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Das letzte Relikt
  • Текст добавлен: 8 октября 2016, 21:19

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Автор книги: Robert Masello


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7. Kapitel

Obwohl Carters Anruf erst in einer Stunde fällig war, wollte Giuseppe Russo kein Risiko eingehen. Er würde neben dem Telefon warten. Sich hinauszuwagen war im Moment ohnehin keine besonders verlockende Aussicht. In Rom dämmerte es, und aus den schmalen Fenstern seines Büros im obersten Stockwerk des Biologiegebäudes konnte er bereits die riesige Wand aus düsteren grimmigen Wolken sehen, die gegen die Olivenbäume zu stoßen schien und über die alten Ruinen auf dem Monte Palatino hinwegfegte. Seit Tagen braute sich über der Adria ein Sturm zusammen, und jetzt schien er bereit zu sein, seine Urgewalten freizulassen.

Russo setzte sich auf den klapprigen Schreibtischstuhl, was angesichts seiner Größe und der Zerbrechlichkeit des alten Eichenstuhls kein ganz leichtes Unterfangen war, und zündete sich eine weitere Nazionali an. Gott, war er müde. Nur mit Mühe schleppte er sich nachmittags zu seinen Vorlesungen und abends nach Hause. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann er das letzte Mal anständig geschlafen hatte. Nein, das stimmte nicht. Er konnte sich sehr wohl daran erinnern. Es war die Nacht, bevor er das Fossil in der Höhle zu Gesicht bekommen hatte. Das Fossil, das sich jetzt im Hof unter ihm befand. Einerseits glaubte er, dass er sich mit diesem Fund einen Namen machen würde, doch andererseits wünschte er, er hätte niemals auch nur davon gehört. Und diese Seite wurde mit jedem Tag stärker.

Er blies eine Rauchwolke gegen die verblichenen Samtvorhänge. Ein paar voreilige Regentropfen schlugen gegen die Fensterscheibe. Er verstand es einfach nicht. Er war an einem Dutzend Ausgrabungsstätten gewesen, hatte Tausende von Fossilien und Knochenfragmenten in der Hand gehabt, viele von ihnen menschlichen Ursprungs. Aber nie zuvor hatte er so etwas empfunden wie im Moment. Ein nagendes Unbehagen, ein fast greifbares Gefühl des Grauens. Seit seine Finger in der Grotte am Lago d’Averno die nassen Klauen berührt hatten, falls es sich tatsächlich um solche handelte, war sein Geist in Aufruhr und seine Stimmung gesunken. Nachts warf er sich unruhig im Bett von einer Seite auf die andere, und wenn er schließlich einschlief, plagten ihn Albträume. Mehrmals war er schlafgewandelt, etwas, das er seit seiner Kindheit nicht mehr getan hatte. Einmal war er aufgewacht und hatte, zusammengerollt wie ein Hund, unter dem Tisch gelegen.

Und hatte ein Küchenmesser fest umklammert gehalten.

Er drückte die Zigarette im Aschenbecher auf dem Tisch aus und schloss eine Sekunde lang die Augen. Er musste sich überlegen, wie er Carter den Fall darlegen sollte und ihn dazu überreden konnte, ihn bei diesem gewaltigen, aber sonderbaren Unterfangen zu unterstützen. Der zunehmende Wind rüttelte an den Glasscheiben in den bleigefassten Fenstern, und die roten Samtvorhänge raschelten in der Zugluft. Wie ein losgemachtes Boot begannen seine Gedanken abzudriften. Die Heizung in der Ecke zischte und erzeugte mehr Lärm als Wärme, doch unter diesen Geräuschen glaubte er noch etwas anderes zu hören. Ein weit entferntes, unregelmäßiges Klopfen. Das Geräusch von Metall, das auf Stein schlug. Er versuchte es zu ignorieren, aber der Ton war so beharrlich, dass er niemals imstande sein würde, zur Ruhe zu kommen oder sich zu konzentrieren, solange er nicht herausgefunden hatte, was es war, und dem ein Ende bereitete. Wo, fragte er sich, steckte bloß Augusto, der Pförtner, und warum kümmerte er sich nicht darum?

Erschöpft und gereizt ging Russo zur Treppe und lauschte erneut. Das Geräusch kam eindeutig von unten. Die Treppe bestand aus abgewetztem Marmor und schwang sich in einem eleganten Bogen nach unten. Sie erinnerte daran, dass das Gebäude, das jetzt Teil der Universität war, vor mehreren Jahrhunderten als Privatpalast für einen Abkömmling der Medici erbaut worden war. In diesem Moment, als sich die Dämmerung des Samstagabends über die Stadt senkte, lag es verwaist da. Nur ein paar Deckenlichter brannten noch. Es war Russos Aufgabe, sie auszuschalten, ehe er ging. Es sei denn, Augusto wäre noch hier.

