
Текст книги "Das letzte Relikt"
Автор книги: Robert Masello
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»Er ist hier«, stöhnte Beth.
Carter hatte es gewusst.
Die Türen klapperten erneut. Der Querbalken wackelte, und durch den schmalen Spalt zwischen den Torflügeln schoss ein heller Lichtstreifen wie ein leuchtender Dolch auf den dreckigen Boden.
»Ich gehe runter«, sagte Carter, doch Beth umklammerte erneut seinen Ärmel und sagte: »Nein! Bleib hier!«
Aber Carter wollte nicht abwarten, bis der Feind zu ihm käme. Er kletterte die Leiter hinab und schlich verstohlen auf die Tür zu.
Die Torflügel dröhnten erneut, als würden sie von einem Vorschlaghammer getroffen, und ein Stück Holz flog davon. Carter kroch zur Tür, wartete, bis alles still war und schob dann vorsichtig ein Auge vor die Öffnung.
Ein anderes Auge starrte ihm direkt entgegen, so nah, dass die Wimpern beinahe seine eigenen berührten.
»Wir sind eigentlich keine Feinde«, sagte Arius. Sein Atem roch wie ein immergrüner Wald nach dem Regen. Carter wollte zurückspringen, aber etwas hielt ihn an Ort und Stelle. Im Auge des Engels war etwas, eine sich kräuselnde Flamme in der Iris, die ebenso hypnotisierend wirkte wie der Anblick eines knisternden Feuers.
»Wir haben ein gemeinsames Interesse.«
Carter konnte sich denken, was das war, und das schickte einen kalten Schauder über seinen Rücken. Ohne den Blick von der Öffnung zwischen den Torflügeln abzuwenden, wich er ein paar Zentimeter zurück. Doch es war, als versuchte er, einer unsichtbaren Macht Widerstand zu leisten. In der Stimme des Engels lag eine eindringliche Verführungskraft, etwas, das sie … vertraut wirken ließ. Wie die Stimme eines alten Freundes, den man seit Jahren nicht gesprochen hatte.
Und den man zutiefst vermisst hatte.
Carter hatte das Gefühl, seine Hände, seine Gedanken, selbst sein Wille würden auf raffinierte Weise umsponnen. Er wusste, was er tun musste, wusste, was er wollte, aber Arius’ Stimme, dieses goldene Licht, der frische Waldgeruch überwältigten ihn beinahe.
Eine lange weiße Hand, perfekt geformt bis auf den Mittelfinger, von dem nur noch ein Stumpf übrig war, schob sich durch die Öffnung unter den Querbalken, der die Tür verschloss. »Lass uns reden«, sagte Arius ruhig, so wie ein Vermittler der Polizei jemanden ansprechen würde, der gerade im Begriff war, von einer Brücke zu springen.
Stumm vor Entsetzen sah Carter zu, wie die Finger den Querbalken packten und in die Höhe schoben. Der Balken hob sich einen Zentimeter, dann zwei. Er war bereits fast ganz gelockert, als Beth vom Heuboden rief: »Carter! Nein!«
Es war, als hätte ihm jemand einen Eimer mit Eiswasser ins Gesicht geschüttet.
»Halt ihn auf, Carter!«
Er schüttelte sich, schaute erneut auf die schmale Hand, die den Querbalken anhob, und stellte fest, dass sie jetzt eher der weißen knöchrigen Hand eines Skeletts glich. Es war die Hand, die seinen Freund Joe getötet hatte, die Hand, die Tod und Zerstörung über die Welt bringen konnte. Krachend riss er den Querbalken nach unten, und die Hand wurde hastig zurückgezogen.
Die Türflügel stießen erneut gegeneinander.
Abrupt erlosch das helle Licht auf der anderen Seite, und genauso plötzlich herrschte Stille. Kein wütender Aufschrei, kein verärgerter Fluch, nicht einmal Flügelschlagen. Carter stand ganz still und lauschte, aber alles, was er außer seinem eigenen flatternden Atem hörte, war das Zirpen der Grillen.
Er trat zurück, den Blick immer noch auf die Scheunentore geheftet. »Wo ist er?«, hörte er Beth fragen.
»Ich weiß es nicht.«
»Aber er ist doch weg, oder? Das Licht ist verschwunden.« In ihrer Stimme schwang eine Mischung aus Wunschdenken und Beinahe-Hysterie mit.
