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Das letzte Relikt
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Автор книги: Robert Masello


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»Die Suche nach Verständlichkeit,



welche die Wissenschaft charakterisiert,



und die Suche nach Bedeutung,



welche die Religion charakterisiert,



sind zwei notwendige miteinander



verflochtene Stränge menschlichen Unter-



fangens und stehen einander nicht entgegen.



Sie sind essentiell für einander, komplementär,



aber eindeutig und inständig miteinander



interagierend – genau wie die beiden



spiralförmigen Stränge der DNA selbst.«

Reverend Canon Dr. Arthur Peacocke, anlässlich der Verleihung des Templeton Preises am 8. März 2001


Prolog

Lago d’Averno, Italien

Träge tanzte das Boot auf dem Wasser, die Wellen schlugen leise an seine Seiten. Kevin lag auf dem Deck und sog die Sonnenstrahlen auf. Eine Hand umfasste die Bierdose, die Füße hatte er gegen das aufgerollte Segel gestützt. Davon hatte er seit Tagen geträumt. Während des endlosen Probe-Essens mit den dämlichen Trinksprüchen, während der aufwendigen Hochzeit und dem noch aufwendigeren anschließenden Empfang im Country Club von Great Neck. Selbst danach. Als er die Glückwünsche der Gäste entgegennahm und Leuten die Hände schüttelte, die er nie zuvor gesehen hatte und wahrscheinlich auch nie wieder sehen würde, zählte er die Stunden, bis er endlich würde entrinnen können. Er konnte an nichts anderes denken als an den Moment, in dem Jennifer und er endlich allein sein würden. Allein an einem Ort, an dem es keine Bands gab, keine Tänze, keine Torten, die angeschnitten, Geschenke, die gewürdigt, oder Fremde, die begrüßt werden mussten.

Und jetzt war er zweifelsohne dort.

Auf dem Flug vom Kennedy Airport nach Rom hatte er fast die ganze Zeit geschlafen. Erst auf dem kürzeren Anschlussflug nach Neapel hatte er sich endlich gefühlt, als sei er tatsächlich auf dem Weg in die Flitterwochen. Jennifer und er hatten es geschafft, zwei nebeneinanderliegende Plätze am Gang zu ergattern. Unter der roten Alitalia-Decke alberten sie zum ersten Mal auf – oder zumindest über– einem anderen Kontinent herum.

»Europa und Nordamerika sind abgehakt«, hatte Jennifer lächelnd geflüstert. »Fehlen also nur noch fünf Kontinente.«

»Ich rufe das Reisebüro an, sobald wir wieder zurück sind«, erwiderte Kevin.

Das Mietboot gehörte zum Gesamtpaket der Reise dazu. Es war nicht so schön wie diejenigen des Country Clubs, mit denen Kevin regelmäßig segelte, aber es hatte alles, was sie brauchten – eine Kühlbox, einen CD-Player und einen Schrank, gefüllt mit allem Notwendigen von Sonnencreme bis Kondome (die Italiener dachten einfach an alles). Sie hatten drei Tage am See, um sich zu entspannen und richtig anzukommen, ehe es weiterging nach Venedig. Zum Glück zahlten Jennifers Eltern die Rechnung.

Er hörte es spritzen, und kaltes Wasser traf ihn im hohen Bogen an den Beinen.

»Komm schon!«, rief Jennifer neben dem Boot. »Willst du dich etwa gar nicht bewegen?«

Kevin drehte sich um und stützte sich auf den Ellenbogen. Jennifer paddelte in ihrem hellroten Bikini in dem azurblauen See. Ihr langes braunes Haar breitete sich über den Schultern aus.

»Warum kommst du nicht zurück an Bord?«, sagte er. »Wir können uns auch hier bewegen.«

»Das ist aber kein Aerobic.«

»Es wäre es, wenn du es richtig machen würdest.«

Jennifer lachte, dann entfernte sie sich paddelnd vom Boot. Kevin beobachtete, wie sie gemächlich auf die zerklüfteten grauen Klippen zuschwamm, welche die Bucht umgaben, in der sie ankerten. Er trank das Bier aus und warf die Dose in die Kühlbox, dann stand er auf und streckte sich. Schwimmen war vielleicht gar keine so schlechte Idee.

Er ging am Mast vorbei und nahm sich eine Sekunde Zeit, um sich gegen den Schock des kalten Wassers auf seiner heißen Haut zu wappnen. Schließlich vollführte er einen perfekten Kopfsprung in den See. Das Wasser war sogar noch kälter als erwartet. Prustend tauchte er wieder auf und wischte sich die nassen Haare aus den Augen.