Russo hasste es, sich so weit vom Telefon zu entfernen, aber jetzt ertönte das metallische Klopfen erneut, und er musste sich vergewissern, dass es nichts Ernstes war. Eine Hand an dem feingearbeiteten eisernen Handlauf, hastete er die Treppe hinunter in das riesige Vestibül im Erdgeschoss. Weit und breit keine Spur von Augusto oder einem anderen Menschen. Die großen bogenförmigen Türen, die zum Innenhof führten, waren unverschlossen und knarrten im feuchten Wind.

Das Klopfen ertönte erneut. Es kam vom Hof.

Russo knöpfte seine Strickjacke zu, wobei er feststellte, dass etwas Zigarettenasche an der Vorderseite klebte, und stieß eine der schweren Türen weiter auf.

Wie eine Glucke schien der massive schwarze Steinblock in der Mitte des Hofes zu hocken. Er ruhte auf einem halben Dutzend Stahlböcken, eine riesige blaue Plastikplane hing darüber und flatterte und peitschte im Wind. Eines der Seile, mit denen die Plane festgezurrt war, hatte sich gelöst und schlug wie wild hin und her, wobei der Metallkarabiner immer wieder gegen den Felsbrocken knallte.

Zumindest dieses Rätsel war gelöst.

Russo wusste, dass er das Seil nicht so lose lassen durfte, es könnte den Felsen beschädigen.

Widerstrebend betrat er den Hof. Der kalte Wind auf seinem Gesicht kam ihm vor wie Schmirgelpapier, als er sich dem Felsblock näherte. Währenddessen hatte er das eindeutige Gefühl, nicht allein zu sein. Noch jemand schien sich in dem leeren Hof aufzuhalten, und sein Blick wanderte zu den düsteren Kolonnaden auf beiden Seiten.

»Augusto?«, rief er laut. »Sind Sie hier?«

Aber niemand antwortete.

Das Seil schlug so hart gegen das Pflaster, dass der Stein blaue Funken schlug. Russo griff danach, aber der Wind riss ihm das Seil wieder aus der Hand. Er musste aufpassen. Er wartete ein paar Sekunden, bückte sich, packte es erneut und riss es mit aller Kraft an sich. Er fühlte sich an einen Schlangenbeschwörer erinnert, den er einmal gesehen hatte und der seine zischende Kobra an der Kehle gepackt hatte.

» Rompi … la pietra.« Brich den Stein auf.

Wie angewurzelt stand er da, immer noch vorgebeugt, das Seil in der Hand. Sein Kopf war nur wenige Zentimeter vom Fossil entfernt, und er hätte schwören können, dass die Worte aus dem Inneren des Steins gekommen waren.

Aber das war unmöglich.

Er klinkte den Metallkarabiner des Seils in einen Haken am Boden ein, dann trat er mit dem Fuß kräftig dagegen, um sicherzustellen, dass er fest verankert war.

Regen hatte eingesetzt, prasselte auf die Plastikplane und wurde an den Seiten von Windböen daruntergeweht, die sich im Innenhof verfangen hatten. Der Felsen wurde nass.

Russo wollte gerade gehen, als etwas ihn innehalten und sich umdrehen ließ.

Er beugte seinen Kopf dichter an die Oberfläche des Felsens, wie ein Arzt, der den Herzschlag des Patienten abhörte.

»Brich den Stein auf.«

Instinktiv zuckte sein Kopf zurück, sein Herz pochte. Dieses Mal war die Stimme nicht zu überhören gewesen. Im dämmrigen Licht des Hofes konnte er die knochigen Klauen erkennen. Sie waren nicht länger mit dem Felsen verschmolzen, sondern krümmten sich. Und während er voller Entsetzen zusah, begann der Scheitel des runden, nassen und glatten Kopfes von Irgendetwassich ebenfalls herauszudrücken, als würde das Wesen geboren werden. Russo versuchte, zurückzuweichen, aber es war zu spät. Die Kreatur hatte seinen Ärmel mit ihren Klauen gepackt und zog ihn auf den glänzenden Felsen zu. Hin zu dem Kopf, der jetzt aus dem Stein ausbrach und ihm seine steinernen Augen zuwandte. Russo stöhnte vor Entsetzen auf und hörte ein Klingeln, wie aus meilenweiter Entfernung.