Ja, das Licht war verschwunden. Ja, es war kein Ton zu hören. Und so sehr Carter auch wünschte, es könnte so einfach sein, wusste er, dass es das nicht war. Er wusste nicht, wo Arius war oder was er vorhatte, aber tief im Herzen war ihm klar, dass er nicht gegangen war.
Er entfernte sich noch weiter von der Tür. Der einzige Weg, wie er es mit Sicherheit herausfinden konnte, war, das Tor zu öffnen und sich draußen umzuschauen.
Aber dazu war er noch nicht bereit.
Er drehte sich um und sah Beths Kopf über die Kante des Heubodens lugen. Ihr Gesicht war schmutzig und zerkratzt, das dunkle Haar verfilzt, halb an ihrem Kopf angefroren und mit hellen abgebrochenen Strohhalmen verziert. Trotzdem war er sich sicher, dass sie nie in ihrem Leben schöner ausgesehen hatte. Erneut erklomm er die Leiter, ohne die Scheunentür aus den Augen zu lassen. Beth fiel ihm um den Hals. Eine Weile standen sie nur da und wiegten sich behutsam hin und her, ohne ein Wort zu sagen. Er hob eine Hand, um ihr übers Haar zu streichen, doch als er Beths Zittern spürte, legte er sie stattdessen auf den Rücken und versuchte, sie warmzurubbeln. Durch die offene Rückseite drang kalte Nachtluft auf den Heuboden.
Wie lange sie auf diese Weise dastanden, hätte er nicht sagen können. Er hatte die Augen geschlossen und wollte sie am liebsten nie wieder öffnen. Er wollte einfach nur Beth festhalten und glauben, dass die Gefahr vorüber sei. Er wollte sich vorstellen, sie seien in Sicherheit und Abbie im Haus am Leben und unverletzt. Doch das Gefühl wurde immer drängender, dass er die Augen wieder öffnen musste, und zwar auf der Stelle. Sie waren nicht mehr allein in der Scheune.
Er schlug die Augen auf. Es war immer noch dunkel. Er machte Shhhzu Beth und bedeutete ihr, sich auf den Boden zu kauern. Dann drehte er sich um und schaute zu den Holztüren. Der Querbalken war immer noch an seinem Platz und die Türen geschlossen. Nirgends in der Scheune entdeckte er ein Zeichen von Arius, aber das Gefühl wollte nicht verschwinden, und sein Nacken hörte nicht auf zu kribbeln.
»Ihr werdet geboren«, sagte die Stimme, »und schreit.«
Carter wirbelte herum. Im tiefsten Schatten unter einem Vorsprung hockte Arius auf einem uralten Heuballen. Sein nackter Körper strahlte im Moment kein Licht ab. Rein und weiß saß er vollkommen reglos da.
»Ihr lebt in Angst.« Seine Stimme war grabesdunkel und seltsam schwermütig.
Langsam schob Carter sich zwischen Beth und den Engel.
»Und ihr sterbt voller Furcht.«
Beth kauerte sich an der Wand unter den Werkzeugen zusammen.
»Aber so müsste es nicht sein.« In der Finsternis unter den Dachsparren war der Engel kaum zu erkennen. »Hätte es nie sein müssen.«
So sehr es Carter auch widerstrebte, den Blick von der reglosen Gestalt abzuwenden, er musste sich nach irgendeiner Art Waffe umschauen. Nach irgendeiner Möglichkeit, zu entkommen. Aber was für ein Entkommen konnte das schon sein? Die Leiter würden sie niemals erreichen, und ein Sprung vom Heuboden aus auf den harten Boden draußen könnte sie glatt umbringen.
»Wir waren eure Freunde«, psalmodierte der Engel, »und wir könnten es wieder werden.«
»Nein, das könnt ihr nicht«, sagte Beth, und als Carter sich umdrehte, sah er, dass sie die alte Heugabel von der Wand genommen hatte und sie gegen ihren eigenen Bauch hielt. »Ich weiß, was du willst, und ich werde mich eher selbst töten, als dass ich das zulasse.«
»Beth!«, schrie Carter, entsetzt von ihrem wilden Gesichtsausdruck. »Leg das Ding weg!« Er griff nach der Gabel, aber Beth schwang plötzlich herum, um ihn abzuwehren und traf dabei aus Versehen seine Hand. »Nein, Carter. Ich meine es ernst!«
Während Carter seine verletzte Hand umklammerte, erfasste ihn eine plötzliche Brise, frisch und nach Wald riechend. Ein schwaches goldenes Licht erfüllte den Heuboden. Klappernd schlug die Heugabel auf dem Holzboden auf.
