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Das letzte Relikt
  • Текст добавлен: 8 октября 2016, 21:19

Текст книги "Das letzte Relikt"


Автор книги: Robert Masello


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Ужасы


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34. Kapitel

Ein paar Sekunden lang saß Carter wie gelähmt auf seinem Stuhl. Der Klang der Stimme hallte noch in seinen Ohren nach. Ich muss gehen.Konnte das die Stimme eines Engels gewesen sein? Sie war weich und tief gewesen, mit einer leicht fremdartigen Betonung, einer jener Kleinigkeiten, an denen man merkte, dass jemand kein Muttersprachler war.

Und was hatte Joe gerufen, kurz bevor die Verbindung unterbrochen wurde? Er solle Arius nicht in seine Nähe gelangen lassen, das hatte er verstanden. Aber danach? Dass er Arius nicht in Beths Nähe lassen sollte? War es das? Und gab es außer den offensichtlichen noch andere Gründe für diese dringende Warnung?

Er schnappte sich seine Lederjacke von der Lehne seines Laborstuhls, zog sie an und rannte zur Tür. Mit einem Fußtritt schloss er die Tür hinter sich und tippte verzweifelt die Nummer des Krankenhauses in sein Handy, während er die Treppe zum Erdgeschoss hinaufstürmte.

»Village Pizza«, sagte eine Stimme vor der Unruhe einer hektischen Küche, und Carter unterbrach die Verbindung. Er blieb auf der Treppe stehen und wählte noch einmal sorgfältiger.

Dieses Mal war es die richtige Nummer, doch als er das Schwesternzimmer auf Joes Station verlangte, wurde er in die Warteschleife gelegt. Hätte er nach dem Sicherheitsoffizier fragen sollen? Sollte er auflegen und neu wählen?

Er stieß die Haupttür auf und hielt auf der Straße Ausschau nach einem Taxi.

Oder sollte er den Detective anrufen und ihm sagen, er solle auf der Stelle ins St. Vincent’s kommen, wenn er den Kerl fassen wollte, der den Transvestiten abgefackelt hatte? Aber welche Warnung sollte er ihm mit auf den Weg geben? Dass er besser eine Bibel mitnähme oder etwas Weihwasser? Würden diese Dinge ihm überhaupt etwas nützen, wenn er sie mitbrächte?

Würden sie irgendjemandemetwas nützen?

Die Telefonistin vom Krankenhaus meldete sich wieder. Sie hörte sich an, als habe sie Mühe, unbeeindruckt zu klingen. »Tut mir leid, aber im Schwesternzimmer kann im Moment niemand Ihren Anruf entgegennehmen. Bitte rufen Sie später noch einmal an.«

Ehe sie auflegen konnte, platzte Carter heraus: »Aber das ist ein Notfall!«

»Sie müssen später noch einmal anrufen«, wiederholte sie, und dieses Mal hörte Carter etwas in ihrer Stimme, etwas, das sie nicht laut aussprach.

Er fürchtete sich vor dem, was es sein könnte.

Ein Taxi bog um die Ecke und hielt an, um eine ältere Frau aussteigen zu lassen. Carter stürzte sich darauf und schnitt zwei Studenten, die mit schweren Reisetaschen zum Bordstein schlurften, den Weg ab.

»Hey, Mann! Wir haben es zuerst gesehen«, rief einer.

»Er gehört zur Fakultät«, hörte Carter den anderen sagen. »Professor Bones.«

»Na und?«, erwiderte der Erste, aber Carter war bereits im Wagen, knallte die Tür zu und sagte dem Fahrer, er solle zum St. Vincent’s fahren. Er wählte die Nummer von Ezras Wohnung, und diese Frau, die ihnen den Lunch serviert hatte, Gertrude oder so ähnlich, meldete sich mit gedämpfter Stimme.

Als er seinen Namen nannte und Ezra verlangte, schien sie unsicher zu sein, was sie tun sollte.

»Es ist äußerst wichtig«, sagte Carter. »Ich muss ihn sprechen. Sofort.«

Zentimeterweise schob sich das Taxi durch den Verkehr im West Village.

Schließlich kam Ezra ans Telefon.

»Ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus«, sagte Carter. »Ich glaube, Joe ist etwas zugestoßen.«

»Was?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Carter und wollte selbst jetzt noch nicht an die furchtbaren Möglichkeiten denken. »Aber es kann sein, dass er Besuch hatte. Von Arius.«

Er hörte, wie Ezra den Atem anhielt.