Die roten Samtvorhänge bauschten sich im Wind.

Es klingelte erneut.

Regen prasselte gegen die Fensterflügel.

Er starrte vor sich hin, die Augen weit aufgerissen, als ein greller Blitz den Monte Palatino erhellte.

Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte zum dritten Mal.

Er war eingeschlafen. Seine Hand tastete nach dem Hörer. » Pronto

»Professor Russo?«

Noch immer meinte er diese eindringliche Grabesstimme aus dem Inneren des Steines zu hören.

»Joe? Bist du das?« Es war Carter. »Kannst du mich hören?«

»Ja, Bones, ich kann dich hören.«

»Na ja, etwas mehr Begeisterung könntest du schon an den Tag legen.«

Russo schüttelte den Traum ab und setzte sich in seinem knarrenden Stuhl auf.

»Besonders, nachdem ich die halbe Nacht mit deinen Laborberichten und Fotos zugebracht habe.«

»Du hast es dir also angesehen?«, sagte Russo. Er versuchte, sich eine neue Zigarette anzuzünden, aber seine Hände zitterten zu stark.

»Ja. Und es sieht so aus, als hättest du tatsächlich einen erstaunlichen Fund zwischen die Finger bekommen.«

»Das denke ich auch.«

»Aber es gibt da Einiges, das ich nicht verstehe. Erstens, es sieht so aus, als hättest du alles genau nach Vorschrift gemacht, alle Tests, am Fossil, am Felsen selbst …«

»Das haben wir auch.«

»… aber keines deiner Ergebnisse ergibt irgendeinen Sinn.«

In gewisser Weise war Russo erleichtert, dass jemand anders das genauso sah.

»Und ich brauche dir ja nicht zu sagen«, fuhr Carter fort, »dass es im Inneren der Probe jede Menge eingeschlossener Gase geben kann. Du wirst einen guten Mineralogen brauchen, der dir hilft herauszufinden, wie du das Fossil aus dem Fels herausbekommst.«

Brich den Stein auf.

»In deinem Brief hast du geschrieben, dass ihr nicht die Ausrüstung habt, um ein beschleunigtes Massenspektrogramm zu machen?«

»Nein, das können wir nicht.« Das war genau die Eröffnung, auf die Russo gehofft hatte. »Aber an der New York University könnt ihr das doch machen, oder?«

»Ja, klar.«

»Und Magnetresonanztomographie in einer offenen Umgebung? Könnt ihr das auch?«

»Das ließe sich einrichten.«

»Und was ist mit Lasern? Auf Argon-Basis?«

Carter schwieg einen Moment. »Den könnten wir uns ausleihen. Warum?«

Russo zögerte, dann wagte er den Sprung ins kalte Wasser. »Weil ich dich unter diesen Umständen besuchen werde, mein Freund.«

»Was meinst du damit? Ohne das Fossil, hier in New York …«

»Ich komme mitdem Fossil. So, wie es ist, im Stein eingeschlossen. Und wir werden einen Weg finden, es zu befreien.«

»Und das werden sie dir erlauben?« In Carters Stimme lag Überraschung und eine Spur Erregung. »Bei einer Entdeckung von dieser Bedeutung?«

»Ich habe erklärt, dass du der einzige Mensch auf der Welt bist, der diese Arbeit übernehmen und uns erklären kann, was wir da gefunden haben.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte verblüfftes Schweigen, und Russo konnte sich nur vorstellen, was für Gedanken jetzt durch Carters Kopf wirbelten. Schließlich hörte er: »Joe, das ist unglaublich.«

Russo lachte leise. »Was willst du damit sagen – wie in alten Zeiten?«

»So ziemlich«, erwiderte Carter.

In der nächsten halben Stunde klärten sie die logistischen Fragen, besprachen den Zeitplan und die notwendige Laborausstattung. Als Russo den Hörer wieder auf die Gabel legte, war es draußen vollkommen dunkel, und der Sturm hatte sich in einen heftigen Platzregen verwandelt.

Aber er hatte erreicht, was er wollte.

Jetzt wollte er nur noch nach Hause, duschen und etwas essen.

Er nahm seinen alten Regenmantel vom Haken auf der Rückseite der Tür, schloss ab und stieg die Treppe hinunter. Merkwürdig, wie stark das Gefühl war, er sei erst vor Kurzem hier entlanggegangen. Aber das war ein Traum gewesen … ein Albtraum. Daran sollte er sich mittlerweile gewöhnt haben.