Arius leuchtete und zerrte Beth an einem Arm mit sich.
Wie ist er dorthin gekommen?
Er hielt auf die Rückseite des Bodens zu. Carter traute seinen Augen und seinem Verstand kaum, als er sah, wie sich zwischen Arius’ Schulterblättern ein Paar Flügel entfaltete.
Doch es waren nicht die glatten und gefiederten Flügel eines Vogels. Was sich da hoch über dem Kopf des Engels berührte, waren ledrige fledermausartige Schwingen, die Carter unwillkürlich an einen Pterodactylus denken ließ.
»Nein!«, schrie Beth und befreite sich windend aus seinem Griff. Der Engel drehte sich zu ihr um, aber es war zu spät. An der Kante des Heubodens schwankte sie kurz, ehe sie schreiend auf den Boden darunter stürzte.
»Beth!«, rief Carter, und ehe der Engel reagieren konnte, hatte er die Heugabel aufgehoben und sie ihm in den Rücken gerammt. Eine der rostigen Zinken durchbohrte den Engel an der Seite.
Aber das war es auch schon. Im nächsten Moment klappten die großen Schwingen nach vorn, und Carter fühlte sich in Arius’ Umarmung gefangen, wie ein hilfloses Tier in den Windungen einer Boa constrictor.
Je mehr er zappelte und sich wand, desto enger schlossen sich die Schwingen um ihn. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst, und sobald er versuchte, Atem zu holen, drückte der Engel noch kräftiger zu und verhinderte es.
Er dachte an Beth und ihren Sturz …
Seine Lungen brannten und sein Herz verausgabte sich.
… und was sie über das Wasser gesagt hatte …
Sein Blickfeld begann bereits kleiner zu werden.
… und an die Schriftrolle … in der es hieß, das Blut der Menschen und das Blut der gefallenen Engel …
Winzige schwarze Punkte begannen vor seinen Augen zu tanzen.
… dürfe sich niemals vermischen …
Als er spürte, dass ein schwarzer Nebelschleier sich über ihn zu legen begann, zwang er sich, in der Umklammerung der Schwingen den Arm zu heben.
Seine Lungen kollabierten, sein Körper sackte zusammen.
Bis er die schartige Wunde fand, die von der Heugabel stammte, und dem Engel seine blutverkrustete Hand in die Seite presste.
Arius erschauderte, und der Griff des Engels lockerte sich ein winziges Stück.
Doch das genügte. Carter gelang es, einen halben Atemzug zu nehmen, dann kratzte er die Wunde an seiner Handfläche mit den Nägeln wieder auf, um das eingetrocknete Blut zu befeuchten. Frisches Blut rann aus der Wunde.
Arius stieß seinen Atem aus. Der Duft eines regennassen Waldes wurde überdeckt vom Geruch eines heißen Wüstenwindes.
Carter drückte seine blutende Hand noch kräftiger gegen die Wunde des Engels. Seine Schwingen erbebten, am Anfang nur ein wenig, doch schließlich unkontrollierbar. Die Umklammerung lockerte sich noch weiter.
Carter befreite sich, taumelte in die Ecke des Heubodens und krümmte sich keuchend.
Arius’ geöffnete Schwingen bebten. Er hielt den Blick nach oben gerichtet und stand da wie eine blendende Lichtsäule. Er brannte heller als je zuvor, doch er glich weniger einem Leuchtfeuer als vielmehr einem außer Kontrolle geratenen Brand. Hitzewellen wie von einem riesigen Hochofen ließen das alte Heu in einem knisternden Mahlstrom um seinen Leib herumwirbeln. Er taumelte auf die Rückseite des Bodens zu, konzentrierte noch einmal seine ganze Kraft und warf sich trotzig dem Nachthimmel entgegen, als wollte er ihn ein letztes Mal verfluchen.