»Sobald ich dort fertig bin«, sagte Carter, »komme ich zu dir.«

»Hierher?«

»Du wirst mir diese ganze verdammte Schriftrolle zeigen, alles, was du bereits zusammengesetzt hast, und dann werden wir herausfinden, was wir zu tun haben.«

Carter legte auf und stopfte ein paar Dollarnoten in den Metallbehälter in der Zwischenwand aus Plexiglas. »Das sind zwanzig Kröten«, sagte er. »Beeilen Sie sich.«

Der Fahrer griff mit der Hand nach hinten, fischte die Geldnoten aus der Dose und gab Gas. Er jagte das Taxi über drei gelbe und eine rote Ampel, aber als er zum Block kam, in dem das Krankenhaus lag, war der Eingang von drei Feuerwehrwagen und einem halben Dutzend Polizeiwagen mit kreisenden roten Lichtern versperrt. Jetzt wusste Carter, dass er mit dem Schlimmsten zu rechnen hatte.

»Lassen Sie mich auf der anderen Straßenseite raus.«

Das Taxi wendete auf den verstopften Fahrbahnen und hielt vor dem Maschendrahtzaun an, der das abbruchreife Lager für medizinisches Zubehör umgab. Carter stieg aus, spurtete los und schlängelte sich durch das Durcheinander aus Polizeiautos und Feuerwehrwagen. Über die quäkenden Funkgeräte und Walkie-Talkies hinweg schnappte er hier und da ein paar Brocken auf. Er hörte »Das Feuer ist unter Kontrolle« und »Der größte Schaden entstand im sechsten Stock.« Joes Etage. Bis jetzt hatte er nichts über Todesopfer gehört.

Die beiden Seitentüren waren weit geöffnet, aber gedrängt voll mit Notfallpersonal, das rein und raus eilte. Carter benutzte stattdessen die Drehtür, trat ein und schob sie an.

Kaum hatte er das sich drehende Abteil betreten, da hatte er das Gefühl, direkt nach einem Sommerregen in einen dichten Wald gestolpert zu sein. Es war derselbe Geruch, der ihm auch in seiner eigenen Wohnung aufgefallen war, in jener Nacht, als er Beth nahezu nackt im Bett ausgestreckt gefunden hatte und das Fenster zur Feuerleiter geöffnet gewesen war.

Kurz darauf stand er mitten im Tumult in der Krankenhauslobby. Die Duftwolke, die ihn umhüllt hatte, hatte er genauso unvermittelt hinter sich gelassen, wie er hineingeraten war. Feuerwehrmänner und Polizisten setzten eine Art Notfallplan um, und Carter begriff rasch, dass es sich um eine Evakuierung handelte. Eine Gruppe nervöser Besucher wurde aus einem Fahrstuhl und zu den Ausgängen geführt. Ein Polizist rief: »Hey, Sie da!« und meinte Carter damit. »Das Krankenhaus ist geschlossen.«

Carter nickte und machte kehrt, doch anstatt durch die Drehtür wieder hinauszugehen, verschwand er geduckt in einem kurzen Korridor, von dem er wusste, dass er zum Treppenhaus führte. Die Tür stand offen, und über sich hörte Carter die quietschenden Gummistiefel der Feuerwehrmänner. Er erklomm die Treppe, zwei Stufen auf einmal nehmend, und stieß auf dem dritten Absatz auf einen Trupp Feuerwehrleute.

»Ich bin Arzt, ich habe gerade den Anruf bekommen«, sagte er, während er sich zwischen ihnen hindurchdrängte. »Sechster Stock, richtig?«

»Stimmt«, sagte einer von ihnen, doch Carter war bereits am nächsten Treppenabsatz und dann beim übernächsten.

Im sechsten Stock blieb er stehen und beugte sich vor, um wieder zu Atem zu kommen und sich gegen das zu wappnen, was er vorfinden würde. Der Brandgeruch war stärker geworden, je höher er gekommen war, so dass es für ihn außer Frage stand, dass es eine Explosion gegeben hatte.

Wie die Explosion in seinem Labor.

Die Tür stand offen und war festgehakt, und von der anderen Seite hörte Carter einen ungeheuren Krach. Der Boden glänzte vom Wasser, das, schwarz vor Ruß und Asche, immer noch ins Treppenhaus lief und die Stufen hinuntertropfte. Er trat über ein Rinnsal hinweg und in den breiten Korridor des sechsten Stocks.