»Hier bin ich!«, rief Jennifer.

Kevin blickte sich um, doch alles, was er erkennen konnte, war das Aufleuchten ihres roten Bikinis irgendwo rechts von ihm. Er begann, darauf zuzuschwimmen. Das Wasser war so klar, dass er seine Arme sah, wenn sie es durchschnitten.

»Du kommst niedarauf, was ich gefunden habe.«

»Atlantis?«, sagte er.

»Vielleicht.«

Als er sich ihr näherte, gewöhnte er sich allmählich an die Wassertemperatur. In ein oder zwei Minuten könnte es sich tatsächlich erfrischend anfühlen. Jetzt konnte er erkennen, dass Jennifer vor einer kleinen Höhle in den Klippen Wasser trat. Zerklüftete graue Felsen ragten über den Eingang.

»Sieh mal«, sagte sie, »man kann hineinsehen.«

Kevin schwamm an ihre Seite und hielt sich an einem überhängenden Felsen fest. Sie hatte recht. Das Sonnenlicht, das auf dem Wasser glitzerte, wurde in der engen Grotte reflektiert. Etwas in ihrem Inneren, möglicherweise ein phosphoreszierendes Mineral, ließ die Wände funkeln, als seien sie mit Millionen winziger Diamanten bedeckt.

»Sieh nur, wie es funkelt«, sagte Jennifer, tauchte unter dem überhängenden Felsen hindurch und auf die Öffnung der Höhle zu.

»Das ist vielleicht keine so gute Idee«, warnte Kevin.

Doch mit einer weiteren kräftigen Armbewegung war sie bereits in der Höhle. »Huh, ist das unheimlich hier«, sagte sie. Ihre Stimme hallte hohl von den steinernen Wänden wider. »Und es scheint hier eine Klimaanlage zu geben.«

Was bleibt mir anderes übrig, als ihr zu folgen?, dachte Kevin. Selbst wenn es eine schlechte Idee ist. Er zog den Kopf ein und paddelte hinter ihr her in die Höhle. Kaum hatte er den Eingang passiert, wärmte die heiße Sonne nicht länger seinen Hinterkopf. Stattdessen umfing ihn eine kalte uralte Luft.

Jennifer, wenige Meter von ihm entfernt, schien auf irgendetwas zu stehen und stützte sich mit einer Hand an der niedrigen Decke der Grotte ab.

»Hier ist ein Felsvorsprung«, sagte sie. »Pass auf, wo du hintrittst.«

Eine Sekunde später stieß er sich das Schienbein an einer Felszunge unter Wasser. »Verdammt.«

»Tut mir leid. Ich habe mir auch den Zeh gestoßen, falls das ein Trost ist.«

»Ist es nicht.« Vorsichtig setzte er seine Füße auf den glatten schleimigen Felsen. Etwas, das er für Algen hielt, strich um seine Knöchel.

»Was, wenn wir die ersten Menschen wären, die diesen Ort entdecken?«, wisperte Jennifer.

»Ich würde meinen, dass schon vor uns jemand hier geankert und sie gefunden hat.«

»Aber haben die Leute nicht gesagt, dass es dieses Jahr ungewöhnlich trocken und der Wasserstand des Sees niedriger sei als je zuvor?«

»Stimmt, ich erinnere mich.«

»Also kann es doch gut sein, dass diese Höhle noch nie zuvor oberhalb des Wasserspiegels lag.«

Kevin zuckte die Achseln. Vermutlich war das durchaus möglich. Im dämmrigen flirrenden Licht, das von den Wellen hereingetragen und von den kristallinen Felsen gebrochen wurde, erweckte die Höhle den Eindruck, als sei nie zuvor ein menschliches Wesen hier eingedrungen. Die Höhle kam ihm vor wie … wie das älteste Ding, das er je gesehen hatte. Älter als die steilen Felshänge des Grand Canyon, älter als die Dinosaurierknochen, die er im Naturkundemuseum gesehen hatte, älter als alles, das er sich auch nur vorstellen konnte. Ein eiskalter Schauder lief ihm über den Rücken.