Auf allen vieren kroch Carter zur Öffnung und sah, wie der Engel ein-, zwei-, dreimal mit den Flügeln schlug. Jedes Mal trugen sie ihn höher und weiter davon. Gleich lodernden Segeln schwangen sie über die kargen Felder, dem Mond und den Sternen entgegen. Das Licht, das von ihm ausging, wurde kleiner, schwächer, ferner, bis es schließlich vollkommen erlosch und nichts am Himmel zurückließ als einen Punkt, der dunkler und leerer zu sein schien, als alles um ihn herum.
Und dann war selbst er verschwunden.
Carter hockte auf dem offenen Heuboden, über sich nichts als den dunklen Nachthimmel. Unter ihm lag Beth auf einem Haufen aus verrottendem Heu und totem Laub und bewegte sich unter Schmerzen.
42. Kapitel
Sommer
»Unten gibt es eine Cafeteria, in der Sie einen Kaffee bekommen, wenn Sie möchten.«
Carter hob den Blick vom Fußboden und nickte der Krankenschwester in der Tür zu. »Danke, mir fehlt nichts.«
Sie schenkte ihm ein routinemäßiges Lächeln und verschwand. In der Ecke liefen im Fernsehen Nachrichten auf CNN mit leise gestelltem Ton. Der größte Teil des Landes litt unter einer Hitzewelle. Carter war allein im Raum, dem Wartebereich auf der Entbindungsstation des St. Vincent’s, der allein werdenden Vätern vorbehalten war. Und er wusste, warum.
In den letzten Monaten waren seine Sorge und Ungewissheit immer weiter angewachsen. Sobald sie erfahren hatten, dass Beth in der Tat schwanger war – »allen Widrigkeiten zum Trotz«, wie Dr. Weston ihnen wiederholt bestätigt hatte –, hatte Carter sich zunehmend grausigere Szenarien ausgemalt. Es war ihm fast unmöglich, seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Aber jedes Mal, wenn er auch nur andeutete, dass etwas Schreckliches vor sich ging, dass er Gründe hatte zu glauben, das Baby könnte nicht auf normale Weise oder nicht gesund zur Welt kommen, wurde er mit einem nachsichtigen Lächeln oder einem Schulterklopfen abgespeist, dazu der eine oder andere Rat über das Lampenfieber beim ersten Mal und wie man darüber hinwegkäme.
Doch die Wochen vergingen, und seine Ängste wuchsen, bis schließlich die Chance, dass er bei der Geburt im Kreißsaal zugelassen würde, immer geringer wurden. Als Erster hatte Dr. Weston gewarnt, dass die Geburt möglicherweise »zu belastend« für ihn sein könnte, und schließlich hatte sogar Beth seine Hände ergriffen und ihm gesagt, dass ihr wohler dabei wäre, wenn er »in der Nähe, aber nicht im selben Raum« wäre. Sie hatte so getan, als sei es eine Frage des Anstands. »Ich will nicht, dass du mich schreien siehst, während meine Haare am Kopf kleben und meine Beine in der Luft hängen.« Aber er wusste, worum es wirklich ging. Er machte alle wahnsinnig.
»Da bist du ja«, hört er jemanden rufen, und Abbie stürmte herein. »Ich bin sofort gekommen, als ich deine Nachricht erhalten habe.« Sie ließ sich auf den Stuhl neben Carter fallen und legte eine Hand auf sein Knie. »Irgendwelche Neuigkeiten?« Mit der anderen Hand öffnete sie den obersten Knopf ihrer Bluse und lockerte den Kragen. »Heiß ist es hier.«
»Allerdings«, sagte er.
»Puh.« Sie ließ den Blick durch den kleinen nichtssagenden Raum schweifen.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte er pflichtschuldig. Er wusste, wie schwer es für sie sein musste. Ihr letzter Krankenhausaufenthalt lag noch gar nicht lange zurück, sie hatte eine Fehlgeburt gehabt.
»Ich hatte nicht erwartet, dass es so schnell gehen würde«, sagte sie.
»Damit hat niemand gerechnet.«
»Ich hatte gedacht, wir hätten noch eine Woche oder so. Ben wäre auch gekommen, aber er ist die ganze Woche in Boston.«
»Geschäftlich?«
»Nein, er hat da eine Freundin.«
Als er weder lachte noch irgendeine andere Reaktion zeigte, sagte sie: »Das war ein Witz, Carter. Kein besonders guter, aber trotzdem ein Witz.«
»Tut mir leid. Ich fürchte, ich bin etwas abgelenkt.«
»Dazu hast du jedes Recht. Wie lange bist du schon hier?«
Carter schaute auf die Uhr über dem Fernseher. »Etwa vier Stunden.«
Abbie nickte.