Hier herrschte ein heilloses Chaos. Feuerwehrmänner und Polizisten halfen dem Pflegepersonal dabei, die verbliebenen Patienten aus dem zerstörten Bereich zu holen. Vorsichtig wurden die Kranken in ihren Betten aus den Zimmern und durch die Trümmer gerollt. Carter umrundete das verlassene Schwesternzimmer und ging in die Richtung von Joes Zimmer. Noch ehe er sein Ziel erreicht hatte, sah er, dass es sich dabei um das Epizentrum der Zerstörung handelte. Die Tür fehlte völlig, ebenso ein Teil der Wand. Das Fenster gegenüber der Tür war herausgedrückt worden, und ein starker Luftzug sorgte dafür, dass permanent eine Aschewolke in der Luft herumwirbelte. Angehörige der Rettungsmannschaft liefen im Zimmer herum, hielten sich jedoch sorgsam von einem geschwärzten Haufen fern, der in der Nähe der Stelle lag, wo einmal die Tür gewesen war. Carter drehte sich der Magen um.

Er spürte eine Hand an seinem Ellenbogen, die ihn zurückzog.

»Sie dürfen dort nicht hinein«, hörte er jemand sagen. Als er sich umdrehte, sah er Dr. Baptiste, das Haar zerzaust, das Gesicht dreckverschmiert. »Sie können nichts mehr für ihn tun.«

Sie zog ihn fort.

»Was ist passiert?«, fragte Carter wie betäubt.

Sie zerrte ihn den Korridor hinunter und durch die Tür in ein evakuiertes Zimmer.

»Niemand weiß es«, sagte sie und wischte sich mit dem Ärmel ihres Kittels über die Augen. Er war grau vor Ruß. »In seinem Zimmer ging ein Rauchmelder los, und ich eilte los, um nach ihm zu sehen. In dem Moment sah ich den anderen Mann den Raum verlassen.«

»Welchen anderen Mann?«, fragte Carter, obwohl er es im Grunde bereits wusste.

»Der große mit dem blonden Haar«, sagte sie, und während sie sprach, schien ihr Blick Carter mit erstaunlicher Intensität zu durchbohren. »Wissen Sie, wen ich meine?«

»Ja.«

»Dann können Sie mir vielleicht etwas erklären«, sagte sie und ergriff erneut seinen Arm. »Er kam aus dem Zimmer, und ich sah, wie er die Tür hinter sich schloss. Ich hielt ihn auf, um ihn zu fragen, warum der Rauchmelder losgegangen sei. Ich ergriff seinen Arm, genau so wie Ihren jetzt«, sagte sie und blickte auf Carters Ellenbogen hinunter, »aber ich weiß nicht, was ich da festhielt.«

Carter wusste nicht, was er sagen sollte. Was sollte er ihr erzählen, das sie glauben könnte?

»Er trug eine dunkle Sonnenbrille«, fuhr sie fort, »so dass ich seine Augen nicht richtig erkennen konnte. Aber jetzt bin ich froh, dass ich sie nicht gesehen habe.«

»Das sollten Sie auch«, erwiderte Carter.

»Dann ist das ganze Zimmer einfach explodiert. Ich wurde durch den halben Flur geschleudert. Alles im Zimmer stand in Flammen«, sagte sie und schüttelte traurig den Kopf, »alles. Und der Mann mit der Sonnenbrille war verschwunden.«

Natürlich war er das, dachte Carter. So würde es immer sein. Er säte Tod und Verderben, und dann verschwand er. Was hatte er davon gehabt, Joe zu töten?

Aber da war eine Sache, die Dr. Baptiste gesagt hatte, die Carter nicht aus dem Kopf ging. Sie hatte gesagt, der Mann habe die Tür hinter sich geschlossen. Vorsichtig nahm Carter ihre Hand von seinem Arm und sagte: »Ich muss etwas erledigen.«

»Ich sagte Ihnen bereits«, wiederholte sie, »dass Sie nichts mehr tun können. Er ist tot. Ihr Freund ist tot.«

»Das weiß ich«, sagte Carter. »Haben Sie OP-Handschuhe dabei?«

»Was?«

»Einen OP-Handschuh – haben Sie einen dabei?«

Sie wühlte in der Tasche ihres schmutzigen Kittels und zog ein Paar Gummihandschuhe heraus. Rasch zog Carter sie über und ließ die Ärztin verwirrt im leeren Zimmer stehen.

Er ging den Korridor entlang und zum Schwesternzimmer zurück. Seine Erinnerung hatte ihn nicht getäuscht, an der Wand dort vorne lehnte eine Tür, eine Krankenhaustür. Die Oberfläche war schwarz und zersplittert, aber die Zimmernummer war immer noch heil, ebenso wie der metallene Türgriff. Es war die Tür zu Joes Zimmer.