»Komm«, sagte er, »hier ist es kalt. Und das Wetter kann jeden Moment umschlagen.«

»In diesem Fall sollten wir uns besser beeilen«, sagte Jennifer und warf ihm die Arme um den Hals. »Das wird unser geheimer Ort sein, für alle Ewigkeit.« Sie presste ihren Körper gegen seinen und küsste seine Lippen. Kevin wollte sich widersetzen, wollte, dass sie beide hier rauskamen, doch als er spürte, wie sie ihre Brüste gegen seinen Brustkorb presste und der dünne Bikinistoff an seiner Haut rieb, löste sich seine angeborene Vorsicht in Luft auf. Er legte die Arme um ihre Hüfte und zog sie noch enger an sich. Er schloss die Augen. Wenn dies nicht der perfekte Moment war, um ihre Flitterwochen zu feiern, welcher dann? Er öffnete sie erst wieder, als Jennifer unvermittelt aufkeuchte und sich von ihm losriss.

»Was ist das?«, sagte sie und starrte über seine Schulter.

Selbst wenn er geglaubt hätte, sie wolle ihn verulken, verriet ihm ihr Gesichtsausdruck, dass sie keinen Witz machte. Hastig wandte er den Kopf um und sah es ebenfalls.

Eingebettet in den glitzernden Felsen, als kämpfte es selbst jetzt noch darum, freizukommen, erkannte er etwas wie Krallen, scharf und ausgestreckt, lang und gebogen. Sie waren deutlich zu erkennen, obwohl sie mit der steinernen Wand verschmolzen waren.

»Das ist ein Fossil«, sagte er, obwohl er es selbst kaum glauben konnte.

»Von was?«

Er beugte sich vor, doch das Wasser schwappte gegen die funkelnden Wände, und es war schwer zu erkennen, ob die Krallen mit etwas unterhalb der Wasserlinie verbunden waren. Oder waren es nicht eher Klauen?

»Du hast mich erwischt«, sagte er. »Bio war noch nie meine Stärke.«

»Was immer es ist, es macht mir Angst«, sagte Jennifer. In ihrer Stimme schwang Unbehagen mit. »Lass uns von hier verschwinden.«

Kevin stimmte ihr aus vollem Herzen zu, aber er wollte Jennifer nicht noch mehr Angst einjagen, als sie ohnehin schon hatte. »Geh du zuerst. Aber für den Fall, dass es wertvoll ist, sollte ich vielleicht ein kleines Stückchen herausmeißeln.«

»Nein!«, schrie Jennifer. »Mach das nicht! Fass es nicht einmal an!«

»Ich habe einen Witz gemacht«, erwiderte er beruhigend. »Ich habe doch gar keinen Meißel dabei.« Er merkte, dass es nicht der richtige Moment für Scherze war. »Lass uns zum Boot zurückschwimmen. Du zuerst, ich komme gleich nach.«

Sie tauchte an ihm vorbei ins dunkle Wasser. Als er sich umdrehte, um ihr nachzusehen, schwappte eine Welle in die Höhle und spülte sie zurück. Prustend schnappte sie hektisch nach Luft. Er hatte in den Sommerferien lange genug als Rettungsschwimmer gearbeitet, um die Anzeichen einer beginnenden Panik zu erkennen.

»Ganz ruhig, Jen«, sagte er. »Schwimm mit derselben Welle hinaus, die gerade hereingekommen ist.«

Es war ihm nicht entgangen, dass die Höhlenöffnung bereits merklich kleiner und das Licht von draußen weniger geworden war. War ein plötzlicher Sturm im Anzug?

»Lass dich vom Wasser hinaustragen«, sagte er, so ruhig er konnte. Sie senkte den Kopf und machte Schwimmbewegungen mit den Armen. Erneut warf er einen Blick auf den funkelnden Felsen mit den gefangenen Krallen. Oder waren es Finger?

Eine weitere Welle, größer als die erste, rollte herein, und er spürte, wie er das Gleichgewicht verlor. Seine Füße versuchten, auf dem Felsvorsprung Halt zu finden, aber der Stein war zu glitschig. Etwas Loses, Klebriges leckte an seiner Wade. Er kippte vornüber ins Wasser und stieß mit dem Schienbein gegen einen Felsvorsprung.

Doch Jennifers Kopf, das konnte er erkennen, hatte gerade den Rand der Höhle erreicht. Ihre Füße wirbelten das Wasser auf, als sie in die Bucht zurückpaddelte.

Gott sei Dank,dachte Kevin. Jetzt wird sie sich wieder beruhigen.

Als er sicher war, dass sie draußen war, stieß er sich ab und folgte ihr, aber er hatte den falschen Zeitpunkt erwischt und eine weitere Woge, kalt und beißend, schlug ihm ins Gesicht. So viel zu seinem eigenen Ratschlag. Er wischte sich das Wasser aus den Augen, und zu seiner Überraschung traf ihn bereits die nächste Welle. Wie schnell hintereinander kamen die denn? Das Wasser stieg, hob ihn in die Höhe, und er spürte, wie er mit dem Kopf gegen das raue nasse Dach der Höhle stieß.