Jeden Augenblick konnte es so weit sein. Das war es, was sie dachte. Das war es, was er seit vier Stunden dachte. Jeden Augenblick konnte er die Antwort erhalten. Aber wollte er es auch?
Abbie tat, als würde sie sich den landesweiten Wetterbericht ansehen. Carter konnte sie kaum ansehen, ohne an die grauenvolle Nacht auf dem Land erinnert zu werden. Doch eines war ihm zunehmend klarer geworden: Er war der Einzige, der sich überhaupt erinnerte. Er hatte festgestellt, dass Abbie nichts mehr von dem wusste, was Arius mit ihr angestellt hatte. Wenn jemals Bilder des Überfalls in ihrem Bewusstsein aufflackerten, wurden sie als nichts weiter als ein Albtraum abgetan, den sie einmal gehabt hatte.
Genauso war es bei Beth.
Gewiss, sie erinnerte sich daran, aus dem Badezimmerfenster geklettert, durch den Obsthain gerannt und aus Arius’ Umklammerung vom Heuboden gefallen zu sein, aber sie erinnerte sich an nichts, was ihr in jener entscheidenden Nacht in New York vor Monaten zugestoßen war. Als Carter behutsam versucht hatte, es ihr zu erzählen, hatte sie zuerst überrascht und schließlich mit wachsendem Entsetzen reagiert. Schließlich hatte sie ihm eine Hand auf den Mund gelegt und gesagt: »Hör auf! Ich werde ein Kind bekommen, unserKind, und ich habe schon genug Sorgen. Rede mir nichts ein, das es noch schwerer machen würde.«
Also hatte er seine Sorgen Dr. Weston vorgetragen. Dieser hatte ihm die Laborergebnisse und Ultraschallbilder gezeigt und ihm geraten, sich zu entspannen. »Aber Sie haben doch selbst erzählt, dass Beth unmöglich von mir schwanger werden kann.«
»Ich bin nicht unfehlbar«, hatte Dr. Weston gesagt. »Es sind schon merkwürdigere Dinge geschehen.«
Ach, tatsächlich?
»Mr Cox?«, sagte die Schwester und steckte erneut den Kopf durch die Tür. Carter sagte nichts, bis Abbie schließlich an seiner statt antwortete. »Ja?«
»Der Doktor kommt in einer Minute, um mit Ihnen zu reden.«
Ehe er sie noch irgendetwas fragen konnte, hatte sie sich schon wieder zurückgezogen. Was hatte das zu bedeuten: Der Doktor kommt, um mit Ihnen zu reden?Er sah Abbie an, und selbst sie sah ein wenig besorgt aus.
»Glaubst du, dass irgendetwas nicht stimmt?«, fragte Carter sie.
Wenig überzeugend schüttelte Abbie den Kopf. »Nein. Wie kommst du darauf?«
»Der Klang ihrer Stimme. Irgendwie hörte sie sich unehrlich an.«
»Ich bin sicher, dass sie viel zu tun hat.«
»Nein, in ihrer Stimme schwang etwas mit«, beharrte Carter.
Abbie tat, als würde sie etwas tief unten in ihrer Tasche suchen, und Carter stand auf und ging zum Fenster. Sie befanden sich im zehnten Stock, und als er hinausblickte auf die Lichter der Stadt, stellte er fest, dass das alte Sanatorium auf der anderen Straßenseite verschwunden war. An seiner Stelle ragte das stählerne Gerüst des Neubaus der Villager-Genossenschaft in die Höhe. Er fragte sich, was Ezra, der sich immer noch in einer Privatklinik im Norden »erholte«, davon halten würde. Oder ob es ihn überhaupt interessierte.
Erneut hörte er, wie die Tür geöffnet wurde. Als er sich umdrehte, kam Dr. Weston, immer noch im OP-Kittel, gerade herein. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und er wischte sich die Hände mit einem Papierhandtuch ab.
»Stimmt irgendetwas nicht?«, platzte Carter heraus.