Im Vestibül blieb er stehen, um den Kragen hochzuschlagen und seinen Regenschirm aus dem Halter neben der Tür zu nehmen, den einzigen, der noch übrig war. Draußen auf der Via del Corso hörte er den Regen gurgelnd in den Gullis verschwinden. In der Pförtnerloge brannte noch Licht, und einen Moment später tauchte Augusto auf, der einen großen Mülleimer zum großen Container in der Halle trug.

»Ach, hallo«, sagte Russo zu dem alten Mann. »Haben Sie zufällig vorhin so ein hämmerndes Geräusch gehört, aus dem Innenhof?«

»Ja, Professor. Eines der Seile hatte sich gelöst. Ich habe es wieder am Boden befestigt.«

Wie konnte sein Traum so zutreffend sein? »Gut. Danke schön. Falls so etwas noch einmal vorkommt …«

»Nein«, erwiderte Augusto und schüttelte den Kopf. »Ich werde da nicht noch mal rausgehen.«

»Aber Sie waren doch bereits draußen.«

»Nein«, sagte er, kippte den Mülleimer aus und wandte den Blick ab. »Ich gehe da nicht noch mal raus.« Er biss die Zähne zusammen und ging zurück in sein Kabuff.

Das war vollkommen untypisch für Augusto, der normalerweise äußerst respektvoll und höflich war, doch nachdem Russo darüber nachgedacht hatte, beschloss er, dass er ihn nicht weiter mit Fragen bedrängen würde. Er öffnete die Tür zur Dunkelheit und der schmalen Gasse draußen und klappte seinen Regenschirm auf. Nein, es war besser, es einfach auf sich beruhen zu lassen. Der Wind zerrte an dem Regenschirm und riss ihn Russo fast aus der Hand. Außerdem, dachte er, wollte er vielleicht gar nicht hören, was Augusto ihm zu sagen hatte.


8. Kapitel

Die nächste Woche wurde hektisch für Carter. Es stellte sich heraus, dass Joe mit einer ganz untypischen Eile voranpreschte, und Carter musste sich anstrengen, um mitzuhalten.

Als Erstes hatte Joe sich eine befristete Ausfuhrgenehmigung der Nationalen Akademie der Wissenschaften beschafft, und mit dieser Genehmigung in der Hand hatte er das italienische Militär zu Hilfsleistungen verpflichtet. Dieses würde das Fossil mit einer Transportmaschine vom Luftwaffenstützpunkt in Frascati, südöstlich von Rom, zum Kennedy Airport in New York bringen. In einem Land, das für seine Verwaltungsbürokratie berüchtigt war, hatte Joe es nicht nur geschafft, sich durch den Behördendschungel zu kämpfen, sondern das auch noch in Rekordzeit. Unwillkürlich fragte Carter sich, was tatsächlich hinter dieser großen Eile steckte. Joe benahm sich, als könnte er es kaum abwarten, das Fossil nach New York zu schaffen.

Für Carter stand währenddessen eine Menge Lobbyarbeit und Rennerei in der NYU an. Gleich am Montagmorgen schickte er die Bilder und Anhänge zum Fachbereichsleiter Dr. Stanley Mackie und schaute nachmittags in dessen Büro vorbei. Mackie war ebenso berühmt für seine buschigen weißen Augenbrauen, die offensichtlich seit einem halben Jahrhundert ungehindert sprießen durften, wie für seine Funde in der Olduvai-Schlucht in Tansania in den späten sechziger Jahren. Als Carter ihm kurz Joes Pläne darlegte, das Fossil an die New York University zu schaffen, ragten Mackies Brauen sogar noch weiter in die Höhe als üblich.

»Er will etwas teilen, das er selbst für bemerkenswert hält? Warum um alles auf der Welt sollte er das tun?«

»Wir haben schon zuvor zusammengearbeitet, auf Sizilien …«

»Wo Sie die Knochengrube entdeckt haben.«

»Ja. Professor Russo war mir eine große Hilfe.«

»Trotzdem«, sagte Mackie. »In meinen ganzen Jahren in diesem Beruf kann ich die Paläontologen, Anthropologen oder Archäologen an den Fingern einer Hand abzählen, die jemals freiwillig den Ruhm für irgendetwas geteilt hätten. Meiner Erfahrung nach geht es immer nur darum, den Ruhm zu stehlen wo immer es möglich ist, nicht darum, ihn zu teilen.«

Carter wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Dr. Mackie hatte recht. Jeder, der glaubte, in der akademischen Welt ginge es weniger halsabschneiderisch zu als in der Geschäftswelt, unterlag einem traurigen Irrtum. Das hatte Carter schon früh auf die harte Tour gelernt. Zweimal hatte er sich die Anerkennung für wissenschaftliche Aufsätze mit Professoren teilen müssen, die formal die Ausgrabungen leiteten, an denen er gearbeitet hatte, obwohl die Funde und die Schlussfolgerungen, die er in seinen Berichten daraus gezogen hatte, ganz allein von ihm stammten.