Entspann dich,sagte er sich. Entspann dich einfach, und in ein paar Sekunden bist du hier raus.

Er holte tief Luft und schwamm auf die Öffnung zu. Von Jennifer war nichts mehr zu sehen, aber das Wasser in der Höhle war jetzt aufgewühlt und schien nur noch aus Strudeln zu bestehen, die ihn zur Seite und zurück zogen. Er strengte sich noch mehr an, aber es war wie bei einem dieser Träume, in denen man versucht zu laufen, aber nie irgendwo ankommt. Er kam kein Stück voran. Verdammt – warum habe ich Jennifer überhaupt in dieses bescheuerte Drecksloch schwimmen lassen?

Die Höhlenöffnung war inzwischen nur noch ein schmaler Spalt, und das Wasser stieg weiter an. Er hob eine Hand, um seinen Kopf zu schützen, aber es war bereits zu spät. Das Wasser hob ihn in die Höhe, kräftiger und schneller als zuvor, und sein Kopf schlug heftig auf den zerklüfteten Felsen auf. Selbst in dem kalten dunklen Wasser erkannte er das heraussickernde Blut und wusste, dass er sich die Kopfhaut aufgerissen hatte.

»Kevin!«

Hatte er das wirklich gehört?

»Wo bist du?«

Ich bin hier, dachte er benommen. Ich bin doch hier.

Erneut versuchte er, hinauszuschwimmen, aber das Wasser drängte immer noch herein, schleuderte seinen Kopf erneut gegen den schartigen Felsen, dass es ihm den Atem raubte.

Seine Beine gaben nach, und dann hörte er auf zu treten. Auch die Arme bewegten sich nicht mehr im Wasser.

Lass dich von der Strömung tragen,dachte er undeutlich.

Es war, als würde sich plötzlich ein schwarzer, sehr dicker und sehr warmer Samtvorhang über ihn legen. Sein Kopf schmerzte, als hätte ihn jemand mit einem Hammer geschlagen.

»Kevin!«

Er antwortete, oder zumindest glaubte er, dass er das tat. Sein Mund füllte sich mit eisigem Wasser. Der Vorhang wickelte sich noch enger um ihn. Er hatte das Gefühl, zu fallen und hinabzusinken, eigentlich eine angenehme Empfindung. Das Letzte, das er vor seinem inneren Auge sah, und es brachte ihn zum Lächeln, war er selbst, in seinem geliehenen Smoking, wie er Jennifer mit einem großen, unhandlichen Stück der weiß-gelben Hochzeitstorte fütterte.


Erster Teil

»… und die Wächter blickten herab auf

die Töchter der Menschheit.

Gleich dem Drachen, der niemals schläft,

hielten sie Wache … und Abscheu erfüllte

ihre Herzen.«

Das (verschollene) Buch Henoch, 2–3

(übertragen aus dem Aramäischen), 4QEN f-g


1. Kapitel

»Nächstes Bild, bitte.«

Während das Dia von der Leinwand verschwand und ein anderes an seine Stelle trat, fragte sich Carter Cox, wie viele der Studenten, die in den ordentlichen Reihen des Hörsaals um ihn herum saßen, tatsächlich noch wach waren. Vom beleuchteten Rednerpult aus waren sie unmöglich zu erkennen, aber er wusste, dass sie da oben auf ihren Stühlen kauerten. Das stetige Summen des Diaprojektors erzeugte genau die richtige Menge weißen Rauschens, um sie in den Schlaf fallenzulassen und sogar gelegentliche Schnarcher zu übertönen.

»Es ist bald vorbei«, sagte er. »Halten Sie durch!« Dankbar hörte er kleine Lacher aus verschiedenen Ecken des Saals. »Dies hier ist das letzte Dia für heute. Kann mir irgendjemand von Ihnen sagen, um was es sich handelt?«

Ein paar Stühle knarrten, als die Studenten sich aufrichteten, um besser folgen zu können.

»Sieht aus wie das Fossil eines Dinosauriers«, sagte ein Mädchen irgendwo aus den hinteren Reihen. Sie hörte sich an wie Katie Coyne, eine seiner besten Studentinnen. »Einer der kleineren Karnivoren.«

»In Ordnung, gut. Aber was hat Sie darauf gebracht?«

»Nichts. Ich bin ganz von allein daraufgekommen.«

Gelächter ertönte, und jetzt wusste er definitiv, dass es Katie war.