Der Arzt hob die Hände. »Im Moment ist alles in Ordnung.«
»Aber da war etwas?«
Abbie stand auf, die offene Handtasche griffbereit. Sie kannte Dr. Weston gut, schließlich hatte sie Beth empfohlen, sich an ihn zu wenden.
»Ja«, gab Dr. Weston zu, »aber jetzt ist alles in Ordnung. Warum setzen wir uns nicht?«
Wie betäubt ging Carter zum Sofa und setzte sich neben Abbie. »Ich bin ihre beste Freundin«, sagte sie zum Arzt, während er sich einen Stuhl heranzog. »Sie können mir alles erzählen.«
»Ja, ich weiß.« Als er saß, schaute er Carter an und sagte: »Ich will Ihnen nichts vormachen, es war ein hartes Stück Arbeit.«
»Ich weiß, dass es zu früh gekommen ist, aber …«
»Ja, einmal das. Aber bei ihrer Frau sind noch weitere Komplikationen aufgetreten. Sie bekam einen plötzlichen Fieberschub …«
»Ist das ungewöhnlich?«
»Ja, besonders in dieser Höhe. Wir mussten uns beeilen und einen Kaiserschnitt machen, damit wir anschließend ihre Körpertemperatur wieder runterbringen konnten. Wir haben ihr ein fiebersenkendes Mittel gegeben und sie kurz in ein Eisbad gelegt.«
»Und jetzt?«
»Ihre Temperatur ist wieder unter Kontrolle Aber sie hat eine Menge Blut verloren.«
»Brauchen Sie eine Spende?«, sagte Abbie. »Ich könnte Ihnen auf der Stelle etwas geben.«
»Danke, aber Beth hat eine sehr seltene Blutgruppe, AB negativ. Glücklicherweise hat sie zwei Konserven Eigenblut gespendet. Wir haben beide gebraucht.«
»Aber jetzt geht es ihr gut?«, fragte Carter stockend.
»Ja, es geht ihr gut, und sie ruht sich aus.«
»Und das Baby?«
Jetzt lächelte Dr. Weston. »Dem Baby geht es ebenfalls gut. Er ist geradezu perfekt.«
»Kann ich sie jetzt sehen?«, fragte Carter.
»Ja, natürlich«, sagte Dr. Weston und erhob sich. »Aber seien Sie gewarnt – sie wird sich noch eine Weile ziemlich benommen fühlen.«
Carter stand auf, aber Abbie sagte: »Geh du allein. Ich besuche sie morgen.« Erneut wühlte sie in ihrer Tasche herum, bis sie schließlich ihr Handy herausfischte. »Ich rufe Ben an und erzähle ihm die gute Neuigkeit.«
»Okay«, sagte Carter und berührte ihre Hand. Als sie zu ihm emporschaute, lag in ihrem Blick etwas Trauriges und Unergründliches.
»Grüß sie ganz lieb von mir«, sagte sie.
»Mach ich.«
»Das erste Zimmer links«, sagte Dr. Weston, »aber versuchen Sie, nicht zu lange zu bleiben. Sie hat einiges durchgemacht.« Mit dem Ellenbogen drückte er auf den Türöffner in der Wand, und die Tür zur Station öffnete sich für Carter.
»Ach ja«, sagte Carter, kurz bevor er hineinging, »danke übrigens. Für alles.«
»Es war mir ein Vergnügen«, sagte Dr. Weston. »Noch nie habe ich mich so sehr gefreut, so gründlich danebengelegen zu haben.«
Allmählich fühlte Carter Erleichterung in sich aufsteigen. Im Stillen hatte er sich seit Monaten vor dieser Nacht gefürchtet, aber jetzt, da sie gekommen und fast vorüber war, begannen seine düsteren Vorahnungen endlich zu verblassen. Er hatte einen Sohn, einen normalen Sohn, einen perfekten Sohn, und Beth würde wieder gesund werden.
Er konnte Beths leicht lallende Stimme hören, wie sie etwas über Eiscreme sagte. Als er in der Tür zum Zimmer stehen blieb, lachte eine Krankenschwester.
»Möchtest du ein Eis?«, fragte er Beth.
»Nein«, antwortete die Schwester, »sie sagte, sie möchte in Eiscreme baden.«
»Das lässt sich einrichten«, sagte er und trat näher ans Bett.