Dr. Mackie wartete seine Antwort nicht ab. »Natürlich ist es möglich, dass dieser Russo einfach ein ehrlicher Mann und gewissenhafter Wahrheitssucher ist.« Er sagte es, als wollte er damit andeuten, dass an dem ganzen Gerede über die Zahnfee vielleicht doch etwas dran sei. »Aber wenn ich mir diese Laborberichte und die Bilder ansehe, kann er genauso gut auch das Opfer eines Schwindels sein.«

Ein Schwindel? War es das, worauf Mackie hinauswollte? Carter war verblüfft.

»Giuseppe Russo ist einer der zuverlässigsten und brillantesten Wissenschaftler, mit denen ich je zusammengearbeitet habe«, sagte Carter.

»Brillante Männer sind auch zuvor schon hereingelegt worden.«

»Alle Berichte in dieser Mappe belegen, dass er genauso vorgegangen ist, wie es sich gehört.«

»Aber sehen Sie sich die Ergebnisse an! Sie haben doch selbst zugegeben, dass sie keinen Sinn ergeben.«

»Mit Hilfe der richtigen Technik, einer AMS-Analyse zum Beispiel, wird sich das vielleicht ändern.«

»Darum bitten Sie mich also? Sie wollen mein Okay haben für die Massenspektrometrie, die Laseranalyse, das volle Programm?«

»Ja. Und noch ein paar andere Sachen.«

Mackie lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er sagte nicht ja, und er sagte nicht nein, aber als er schließlich fragte: »Und was wollen Sie noch haben?«, wertete Carter das als stillschweigende Einwilligung.

»Einen Arbeitsraum.«

»Was gefällt Ihnen nicht am Labor der Biowissenschaft? Dort haben Sie doch alle Privilegien.«

»Das schon, aber für diese Aufgabe brauche ich absolute Sicherheit und Ungestörtheit.« Er wollte das zwar nicht sagen, aber er musste sicher sein, dass Bill Mitchell dort nicht herumschnüffelte, so wie er es neulich bei den gespendeten Fossilien gemacht hatte. »Außerdem brauche ich Platz, viel Platz. Für die Probe und für die Maschinen, mit denen wir die Tests durchführen.«

Mackie nickte widerwillig. »Irgendetwas sagt mir, dass Sie auch schon einen Raum im Auge haben.«

»Stimmt. Im Moment wird er nur als Lagerraum benutzt, direkt hinter der Laderampe vom Bio-Gebäude. Er ist leicht zugänglich, und er liegt im Erdgeschoss, so dass es relativ einfach sein wird, den Felsblock und die Geräte dorthin zu schaffen. Außerdem hat der Raum doppelt gesicherte Stahltüren zur Straße raus.«

»Ich bezweifle, dass sich irgendjemand mit einer Felsplatte aus dem Staub machen würde, die mehr als eine Tonne wiegt.«

»Wir sind hier in New York.«

Selbst Mackie musste grinsen. »Ich will nicht hören, dass Ihr neues Hobby Sie in irgendeiner Weise von Ihren Unterrichtspflichten ablenkt.«

»Das wird es nicht.«

»Und ich will auch nicht, dass Ihnen das Ding um die Ohren fliegt.«

Wenn er wüsste, was er da sagt, dachte Carter. Das einzige Thema, das er gezielt gemieden hatte, war die Explosivität der im Felsen eingeschlossenen Gase, und Mackie hatte die Unterlagen offensichtlich nicht gründlich genug studiert, um selbst darauf zu stoßen.

»Ich bin immer noch der Meinung«, schloss Mackie, »dass dieses sogenannte Fossil nicht das ist, was es zu sein scheint. Wenn Sie mich fragen, haben wir es hier mit der Antwort Italiens auf den Riesen von Cardiff zu tun.«

Oder, dachte Carter, mit der fehlenden Verbindung zwischen den Dinosauriern und den modernen Vögeln. Diese Klauen konnten sich als immens wichtig erweisen.