»Lassen Sie es mich anders ausdrücken, Miss Coyne«, sagte Carter und versuchte, die Kontrolle wiederzuerlangen. »Warum glauben Sie, dass es sich um einen Fleischfresser handelt?«

»Von hier sieht es aus, als hätte das Ding, was immer es einmal war, scharfe, vielleicht sogar sägezahnähnliche Zähne gehabt …«

»Das ist gut, denn es stimmt.«

»… und obwohl es nur schwer zu erkennen ist, könnten seine Füße eventuell Krallen gehabt haben, wie bei einem Greifvogel. Aber das kann ich nicht mit Sicherheit sagen.«

»Sie betrachten also diesen Bereich«, sagte Carter und deutete mit dem Pointer auf den unteren Rand des Dias. Dort waren die gespreizten Füße der Kreatur zu sehen, und es sah in der Tat aus, als besäßen sie Krallen. Doch selbst in seiner Gesamtheit bot das Bild nur wenig Hinweise. Eigentlich war es nicht mehr als der Eindruck schwacher grauer und schwarzer Linien, verdreht, gebrochen und sich an manchen Stellen überlagernd. Und das alles vor dem Hintergrund blaugrauer vulkanischer Asche. Katie hatte ihre Sache gut gemacht, indem sie einige der hervorstechendsten Merkmale herausgepickt hatte. Das wichtigste hatte sie allerdings übersehen.

»Aber was glauben Sie, was dies hier darstellen könnte?«, fragte Carter und zeigte auf eine Stelle am oberen Bildrand, wo ein Knochenvorsprung sich nach oben drehte und in einem schlichten Schnörkel mündete. Selbst Katie hielt den Mund.

»Vielleicht ein Schwanz, mit etwas an seinem Ende«, wagte ein anderer Student.

»Ein gepanzerter Stachel«, sagte Katie, »um andere Raubtiere abzuwehren?«

»Nicht ganz. Bei näherer Untersuchung, wozu dieses Dia wahrscheinlich ziemlich ungeeignet ist, zeigt sich erstens, dass es sich tatsächlich um einen Schwanz handelt. Und zweitens entpuppt sich diese kleine Verbreiterung hier als ein …«, um des dramatischen Effekts willen machte er eine kurze Pause, »Büschel Federn.«

Nur das Summen des Projektors war noch zu hören. Dann sagte Katie: »Ich lag also falsch? Es ist kein Dinosaurier, sondern ein Vogel?«

»In gewisser Weise haben Sie beide Male recht. Es ist ein Dinosaurier mit Federn, genannt Protarchaeopteryx robusta. Merken Sie sich diesen Namen, ich erwarte von Ihnen, dass Sie ihn bei der Abschlussprüfung buchstabieren können. Er wurde in Westchina gefunden und auf die Unterkreide datiert. Und es ist der beste Beweis dafür, dass die heutigen Vögel tatsächlich Nachkommen der Dinosaurier sind.«

»Ich dachte, diese Theorie sei diskreditiert«, sagte Katie.

»Nicht in diesem Seminar«, sagte Carter. »Hier ist die Theorie gesund und munter.«

Die Klingel, bei der es sich in Wahrheit um einen nervigen Summton handelte, ertönte, und die Studenten begannen ihre Bücher und Papiere zusammenzukramen. Sein Assistent schaltete die Lampen im Saal ein, und das Dia verblasste auf der Stelle zur Unkenntlichkeit.

»Dieses Ding, das Sie uns gerade gezeigt haben«, sagte Katie, »wie immer es auch heißt, konnte es fliegen?«

»Nein, sieht nicht so aus«, erwiderte Carter, während die anderen Studenten in Richtung Tür schlurften. Katie war stets die Letzte, die ging, und hatte wie immer noch eine Zusatzfrage für ihn, ehe sie ihre übergroße Armyjacke zuknöpfte und selbst verschwand. Sie erinnerte Carter ein wenig an sich selbst in diesem Alter. Auch er hatte stets versucht, noch ein paar letzte lose Enden zusammenzuknoten oder ein weiteres Stück des Puzzles zu ergattern. Normalerweise trödelte er nach dem Seminar noch eine Weile herum, um eventuelle offene Fragen zu beantworten, heute hatte er allerdings noch einen Termin. Er hatte sich extra einen gelben Zettel auf sein Vorlesungsskript geklebt, damit er es nicht vergaß.

Er zog seine Lederjacke an, stopfte die Unterlagen in seine abgewetzte Aktentasche und verschwand direkt hinter Katie durch die Seitentür.