Carter stellte einen Fuß gegen das zerbrochene Holz und trat zu. Das Holz zersplitterte vollständig, bis der Türgriff auf der einen Seite sich löste. Er trat auf der anderen Seite gegen das Holz, und auch hier lockerte sich der Türgriff. Dann riss er mit behandschuhten Händen beide Griffe los. Ein vorbeikommender Polizist musterte ihn merkwürdig.

»Sicherung von Fingerabdrücken«, sagte Carter und hielt die Türgriffe vorsichtig an der angesengten Kante fest.

Im Schwesternzimmer fand er einen großen Umschlag mit Patientenakten darin. Er holte die Akten heraus, legte die Griffe hinein und stopfte sie in die Innentasche seiner Jacke. Er warf einen kurzen Blick in Joes Zimmer und stellte fest, dass man eine schwarze Plastikplane neben die sterblichen Überreste gelegt hatte. Zwei Krankenhausmitarbeiter bückten sich, bereit, die Leiche anzuheben. So sehr er es auch hasste, sich der Aufgabe zu stellen, Carter wusste, dass er sich von seinem Freund verabschieden musste.

Er bahnte sich seinen Weg durch die Feuerwehrleute und Polizisten und betrat das, was von Joes Zimmer übriggeblieben war.

»Hey, Sie können hier nicht rein«, sagte einer der Sanitäter, aber der andere, der vielleicht den Ausdruck auf Carters Gesicht bemerkte, sagte: »Wir können Ihnen eine Sekunde geben«, und zog sich taktvoll ein Stück zurück.

Carter stand über den verschmorten, nahezu unidentifizierbaren Überresten, die einst sein Freund gewesen waren. Joe war ein großer Kerl gewesen, so stattlich und voller Leben. Doch alles, was jetzt von ihm übriggeblieben war, war ein Haufen geschwärzter Glieder und nackter Knochen, deren extreme Haltung die Grenze dessen ausdrückte, was ein Mensch ertragen konnte. Bei dem Anblick fühlte Carter sich an die Leichen erinnert, die man in Pompeji und Herculaneum ausgegraben hatte. Joes Gesicht, oder was davon übrig war, lag seitlich zum Boden gedreht, und Carter hatte das Bedürfnis, seinen Freund dort zu berühren und ihm Lebewohl zu sagen. Er kniete nieder und legte die Hand auf die eingesunkene versengte Wange. Mit dem Finger strich er über das ausgetrocknete Gewebe. Es fühlte sich an wie warmer Teer. Leise sagte er: »Auf Wiedersehen, Joe. Es tut mir so leid.«

Und noch ehe er sich dessen recht bewusst war, hörte er sich sagen: »Gott sei mit dir.«

Carter, der sein Leben lang voller Inbrunst an nichts geglaubt hatte, hätte nie gedacht, dass ihm so ein Satz je über die Lippen käme. Aber jetzt, wo er mit diesem Grauen konfrontiert war und kurz davor stand, sich noch Grauenvollerem stellen zu müssen, strömten die Worte so selbstverständlich aus ihm heraus wie Wasser aus einer Quelle … oder Blut aus einer Wunde.


35. Kapitel

Seit Stunden saßen sie bereits über den alten Texten. Immer wieder war Ezra die Bruchstücke der Schriftrolle durchgegangen, hatte den Text erklärt, ihn durch Einzelheiten aus der biblischen Geschichte ergänzt und Beweise zusammengetragen. Im nur schwach erleuchteten und zunehmend stickigen Raum konnte Carter sich nicht mehr länger wach halten und konzentrieren.

»Siehst du,«, sagte Ezra, als er zu einem anderen Fragment der Rolle kam, das in einer Schutzhülle steckte und mit Reißzwecken an die Wand geheftet war, »hier heißt es, dass die Wächter in Hunderten zählen, und dass Gott sie berufen hat, um über die Menschheit zu wachen.« Glucksend schüttelte Ezra den Kopf. »Sieht so aus, als hätten sie ihre Aufgabe zu gut erledigt.«

»Was meinst du damit?«, fragte Carter und nahm einen weiteren Schluck von seinem abgestandenen Kaffee.

»Sie hatten ein Auge auf die Frauen geworfen … und sind dabei auf dumme Gedanken gekommen.«

»Wo wir gerade von dummen Gedanken reden … ist es wirklich nötig, das Fenster geschlossen zu halten? Man kann hier drinnen kaum noch atmen.«

»Ich kann es nicht riskieren, dass die Schriftrolle noch weiter beschädigt wird«, sagte Ezra gereizt. »Ich habe dir gesagt, dass ich nur noch ein paar Stellen übersetzen muss, und dann muss ich das ganze Ding endgültig zusammensetzen.«

»Mach weiter«, gab Carter nach.