»Und wenn sich herausstellt, dass es sich tatsächlich so verhält«, sagte Mackie, »will ich nicht, dass dadurch das Wappen dieser Universität beschmutzt wird.«

»Ihr Wappen ist bei mir sicher.«

Mackie blickte ihn unter seinen gewaltigen Brauen hinweg an, und ohne eine Spur von Leichtigkeit in der Stimme sagte er: »Das will ich Ihnen auch geraten haben, Professor Cox.«

Mit Dr. Mackies zähneknirschender Bewilligung des Projekts und einem kleinen diskreten Zuschuss aus dem Geldtopf, den der Fachbereich zur freien Verfügung hatte, zog Carter von dannen. Im Biologiegebäude machte er sich auf die Suche nach Hank, dem leitenden Hausmeister, und fand ihn in seinem »Büro«, einem umgewandelten Vorratsraum im Keller. Hank hatte den Kopf über eine geheimnisvolle Arbeit gebeugt und blickte auf, als Carter zur Tür hineinschaute.

»Was machen Sie da?«

»Fischköder«, sagte Hank. »Demnächst geht’s rauf in den Norden.«

»Super«, sagte Carter, »aber ich hoffe, Sie finden diese Woche noch etwas Zeit, um mir einen Gefallen zu tun.«

»Kommt drauf an.«

»Kennen Sie den Lagerraum im Erdgeschoss, hinter der Laderampe?«

Hanks Gesichtsausdruck verriet Carter, dass er sich damit bereits unbeliebt gemacht hatte.

»Wir bekommen eine riesige Probe rein, aus Übersee, und wir müssen diesen Raum in eine Art provisorisches Labor verwandeln.«

Hank sagte nichts, aber es war offensichtlich, dass ihm das bisher Gehörte nicht gefiel.

»Könnten Sie den meisten Krempel da drin rausräumen? Ist mir egal, wohin«, fuhr Carter beharrlich fort. »Wenn Sie das hinkriegen, könnte ich dafür sorgen, dass Sie eine Zulage von, sagen wir, dreihundert Mäusen bekommen.«

Jetzt legte Hank den Köder aus der Hand und schien sich die Sache zu überlegen. »Wie wäre es mit vier?«

Carter hatte mit so etwas gerechnet. »Wenn Sie auch noch ein paar extra Lampen besorgen könnten, mache ich vier draus. Aber zum Wochenende muss alles fertig sein.«

Hank wandte sich wieder dem Köder zu. »Okay.«

Carter kam sich vor wie ein Olympionike, der geschickt eine Hürde nach der anderen nahm. In gewisser Weise jedoch war der nächste Schritt der schwerste von allen. Joe würde in wenigen Tagen hier aufkreuzen, so dass keine Zeit mehr blieb, es länger hinauszuschieben. Er musste Beth auf den neuesten Stand bringen und sie über einige Details informieren, die er für besonders verzwickt hielt.

Es war erst zwanzig nach elf, und sein erstes Seminar begann um drei. Also verließ er das Bio-Gebäude und sprang in die U-Bahn Richtung Uptown. Neben ihm saß ein fülliges Mädchen mit einem Kapuzenpullover und studierte das Horoskop auf der Rückseite eines Hochglanzmagazins. Der Aufmerksamkeit nach zu schließen, mit der sie las, hätte man meinen können, ihr Leben hinge in der einen oder anderen Weise von den abgedruckten Vorhersagen ab. Carter traf andauernd auf solche Leute, selbst unter seinen Studenten, und es machte ihn wahnsinnig. Diese Faszination für die Pseudowissenschaft in all ihren Spielarten, von den Tierkreiszeichen bis zur Kabbalah, von Feng Shui bis Hellseherei, von der Kraft der Pyramiden bis zur Rückführung in vergangene Leben. Eine Studentin, die natürlich aus L.A. kam, hatte ihm tatsächlich einmal erklärt, sie sei sicher, dass sie in einem früheren Leben ein Liebespaar gewesen seien. Zum Glück hatte sie den Kurs wieder abgewählt, ehe sie versuchte, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen.