»Sie glauben also, dass T. Rexebenfalls Federn hatte?«, fragte sie mit einem Blick über die Schulter.

»Das ist durchaus vorstellbar.«

»Dann wird man wohl Jurassic Parkneu drehen müssen.«

»Das werden sie bestimmt auch machen«, sagte er, »und wenn sie schon einmal dabei sind, können sie es auch gleich in Kreideparkumbenennen.«

»Wieso?«

»Weil es den T. Rexvorher gar nicht gab. Wir sehen uns nächsten Donnerstag.«

Draußen war es knackig kalt und herbstlich, einer von diesen Tagen, an denen New York tatsächlich zu funkeln schien. Die Schaufenster leuchteten, Herbstblätter bedeckten die Gehwege, und selbst die Wagen der Brezelverkäufer sahen verlockend aus. Einen Moment lang erwog Carter, an einem haltzumachen, da er zum Lunch nur einen Burrito aus der Mikrowelle gegessen hatte. Doch dann erinnerte er sich an den Artikel in der New York Postüber das Ungeziefer in den Lagerhäusern, in denen die Wagen über Nacht untergestellt wurden, und er ging weiter. In Momenten wie diesem tat es ihm häufig leid, dass er diesen Artikel jemals gelesen hatte.

Die Verabredung, bei der er in genau vierzig Minuten erscheinen musste, war in Midtown, und jetzt war er erst am Washington Square. Aber wenn er zügig ging, würde er es vermutlich rechtzeitig schaffen. Ein Taxi würde ein Vermögen kosten, und die Vorstellung, an solch einem schönen Nachmittag in die U-Bahn zu steigen, war wenig verlockend. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und machte sich auf den Weg die Fifth Avenue hinauf, die ausgebeulte Aktentasche unter dem Arm. Zu einer Verabredung, auf die er, wenn er ehrlich war, nicht besonders erpicht war.

Es war ein weiterer Termin beim Arzt, dieses Mal bei einem Fruchtbarkeitsspezialisten, den Beth durch ihre Freundin Abbie aufgetan hatte. Beth war erst zweiunddreißig und Carter ein Jahr älter, aber seit über einem Jahr versuchten sie nun schon, ein Baby in die Welt zu setzen. Bislang ohne Erfolg. Einerseits wollte Carter wissen, wo das Problem lag, andererseits wollte er genau das nicht. Er fürchtete jedoch, es heute Nachmittag auf die eine oder andere Weise herauszufinden.

Seit sechs Jahren waren sie verheiratet, und die meiste Zeit über hatten sie das Thema Kinder vertagt. Nein, falsch. Sie hatten es nicht verschoben, sondern es war einfach nie zur Sprache gekommen. Einmal, weil sie beide so scharf aufeinander waren, dass die Vorstellung, aus einem anderen Grund Liebe zu machen und eine Familie zu gründen, ihnen geradezu absurd erschien. Sex war einfach Sex, und warum sollten sie es sich schwerer machen als nötig? Das war eigentlich keine schlechte Herangehensweise, wie er fand. Sie hatten ziemlich glücklich in einer Art Seifenblase gelebt, in der es nichts gab, außer ihnen beiden. Und es hatte sich nicht so angefühlt, als würde irgendetwas fehlen.

Der andere Grund war ihre Arbeit gewesen. Carter hatte stets gesagt, dass er nicht einmal über die Gründung einer Familie nachdenkenwolle, solange er nicht wusste, dass seine Karriere in trockenen Tüchern war. Bis er zum Beispiel irgendwo eine feste Anstellung hatte. Sein Albtraum war es, so zu enden wie viele andere Promovierte, die er kannte, und sich als herumziehender Wissenschaftler von einer befristeten Stelle zur nächsten zu hangeln. Ein Jahr in New Haven, zwei in Ann Arbor, mit einer Frau und mehreren Kindern im Schlepptau, für die er zu sorgen hätte. Keinen Ort zum Schreiben, keine Zeit zum Nachdenken, keine Freiheit, dorthin zu gehen, wo er hingehen musste, um die Arbeit tun zu können, die er tun musste, um sich einen Ruf zu erwerben. Aber das war kein Problem mehr. Seit achtzehn Monaten war er fest bei der New York University angestellt und Inhaber des erst kürzlich gestifteten Kingsley-Lehrstuhls für Paläontologie und Integrative Biologie. Und damit galt diese Ausrede nicht mehr.