»Sie empfanden Lust.«

»Diese Engel konnten Gefühle entwickeln?«

»Ich habe nie behauptet, dass sie es nicht könnten. Ich sagte nur, dass sie keine Seelen besaßen.«

»Wozu sollte ein Engel auch eine Seele brauchen? Haben sie das nicht schon hinter sich?«

»Guter Einwand. Aber wie wir in diesem Abschnitt hier lesen«, sagte Ezra und deutete auf ein weiteres vergilbtes Fragment an der Wand, »fingen sie schließlich an, uns zu beneiden. Sie sahen, welchen besonderen Platz die Menschen, die als Einzige über eine Seele verfügten, in Gottes Augen einnahmen, und deshalb wollten sie ebenfalls eine haben.«

»Und sie konnten nicht einfach darum bitten?«

»Der Abschnitt hier ist zu verblasst, um ihn zu entziffern«, sagte Ezra und zeigte auf ein kleines Stück Pergament, »aber möglicherweise taten sie es, und Gott verweigerte es ihnen. Vielleicht waren sie auch einfach zu stolz, um darum zu bitten. Wir werden es niemals wissen.«

Carter stellte den Kaffeebecher auf dem Boden ab, hob die Arme über den Kopf und streckte sich. Dann warf er einen Blick auf die Uhr. Es war ein Uhr nachts. Inzwischen würde Beth längst in Abbies und Bens Wohnung schlafen. Am Telefon hatte er ihr das Versprechen abgenommen, heute Abend nicht nach Hause zu gehen, und sie hatte ohne zu zögern zugestimmt, was ihn ein wenig überrascht hatte.

»Aber was immer geschehen ist«, fuhr Ezra fort, »die Wächter blieben unzufrieden. Also begannen sie, die Angelegenheit selbst in die Hände zu nehmen. Sie beschlossen, sich mit den Menschenfrauen zu paaren, nach denen sie ohnehin schon immer ein Verlangen verspürt hatten. Dabei kam das heraus, was man vielleicht als perfekte Mischlinge bezeichnen könnte.«

»Engel mit Seelen.«

»Ganz recht. Damit forderten sie jedoch die himmlische Ordnung extrem heraus. Zu diesem Zeitpunkt begann der Krieg im Himmel. Den Rest kennst du – der Erzengel Michael schlug an der Spitze von Gottes Armee die Rebellen nieder und warf sie aus dem Himmel.«

»Was ist mit Luzifer und der Sünde des Stolzes? Diese ganze Geschichte?«

»Das sind spätere Ausschmückungen, alles ausgedacht«, erklärte Ezra mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Aber es gibt noch eine andere Sache, bei der das Alte Testament recht gehabt haben könnte – bei der Sintflut.«

»Vierzig Tage und Nächte?«

»Nein. In dieser Schriftrolle habe ich nichts gefunden, das bestätigen würde, dass es tatsächlich zu einer Überschwemmung gekommen wäre«, erklärte Ezra mit der Überzeugung eines Wissenschaftlers, der Unmengen von Labordaten unter die Lupe genommen hatte. »Keine Arche, kein Noah, nichts davon. Aber irgendetwas war da. Es ist schwer, das wortwörtlich zu übersetzen, aber es geht um eine gewaltige Veränderung, ein einschneidendes Erlebnis, durch das reinen Tisch gemacht wurde. Nach dem Sieg über die rebellischen Engel, nachdem sie in den Eingeweiden der Erde begraben worden waren«, sagte er und deutete auf den unteren Teil eines weiteren Abschnitts der zerfetzten Schriftrolle, »heißt es an dieser Stelle ›und die Ruchlosen und der Mensch wurden, gleich dem Löwen und dem Schakal, Todfeinde. Von diesem Tag an brachte es den Tod, ihr Blut zu vermengen.‹ Ich habe mir bei der Syntax einige Freiheiten erlaubt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass der Kern stimmt.«

Carter atmete aus und ließ die Arme zwischen seinen Beinen baumeln. »Aber wie kann irgendetwas davon wahr sein? Ich meine, ist es nicht längst nachgewiesen, nur um irgendwo anzufangen, dass die Erde älter ist als sie nach irgendeiner dieser Geschichten sein dürfte? Dass die Evolution, um ein weiteres Beispiel zu nennen, sich seit vielen Millionen Jahren abspielt? Und dass wir vom Affen, nicht von Engeln abstammen? Haben wir uns nicht von Augustus ab-und Darwin zugewandt? Und was ist mit …«

»Und was ist hiermit?«, unterbrach Ezra ihn und deutete mit einer ausholenden Bewegung auf die mühevoll rekonstruierte Schriftrolle. »Wenn wir den Ergebnissen aus deinem eigenen Labor Glauben schenken, dann ist dies hier lebendes Gewebe, älter als alles, was jemals datiert wurde, und zudem noch unidentifizierbar. Dein Freund Joe, möge er in Frieden ruhen, hat das akzeptiert. Warum kannst du es nicht?«

Weil es, selbst nach allem, was geschehen war, inakzeptabel war. Weil alles, was er je geglaubt, gelernt, erforscht, gewussthatte, dagegen sprach.