Doch es war ein ständiger Kampf, all diesen Blödsinn aus ihren Köpfen zu verbannen und durch die aufrichtige Schönheit wahrer Wissenschaft und verbürgter Entdeckungen zu ersetzen. Es gab so viel Erstaunliches auf der Welt, wahr und trotzdem nahezu unglaublich, dass Carter diese Faszination durch das offensichtlich Fadenscheinige und Unbegründete nie begriffen hatte. Die Geheimnisse der Biologie und der Evolution, die Unermesslichkeit der Zeit im geologischen Maßstab und der Aufstieg der Menschheit befriedigten sein Bedürfnis nach Wundern vollkommen. Machten sich die Menschen eigentlich klar, wie leicht die Entwicklung eine vollkommen andere Richtung hätte nehmen können? Bisweilen stieß er dabei an die Grenzen seiner Vorstellungskraft, eher als bei allem, was die Mystiker und Star-Medien, die Astrologen und New-Age-Propheten sich so einfallen ließen. Diese geistlose Flut musste irgendwie gestoppt werden, andernfalls befürchtete er ernsthaft, dass sie das Fundament der wissenschaftlichen Forschung fortspülen könnte, das in jahrhundertelanger, mühseliger Arbeit errichtet worden war. Dann bliebe nur noch ein riesiges trübes und undifferenziertes Terrain übrig.

Doch wie sollte er ihr das verständlich machen, dachte er mit einem Blick auf die junge Frau neben sich, die begierig ihr Horoskop aufsog.

In der neunundfünfzigsten Straße stieg er aus und schlenderte in Richtung Park Avenue. Für Ende Oktober war es fast unangemessen warm, ein Altweibersommer, und er öffnete im Gehen den Reißverschluss seiner Lederjacke. In diesem Teil der Stadt sahen die Menschen auf der Straße eindeutig anders aus. Hier trug man, anders als im Village, Businesskleidung, wollte beeindrucken und Geschäfte machen. Die Männer steckten in Anzügen, hatten schmale lederne Diplomatenkoffer dabei und sprachen in winzige Mobiltelefone. Die Frauen waren teuer gekleidet, diskreter, aber echter Schmuck glitzerte an ihren Handgelenken, Ohren und Dekolletés. Wann immer Carter hierherkam, in die Welt, die er für Beths Welt hielt, fühlte er sich leicht deplatziert. Ein wenig zu sehr aus dem falschen Teil der Stadt, zu akademisch, um wirklich dazuzugehören.

Die Raleigh Galerie, in der Beth arbeitete, machte es nur noch schlimmer. Sie nahm die ersten beiden Etagen eines Gebäudes im italienischen Stil in der siebenundfünfzigsten East ein, und eine ausladende rote Markise reichte fast bis zur Hälfte über den gedrängt vollen Gehweg. Es war einer jener Orte, die Reiche und Prominente aufsuchten, oft mit ihren eigenen Experten im Schlepptau, um sich den Constable anzusehen, der sich seit Jahrzehnten in irgendeinem Landhaus versteckt hatte, oder eine Skizze von Claude Poussin, die auf mysteriöse Weise aus einem Schweizer Tresorraum ans Licht gekommen war. Das Zusammenleben mit Beth hatte Carter eine nachträgliche, aber gründliche Ausbildung in europäischer Kunstgeschichte beschert. Durch sie hatte er den atemberaubenden Wert dieser Werke zu würdigen gelernt. Ein weiß-behandschuhter Diener hielt ihm die Tür auf und nickte ihm zu, als er ihn erkannte.

»Ihre Gattin ist mit einem Kunden oben«, sagte er.

»Danke.«

Als Carter durch den Hauptraum der Galerie schritt, stellte er fest, dass in den reich verzierten Rahmen an den Wänden mehrere neue Gemälde hingen. Am bemerkenswertesten war das Porträt eines holländischen Bürgers in einem prächtigen, mit Pelz besetzten Mantel.

»Dieses Gemälde eines Bürgers, müssen Sie wissen, wurde einst Rembrandt zugeschrieben.«

Noch ehe er sich umdrehte, wusste er, wer gesprochen hatte. Richard Raleigh, geboren als Ricky Radnitz, hatte zusammen mit seinem Namen auch den Long-Island-Akzent abgelegt. Inzwischen hörte er sich an, als sei er im Mayfair District in London aufgewachsen.

»Morgen«, sagte Carter. »Ich war gerade in der Gegend und dachte, ich überrasche Beth.«

»Wenn Sie mich fragen«, sagte Raleigh, hakte sich bei Carter unter und zog ihn zurück zum Bild, »sollte es immer noch auf Rembrandt zurückgeführt werden. Sehen Sie sich nur die Pinselführung an, achten Sie auf die Details der Kleidung. Welcher Schüler wäre je so brillant gewesen?«

Carter hatte natürlich überhaupt keine Ahnung, und es war ihm auch herzlich egal. Alles, was er wollte, war nach oben gehen, sich Beth schnappen und herausfinden, ob sie Zeit für einen Lunch im Central Park hatte – was, wie er fand, der perfekte Rahmen war, um ihr von Joes bevorstehender Ankunft zu erzählen.