An der einunddreißigsten Straße bog er rechts ab und steuerte auf den Bereich der First Avenue zu, den er inzwischen für sich die Medizinwelt nannte. Als er einmal mit einem Taxi in einen Unfall verwickelt war, hatte der Notarzt ihn hierhergebracht. Als er nach einem Kletterunfall mit einer Verletzung am rechten Bein einen Orthopäden aufsuchen musste, war er hierhergekommen. Und die Praxis, in der er anschließend Physiotherapie bekommen hatte, lag ebenfalls nur einen halben Block entfernt. Er betrat also ein im Großen und Ganzen recht vertrautes Gebiet.

Was nicht bedeutete, dass er sich hier wohlfühlte.

Dr. Westons Praxis nahm die gesamte zweite Etage eines unauffälligen Krankenhausanbaus ein. Eine zweiflügelige polierte Eichentür trug seinen Namen in hervorgehobenen, drei Zentimeter hohen, vergoldeten Buchstaben, darunter die Buchstaben P. C. für Private Corporation.Seit wann, fragte Carter sich, gebärdeten Ärzte sich eigentlich wie Geschäftsleute? Er wurde durch den eleganten Empfangsbereich und den Korridor mit Holztäfelung und Perserteppichen zu Dr. Westons Heiligtum geführt. Carter gewann immer mehr den Eindruck, eine Investmentbank und keine Arztpraxis zu besuchen. Dieses Gefühl wurde noch verstärkt, als er das Büro mit Blick auf den East River betrat.

Beth war bereits da und saß in einem der beiden Sessel vor dem antiken, mit Schnitzereien verzierten Schreibtisch des Arztes. Als Carter eintrat, stand Dr. Weston auf, um ihm die Hand zu schütteln. Er trug keinen weißen Kittel, sondern einen gerade geschnittenen dunklen Anzug. Der einzige Gegenstand im Raum, der etwas mit Medizin zu tun hatte, war ein Leuchtkasten an einer Wand, auf dem der Arzt sich vermutlich gelegentlich Röntgenbilder anschaute.

Carter fühlte sich eindeutig unpassend gekleidet.

»Ihre Gattin hat mir soeben ein wenig über ihre Arbeit in der Galerie erzählt«, sagte Dr. Weston und nahm wieder auf seinem roten Lederdrehstuhl mit der hohen Lehne Platz. Er war ein schlanker Mann und wirkte auf Carter wie einer jener Männer, die ständig ihre Runden um den See im Central Park liefen. »Zufällig sammle ich selbst Kunst.« Er deutete auf ein riesiges schauderhaftes abstraktes Ölgemälde neben der Tür. Carter wusste, dass das genau die Sorte Bilder war, die Beth verabscheute.

»Das ist ein Bronstein«, fügte er stolz hinzu.

Verstohlen warf Carter einen Blick auf Beth, auf deren Gesicht ein freundliches, aber geheimnisvolles Lächeln lag. Ihr schwarzes Haar war zu einem straffen Pferdeschwanz zurückgebunden, und der Ausdruck ihrer tiefbraunen Augen blieb unverbindlich. »Ich fürchte, unsere Galerie hat sich auf wesentlich ältere Stücke spezialisiert«, sagte sie. »Für uns ist Renoir topaktuell.«

»Ich würde mir trotzdem bei Gelegenheit gerne ansehen, was Sie dahaben. Man kann nie wissen, was einem ins Auge fällt«, sagte er und wandte sich endlich einigen Notizen zu, die er sich gemacht hatte. »Und Sie, Mr Carter, sind, wie ich sehe, Wissenschaftler?«

»Paläontologe, in erster Linie.«

Dr. Weston nickte bedeutungsvoll, als würde er sich auskennen. »Unterrichten Sie?«

»An der NYU.«

»Sehr gut. Ich habe mein Praktikum dort an der Uniklinik gemacht.«

Weston hielt den Kopf gesenkt und blickte auf eine Tabelle in der offenen Mappe vor ihm auf dem Tisch. Ein paar Sekunden lang schwieg er, während er die Informationen studierte. Carter nahm an, dass die Mappe ihre persönlichen Daten enthielt, Alter, medizinische Vorgeschichte und so weiter. Einige dieser Fragen hatte er bereits einer Krankenschwester am Telefon beantwortet. Carter ergriff Beths Hand und drückte sie.

»Bin ich zu spät gekommen?«, flüsterte er.

»Für deine Verhältnisse nicht«, sagte sie lächelnd. »Wie ist das Seminar gelaufen?«

»Es wäre schwer, da was falsch zu machen – es kommt mir vor, als hätte ich alles schon tausendmal erzählt.«

»Wie lange versuchen Sie jetzt schon zu empfangen?«, unterbrach Dr. Weston sie, ohne aufzuschauen.

