?«

Ezra versuchte, nicht zu ungeduldig zu wirken, als er hastig die Schleife der Plastiktüte löste. »Das hier sind die Medikamente, die ich in Israel bekommen habe«, sagte er, holte die Gläschen heraus und stellte sie auf den kleinen Tisch neben Dr. Neumanns Sessel. Die Etiketten waren auf der einen Seite auf Hebräisch und auf der anderen Seite auf Englisch beschriftet. »Alles, was ich brauche, sind neue Rezepte.«

Dr. Neumann nahm ihre Lesebrille vom Tisch, setzte sie auf und nahm die Fläschchen in die Hand. »Ihr Arzt dort drüben hieß Stern?«

»Ja, Herschel Stern.«

»Ich würde gerne Kontakt mit ihm aufnehmen und seine Berichte lesen.«

»Kein Problem. Ich kann Ihnen seine Nummer geben.«

»Aber wahrscheinlich kann ich Ihnen fürs Erste ein neues Rezept ausstellen«, sagte sie und warf einen Blick auf das, was er als das Glas mit den Xanax erkannte. »Wir werden die Dosis neu einstellen, sobald wir in der Therapie weitergekommen sind.«

Soweit es Ezra betraf, waren sie bereits genau an dem Punkt, der ihn interessierte. Aber er wusste, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um das zu sagen. Als sie nach ihrem Block griff und die Rezepte ausfüllte, vollführte sein Herz einen Luftsprung.

Draußen lehnte Onkel Maury rauchend an der Parkuhr. »Wie ist es gelaufen?«, fragte er und schmiss die Zigarette in den Gulli. »Bist du endlich gesund?«

»Ich werde es sein«, sagte Ezra und wedelte mit dem Bündel Rezepte herum.

Auf dem Heimweg hielten sie bei der ersten Apotheke, an der sie vorbeikamen, und während seine Medikamente geholt wurden, streifte Ezra durch den Laden und suchte all die anderen Dinge auf seiner Liste zusammen, von OP-Handschuhen und Isopropylalkohol bis zu Wattestäbchen und Talkumpuder. Der Rest der Sachen, die er brauchte, ein Zeichentisch und ein Computerstuhl, durchsichtige Schutzhüllen, Schablonenmesser und Bürsten aus Zobelhaar sowie ein Vergrößerungsglas, war heute Morgen geliefert worden. Es musste nur noch ordentlich aufgebaut und anschließend benutzt werden. Er konnte es kaum abwarten, anzufangen.

Zu Hause stellte Ezra erfreut fest, dass alle fort waren; selbst Gertrude war zum Einkaufen oder so. Er eilte den Korridor entlang, schloss die Tür hinter sich ab und machte sich umgehend daran, seine Zimmer umzuräumen. Außer, dass er ein paar Dinge vom Nachttisch räumte, um mehr Platz für seine Lektüre zu haben, beließ er das Schlafzimmer in seinem ursprünglichen Zustand.

Der angrenzende Raum war früher sein Spielzimmer gewesen, und er hatte beschlossen, dass er hier die eigentliche Arbeit erledigen würde. Zuerst räumte er das Bücherregal aus, in dem immer noch die meisten Bücher aus der Schule und dem College standen, alles vom Fänger im Roggenbis zur Norton Anthologie. Anschließend zerrte er das leere Regal hinüber zum Fenster. Wenn seine Quellensammlung aus Israel ankäme, würde er sie dort einsortieren.

An der Stelle, wo vorher das Bücherregal gestanden hatte, baute er den Zeichentisch auf. Zum Glück war das nicht viel Arbeit, er musste nur die Beine befestigen, die Platte im richtigen Winkel einstellen und die Lampe anklemmen. Tisch und Stuhl standen jetzt so weit wie möglich vom Fenster und damit vom Tageslicht entfernt, und das war gut so. Sonnenlicht konnte an Materialien wie denen, mit denen er arbeiten würde, eine Menge Schaden anrichten.

Schließlich brauchte er noch etwas, auf dem er seine Werkzeuge und Arbeitsmaterialien ablegen konnte. Sein Blick fiel auf eine alte Holzkiste neben dem Schrank, in der er früher seine Spielsachen aufbewahrt hatte. Er bückte sich, um sie zu öffnen, und war nicht weiter überrascht, als er seine alten Modellflugzeuge und Comics darin entdeckte. Sogar die Bongos waren noch dort, mit denen er seine Eltern fast in den Wahnsinn getrieben hatte. Er klappte den Deckel wieder zu, zerrte die Kiste hinüber zum Zeichentisch und legte die Tüten mit den Pinseln, dem Alkohol und den Handschuhen darauf. Dann trat er einen Schritt zurück und begutachtete sein Werk.

Nicht übel, dachte er. Überaus brauchbar sogar.

Jetzt stand ihm nichts mehr im Weg. Er konnte wieder mit der Arbeit beginnen.

Er betrat den begehbaren Schrank und griff in das oberste Regal, hinter die zusätzlichen Decken. Seine Finger ertasteten die Papprolle, die er dort versteckt hatte, und zogen sie hervor. Obwohl der Inhalt der Rolle nur wenig wog und nur in Gramm, nicht einmal in Kilogramm messbar war, fühlte es sich an, als hielte er etwas von unvorstellbarem Gewicht in den Händen. Es fühlte sich an, als hätte er den Gipfel des Berges Sinai erklommen und umklammere jetzt die Steintafeln, die einst Moses höchstpersönlich anvertraut worden waren.

Und so viel er wusste, tat er genau das.


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