»Du siehst immer noch nicht das große Ganze, Carter«, beharrte Ezra. »Alles, worüber wir sprachen, geschah Äonen bevorsich die Geschichten der Bibel mutmaßlich abgespielt haben. Und ich rede hier nicht von Tausenden von Jahren, sondern von Millionen und Abermillionen. Es war eine Welt, die vor allem existierte, von dem wir je wissen oder uns vorstellen können, vor den Dinosauriern, bevor die Kontinente auseinanderdrifteten, bevor die Sterne geboren wurden und die Planeten ihre Umlaufbahnen erreicht hatten.«

»Und wie sollen wir irgendetwas davon wissenkönnen?«

Ezra zuckte die Achseln. »Göttliche Inspiration? Das kollektive Unterbewusstsein?« Selbst Ezra schien am Ende zu sein und ließ sich auf den Stuhl vor dem Zeichentisch plumpsen. »Durch diese Schriftrolle?«

Immer wieder kamen sie auf die Schriftrolle zurück. Und auf das Fossil. Die DNA-Untersuchungen hatten ergeben, dass beides von einem Wesen stammte, das unmöglich existieren konnte. Und die Datierungstechniken bescheinigten beiden ein genauso unmögliches Alter. Ein Alter, das nur Ezra glaubwürdig finden konnte.

Zudem hatte Carter insgeheim noch einen weiteren unerklärlichen Beweis. Auf dem Weg zu Ezra hatte er den Türgriff von Joes Krankenzimmer beim Polizeirevier abgegeben, mit einer Nachricht für Detective Finley, ihn auf Fingerabdrücke untersuchen zu lassen. Ein paar Stunden später hatte Carter seinen Anrufbeantworter im Büro abgehört.

»Danke für den Türgriff«, hatte der Detective aufs Band gesprochen. »Zu Ihrer Information: es sind dieselben perfekten Abdrücke darauf. Würden Sie mich bitte zurückrufen und mir erklären, wie Sie darangekommen sind?«

Das würde Carter morgen erledigen müssen, obwohl er die Aussicht, vom Detective in die Mangel genommen zu werden, nicht gerade reizvoll fand. Er hatte gewusst, dass die Fingerabdrücke zu denen passen würden, die man am Tatort von Donald Dobkins’ Verbrennung gefunden hatte, und er wusste auch, von wem diese Abdrücke stammten. Aber er wusste auch, dass er sich, sobald er auch nur versuchte, einem Mordermittler der New Yorker Polizei die ganze Sache zu erklären, schneller in einer psychiatrischen Anstalt wiederfinden würde als er gefallener Engelsagen konnte.

»Ich brauche eine Pause«, sagte Ezra. »Ich werde mal nachsehen, was Gertrude noch im Kühlschrank hat. Möchtest du ein Sandwich oder so etwas?«

Carter schüttelte den Kopf, und Ezra verschwand. Obwohl er große Lust hatte, zu den Terrassentüren zu gehen und sie weit aufzureißen, wollte er nicht riskieren, Ezras Zorn auf sich zu ziehen. Von Anfang an schien der Kerl ständig unter Strom zu stehen. Statt die Türen zu öffnen, erhob sich Carter, bog den Rücken durch und hüpfte ein paar Mal auf der Stelle, um sein Blut wieder in Fluss zu bringen und sich selbst wach zu machen. Er ging hinüber zum Zeichentisch und blickte auf die wenigen verbliebenen Bruchstücke, die noch dort lagen. Ezra hatte keinen Witz gemacht, er stand tatsächlich kurz vor der Beendigung seiner Aufgabe. Der Großteil der Rolle war in Klarsichthüllen an den Zimmerwänden angeordnet, und es sah aus, als wäre das Ding komplett, sobald diese Stücke am Ende angefügt wären. Jetzt, wo Carter sie sich genauer ansah, konnte er sogar erkennen, dass eines der Stücke einfach nur umgedreht werden musste, und der zerfetzte Rand würde genau in ein bereits zusammengefügtes Stück der Rolle passen. Er hatte keine Ahnung, was es besagte, aber er konnte sehen, wie es sich einfügen würde. Gar kein großer Unterschied, dachte er, zum Zusammensetzen von Knochensplittern.