»Seit über einem Jahr«, erwiderte Carter.

»Vierzehn Monate, und es werden immer mehr«, sagte Beth.

Weston korrigierte die Eintragung auf der Tabelle. Dann las er weiter.

»Hast du Lust, heute Abend ins Luna zu gehen?«, fragte Carter seine Frau.

»Geht nicht. Wir haben einen privaten Empfang für ein paar Kunden.«

»Wie lange dauert es?«

Beth zuckte die Achseln. »Wenn es so aussieht, als seien sie in Kauflaune, könnte es spät werden. Halb neun, neun.«

Jetzt blickte Weston zu ihnen auf. »Wie häufig hatten Sie innerhalb dieser vierzehn Monate regelmäßigen Geschlechtsverkehr?«

Selbst wenn Dr. Weston Carter für so etwas wie einen Forscherkollegen hielt, überraschte ihn die Frage dennoch.

»Vier-bis fünfmal die Woche«, antwortete Beth.

Stimmte das? Carter musste erst nachdenken.

Weston notierte die Zahl.

Ja, sie hatte recht, jetzt, wo Carter genauer darüber nachdachte. War das normal für verheiratete Paare? Man konnte es nie wirklich wissen.

»Also gut«, sagte Dr. Weston, lehnte sich in seinem Sessel zurück und schob die Ärmel hoch.

Unwillkürlich fiel Carters Blick auf die goldenen Manschettenknöpfe.

»Sie sind beide jung, so dass wir, solange wir nicht doch noch auf irgendwelche Schwierigkeiten stoßen, meines Erachtens höchstwahrscheinlich Erfolg haben werden.«

»Aber warum hat es bisher noch nicht geklappt?«, fragte Beth. »Ich meine, mit was für Schwierigkeiten genau rechnen Sie?«

Dr. Weston antwortete nur ausweichend. »Eine Menge Dinge kann die Empfängnis erschweren, von einem blockierten Eileiter bis zu einer zu geringen Spermienanzahl, aber die gute Nachricht ist, dass wir heutzutage Mittel und Wege haben, um nahezu alle Probleme zu umgehen. Ich schlage Ihnen Folgendes vor …«

Während der nächsten fünfzehn Minuten skizzierte Dr. Weston eine Reihe von Schritten, angefangen von einem Tagebuch über ihren Geschlechtsverkehr bis hin zu dem Vorschlag, dass sie die Stellung verändern sollten, um die besten Voraussetzungen für eine Empfängnis zu schaffen. Insbesondere Carter erhielt den Rat, Boxershorts anstelle von Slips zu tragen, weil dann die Temperatur im Hodensack niedriger sei, woraufhin mehr und beweglichere Spermien produziert würden. Außerdem sollte er einen weiteren Termin vereinbaren, um seine Spermien zählen zu lassen.

»Ich soll also herkommen und eine … Spermienprobe hierlassen?«, fragte Carter.

»Ja. Ich möchte, dass Sie sich vierundzwanzig Stunden vor dem Termin jegliche sexuelle Aktivität – oder, um genauer zu sein: jede Ejakulation – versagen. Morgens ist der beste Zeitpunkt.«

Beth empfahl er, sich einen eigenen Termin für eine umfassende Untersuchung geben zu lassen, dann stand Dr. Weston unvermittelt auf und reichte ihnen erneut über den Schreibtisch hinweg die Hand. »Ich denke, in Ihrem Fall werden wir außerordentlichen Erfolg haben«, sagte er.

»Ich will aber keine Drillinge«, sagte Beth. »Eines reicht mir.«

»Fein. Dann machen wir es so – eins nach dem anderen.«

Auf dem Weg nach draußen gab Carter der Schwester am Empfangstresen die Daten seiner Kreditkarte, dann waren Beth und er draußen und standen an einer windgepeitschten Ecke auf der First Avenue. Er stellte seine Aktentasche auf den Boden zwischen seine Beine und begann die Knöpfe von Beths langem grünem Regenmantel zuzuknöpfen.

»Wann geht der Empfang los?«, fragte er.

»Erst in ein paar Stunden«, sagte sie und blickte nach unten, als er mit einem widerspenstigen Knopf kämpfte. »Was ist mit dir? Hast du noch ein Seminar?«

»Nein. Ich muss nur noch ein paar Arbeiten benoten. Aber die können warten.« Carter lächelte und beugte sich so weit vor, dass sich ihre Nasenspitzen berührten. »Vielleicht sollten wir die Zeit für einen guten Zweck nutzen.«

»Und an was denkst du da?«


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