»Ich finde, es sieht unglaublich gut aus«, sagte Carter, »aber ich bin besser darin, Knochen zu beurteilen als Gemälde.«

»Stimmt, Sie sind ja sogar auf noch ältere Dinge spezialisiert als ich«, sagte Raleigh mit einem dünnen Lächeln. Er war ein kleiner adretter Mann, und Beth hatte Carter eines Tages verraten, dass die grauen Strähnen an seinen Schläfen vom Friseur stammten. Raleigh glaubte, dass er dadurch distinguierter und vertrauenswürdiger wirkte.

»Der Portier erwähnte, dass Beth oben sei?«, sagte Carter und zog unauffällig seinen Arm zurück.

»Kennen Sie den Unterschied zwischen einer unangefochtenen Zuschreibung und der Bezeichnung ›aus der Schule von …‹?«

»So aus dem Stegreif nicht.«

»Millionen, mein Junge, Millionen. Bei einem Ölgemälde wie diesem? Da geht es schnell um eine Differenz von fünfzehn, zwanzig Millionen Dollar.«

»Interessant«, sagte Carter und versuchte immer noch, sich in Richtung Treppe zu schieben.

»Beth hat einen neuen Kunden«, warnte Raleigh. »Ich muss Sie bitten, sie nicht zu stören, wenn sie mit ihm spricht.«

Das war es also. Carter war es nicht entgangen, dass Raleigh versuchte, ihn aufzuhalten, und jetzt kannte er den Grund dafür. Beth war Raleighs beste Angestellte, und er konnte stolz auf sie sein. Raleigh war brillant, wenn es darum ging, den Markt einzuschätzen und seine wohlhabenden Kunden zu verhätscheln, doch Beth verfügte über die eigentliche Expertise und ein tiefes Verständnis der Werke, ihrer Schöpfer und ihrer Provenienz.

»Ich tue einfach so, als sei ich ein Kunde.«

»Das würde Ihnen niemand abnehmen«, sagte Raleigh über die Schulter, während er rasch zur Tür strebte, durch die gerade eine reiche junge Tussi hereinschwebte. »Mrs Metzger!«, flötete er, »wie schön, dass Sie es einrichten konnten, kurz hereinzuschauen.«

Carter umfasste das Messinggeländer und stieg die breite, mit rotem Teppich ausgelegte Treppe nach oben. Im Zwischengeschoss waren die Büros versteckt, und vom Treppenabsatz aus führte eine zweite Treppe in die obere Galerie. Er konnte Beth hören, ehe er sie sah, als sie gerade etwas zum Thema Zeichenkunst erklärte.

Am Eingang zur Galerie blieb er stehen, noch im Schatten des Treppenaufgangs verborgen. Beth hatte ihm den Rücken zugewandt, und der Kunde stand neben ihr. Sie trug ihre übliche Arbeitskleidung, einen engen schwarzen Hosenanzug mit weißer Seidenbluse. Ein schwarzes Band hielt ihr Haar in einem kurzen Pferdeschwanz zusammen. Sie nannte es ihren Smoking und sagte, sie trüge ihn aus dem gleichen Grund wie die Männer: um mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Der Typ neben ihr hingegen würde mit gar nichts verschmelzen. Er war groß und kräftig, mit kurzem borstigem Haar, und trug einen langen Regenmantel aus einem glänzenden, metallisch schimmernden Stoff.

Während Beth auf verschiedene Aspekte der Zeichnungen hinwies, die vor ihnen auf dem breiten Tisch ausgebreitet waren, musste Carter feststellen, dass der Mann wesentlich mehr Zeit damit verbrachte, Beth zu beobachten anstelle der Zeichnungen. Vielleicht hatte Raleigh es aus diesem Grund so eingerichtet, dass Beth sich um diesen speziellen Kunden kümmern sollte, und dann auch noch in der relativen Ungestörtheit der oberen Galerie. Möglicherweise zählte er darauf, dass ein wenig Erotik helfen könnte, heute ein Geschäft für die Galerie abzuschließen.

»Der große Wert von Zeichnungen«, sagte Beth gerade, »besonders, wenn es sich um Studien und Skizzen handelt, liegt darin, dass man die Hand des Künstlers völlig frei bei der Arbeit sieht. Er arbeitet schnell, improvisiert, probiert aus.«


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