Er hockte sich auf Ezras Arbeitsstuhl, und ohne groß darüber nachzudenken, drehte er das Stückchen Pergament um. Anschließend ertappte er sich dabei, dass er ein anderes aufhob und es ebenfalls in das Muster einfügte. In den Fingerspitzen verspürte er ein merkwürdiges Kribbeln. Er blickte zur Wand auf und konnte genau sehen, wo die Stücke hingehörten. Und obwohl er wusste, dass Ezra ausflippen würde, weil er sich einmischte, war er plötzlich wie besessen von dem Drang, weiterzumachen. Nachdem er stundenlang stillgesessen hatte wie bei einem Vortrag, war es ein Vergnügen, zumindest etwas zu tunund sich nützlich zu fühlen. Es war fast so, als lüde die Schriftrolle ihn ein, an der Arbeit teilzuhaben. War dies derselbe Drang, fragte er sich am Rande, den Bill Mitchell verspürt hatte und der zu der Katastrophe im Labor geführt hatte?

Er nahm das dritte und letzte Fragment der Schriftrolle, legte es zu den anderen beiden und hob dann den oberen Teil der Schutzhülle an, um alles zu fixieren. Sie waren wie die Stücke eines Laubsägenpuzzles, das perfekt zusammenpasste. Die Enden würden sich genau mit dem Teil verzahnen, die Ezra bereits fertig hatte.

Was für eine Überraschung wäre es für Ezra, wenn er zurückkäme und die Schriftrolle komplett vorfand.

Carter stand auf, mit der Schutzhülle in der Hand. Sollte er? Es war, als sei sein Verstand durch eine Wolke verdunkelt. Er wusste, dass es falsch war, er wusste, wie sauer erwäre, wenn jemand sich auf diese Weise in seine Arbeit einmischte. Wieder dachte er flüchtig an Mitchell und das Smilidon-Fossil. Gleichwohl verspürte er den Zwang, weiterzumachen.

Er ging zur Wand, und als ob seine Hand von einer unsichtbaren Macht geführt würde, hob er die Schutzhülle und hielt sie näher an die Wand. Ja, genau hier.Er löste eine der Reißzwecken, die Ezra zu Dutzenden in den Putz gesteckt hatte, und bohrte sie durch eine Ecke der Klarsichthülle. Dann befestige er eine weitere Reißzwecke am andern Ende und trat zurück, um sein Werk zu bewundern.

»Gertrude macht uns ein paar Brownies«, verkündete Ezra, als er die Schlafzimmertür hinter sich schloss und mit einem Tablett in den Händen ins Arbeitszimmer kam.

Carter drehte sich um, ein unsicheres Lächeln auf dem Gesicht, und wartete darauf, dass Ezra sah, was er getan hatte. Plötzlich war er sich nicht mehr so sicher, ob das eine gute Idee gewesen war.

Ezra blieb stehen und suchte die Wand ab. »Was hast du getan?«, fragte er mit heiserer Stimme.

»Ich wollte dir helfen«, sagte Carter.

Ein tiefes Summen setzte ein, wie bei einem Generator, der langsam in Fahrt kam. Als Carter sich umdrehte, sah er, wie die Klarsichthüllen leicht flatterten, als würden sie von einer plötzliche Brise erfasst. Die Ränder des Pergaments, die sich berührten, schienen miteinander zu verschmelzen. Die Fragmente der Schriftrolle in den Hüllen wuchsen zusammen und vereinigten sich, bis die Bruchstellen nicht mehr zu sehen waren. Ein leichtes Glühen erhellte den Raum, ein lavendelblaues Licht, das von der Rolle selbst auszugehen schien.

Die Brise wurde kräftiger und wärmer und wirbelte im Raum im Kreis.

Ezra ließ das Tablett fallen, Becher und Teller zerschellten auf dem Boden, während die Tür zum Schlafzimmer krachend hinter ihm ins Schloss fiel. Er rannte zum Schrank.

Was macht er da?, fragte sich Carter.

Die Schutzhüllen flatterten wie wild, manche von ihnen waren bereits losgerissen und lösten sich von dem Stück der Schriftrolle, das sie enthalten hatten.

Ezra kam zurück und hielt etwas in der Hand, das aussah wie eine Dose mit kühlender Creme. Mit zitternden Händen versuchte er im lavendelblauen Licht den Deckel zu öffnen.