Nachdem die Schwester gegangen war, streckte Beth eine Hand aus. Das Plastikarmband des Krankenhauses baumelte an ihrem Handgelenk. Im anderen Arm hielt sie ein kleines Bündel in einer blauen Decke. Sie sah erschöpft, aber glücklich aus.
»Darf ich dir Joseph Cox vorstellen?«, sagte sie.
Einhellig waren sie zu dem Schluss gekommen, ihn nach Russo zu benennen.
Carter trat ans Bett, ergriff ihre feuchte Hand und blickte auf seinen neugeborenen Sohn hinunter. Es gab nicht viel zu sehen, nur ein winziges rotes Gesicht, zusammengekniffene Augen und ein paar feine Löckchen aus blondem Haar auf dem Kopf. Trotzdem war es das Wunderbarste, das er je gesehen hatte.
»Ist er nicht wunderschön?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Carter, »genau wie seine Mutter.« Er verschwieg ihr, dass er sich an das Ei eines Triceratops erinnert fühlte, das er einmal ausgegraben hatte und das genauso groß gewesen war wie der Schädel seines Babys. Mittlerweile hatte er gelernt, dass es besser war, gewisse Dinge für sich zu behalten.
»Möchtest du ihn mal halten?«
»Aber sicher«, sagte er, obwohl er es gar nicht war. Sie hielt ihm das hellblaue Bündel hin, und er legte es in seine Armbeuge. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er etwas so vorsichtig angefasst.
»Puh, bin ich kaputt«, sagte Beth mit einem lauten Seufzer, während Carter seinen Sohn wiegte. Das Baby wog sogar noch weniger, als er erwartet hätte. Es wog fast nichts.
»Wie viel bringt er auf die Waage?«, fragte er.
»Sie haben es mir gesagt«, sagte sie, die Augen halb geschlossen. »Aber ich habe es vergessen.«
Langsam ging Carter zum Fenster, immer noch mit dem schlafenden Baby im Arm.
»Tust du mir einen Gefallen?«, bat Beth. Sie hatte die Augen jetzt ganz geschlossen. »Kannst du das Fenster aufmachen? Es ist so heiß hier drin.«
»So heiß nun auch wieder nicht«, sagte Carter. »Vielleicht solltest du einfach eine Weile schlafen.«
»Nur einen Spalt. Ich brauche unbedingt frische Luft.«
Er besah sich das Fenster und stellte fest, dass es sich mit einer Kurbel öffnen ließ. Mit der freien Hand nahm er den Griff und öffnete das Fenster ein paar Zentimeter weit.
»Das ist gut«, sagte Beth und schob sich das Laken von den Schultern. »Ich kann atmen.«
Vorsichtig schaukelte Carter das Baby, das sich in seinen Armen zu regen begann. Auf der anderen Straßenseite, hoch oben auf einem Stahlträger des Villager-Gebäudes, meinte er eine Bewegung gesehen zu haben.
Ein Bauarbeiter, so weit oben, zu dieser Uhrzeit? Im Dunkeln?
Das Baby greinte, und Beth streckte die Arme aus. Carter gab ihn zurück, dann beugte er sich vor und hauchte Beth einen Kuss auf die Stirn. Ihre Haut war immer noch warm. Sie schnurrte leise mit geschlossenen Augen.
»Schlaf ein bisschen«, sagte er. »Ich besuche dich morgen wieder.«
Er drehte sich um und spähte noch einmal angestrengt aus dem Fenster. Erneut suchte er mit Blicken das Stahlskelett auf der anderen Straßenseite ab.
Aber jetzt sah er kein Zeichen von irgendjemandem. Das vorhin musste eine Täuschung im Mondlicht gewesen sein.
Er wollte nicht, dass im Zimmer Zugluft herrschte, und begann, das Fenster zu schließen. Doch Beth murmelte: »Ach, lass es doch auf … das Geräusch ist so schön.«
Welches Geräusch?, dachte Carter. Doch dann hörte er es ebenfalls.
Glocken. In der Ferne läuteten Kirchenglocken. Er blickte auf die Uhr. Es war viertel nach zehn. Der Großteil der Stadt lag im Dunkeln.
Er ließ die Jalousien herunter. Als er zurück zum Bett schaute, schliefen Beth und das Baby tief und fest.