»Ezra, was geht hier vor?«, rief Carter.

Aber Ezra antwortete nicht. Er warf den Deckel fort, tunkte seinen Finger hinein und schmierte Carter den Inhalt, der sich wie warmer Matsch anfühlte, auf die Stirn.

»Was machst du da?«

Dann verrieb er einen weiteren Streifen, der Carter wie roter Lehm vorkam, auf der eigenen Stirn. »Es ist heiliger Boden«, rief Ezra zurück, »von unterhalb des Felsendoms.«

Verständnislos schüttelte Carter den Kopf.

»Von der Stelle, an der die Bundeslade versteckt ist.«

Für Carter ergab es immer noch keinen Sinn. Hatte Ezra nicht gerade eben noch erklärt, der ganze religiöse Hokuspokus sei zwecklos, dass sich das erst lange nach den Ereignissen entwickelt hatte, denen sie hier auf der Spur waren?

»Und das soll uns beschützen?«

Ezra schaute auf die flatternden Schutzhüllen und nickte hastig.

»Wovor?«

Wie zur Antwort vernahm Carter ein Geräusch, das nichts ähnelte, das er je gehört hatte oder hoffte, jemals in seinem ganzen Leben wieder zu hören. Es begann als leises Stöhnen, wie ein Wind, der seufzend durch die uralten Dachvorsprünge eines gewaltigen Hauses strich, aber der Ton wurde rasch schriller und lauter. Instinktiv hielt er sich die Ohren zu, doch das Geräusch grollte unter seinen Füßen und dröhnte in seinem Kopf.

Er rannte zur Tür und versuchte, sie aufzureißen, aber sie rührte sich nicht. Der heiße Wind im Zimmer gewann an Stärke und riss die letzten Schutzhüllen von den Wänden. Die Schrift entrollte sich von allein und bewegte sich wie ein Tornado auf die Mitte des Zimmers zu. In einer unregelmäßigen Spirale wirbelte sie herum. Das lavendelblaue Licht wurde dunkler, ging mehr ins Violette, und der Wind nahm an Geschwindigkeit zu.

Es gab nur noch einen anderen Weg nach draußen. Carter rannte auf die Balkontüren zu.

»Nein!«, schrie Ezra, dessen Entsetzen noch übertroffen wurde von der Angst, seine kostbare Schriftrolle zu verlieren. »Tu es nicht!«

Doch die Türen ließen sich ohnehin nicht öffnen. Carter rüttelte an den Griffen und drückte mit der Schulter gegen den Rahmen.

Ezra packte seinen Arm und versuchte ihn aufzuhalten. »Wir können das nicht tun!«, schrie er.

»Wir müssen!« Carter schüttelte ihn ab und sah sich verzweifelt im Raum um.

Der Lärm in seinem Schädel war mittlerweile ohrenbetäubend. Inzwischen klang es eher wie ein Wehklagen, eine anschwellende Hymne des Leids, ausgestoßen von Tausenden Stimmen in einer Vielzahl von Sprachen. Es war der Klang allen Elends der Welt aus allen Zeiten.

Selbst für Ezra war es zu viel, und er sank auf die Knie. Die Stirn lehmbeschmiert, presste er die Hände auf die Ohren und kniff die Augen fest zusammen.

Carter hatte das Gefühl, sein Kopf würde explodieren, wenn es nicht aufhörte. Die alte Spielzeugkiste, auf die Ezra sein Werkzeug gelegt hatte – damit könnte es funktionieren. Carter fegte die Werkzeuge beiseite und hob die Holzkiste in die Höhe. Wie einen Rammbock hielt er sie vor sich und rannte auf die Terrassentüren zu. Das Glas splitterte und zerbrach, aber die Türen hielten stand.

Carter hörte das Schreien jedes Babys, das je geboren worden war, das Todesröcheln jeder Seele, die ihren Körper verließ, das Heulen jeder lebenden Kreatur, die abgeschlachtet oder verstümmelt wurde.

Er wich zurück und rannte erneut auf die Tür zu. Dieses Mal gab das Holz nach, und die Tür sprang auf. Die Kiste fiel auf den Steinboden der Terrasse, und Carter stolperte darüber und stürzte auf den Rücken.

Über sich sah er den Nachthimmel und die Sterne. Und dann, mit einer Bö, so trocken wie Wüstenwind, schlängelte sich die Schriftrolle gleich einem lebendigen Wesen spiralförmig gen Himmel. Sie schwebte über ihm, eine lange, glühende violette Schlange, ehe ein weiterer Windstoß sie erfasste und über die Brüstung des Balkons davontrug.


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