Текст книги "Das letzte Relikt"
Автор книги: Robert Masello
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Carter nickte und verrenkte den Hals, um die Frontseite des riesigen alten Backsteingebäudes abzusuchen. Es schien insgesamt sieben Stockwerke zu haben. In den unteren waren die Fenster mit Brettern vernagelt oder zugemauert, während in den oberen Etagen die Fenster offen gelassen worden waren. Wind und Wetter konnten ebenso eindringen wie jeder Unbefugte, der entschlossen und imstande war, die Wände zu erklimmen.
Das vorrangige Problem stellte jedoch der Maschendrahtzaun dar, dessen Spitze mit Natodraht gesichert war. Obwohl das Gebäude gegenüber des St. Vincent’s an der Vorderseite gut geschützt war, fragte Carter sich, ob der Rest ebenso gründlich verbarrikadiert war. Seiner Erfahrung nach dauerte es in New York nicht lange, bis es Schleichwege in ein leerstehendes Gebäude gab.
»Fahr mal zur Rückseite«, sagte er. »Vielleicht haben wir da Glück.«
Ezra bog um die Ecke und fuhr den halben Block entlang, doch Carter sah nur einen durchgehenden Zaun. Und selbst wenn sie versuchen würden, hinüberzuklettern, würden sie von Dutzenden Fußgängern dabei gesehen werden. Doch am anderen Ende, unter einer defekten Straßenlaterne, schien eine Gasse zu einem Eingang zu führen.
»Gut«, sagte Carter, »da ist ein Hintereingang.«
Ezra bog in die Gasse ein und kam mit einem Ruck zum Stehen.
»Schalt das Fernlicht an«, sagte Carter und stieg aus. Die enge Straße war mit Abfall übersät, und auf der anderen Seite befand sich irgendein Kraftwerk, möglicherweise für Wasser, Strom oder Müllrecycling. Doch Carter hatte bereits einen Weg in das alte Sanatorium entdeckt. Er zog eine Milchkiste aus Plastik zu einem riesigen Müllcontainer aus Metall und benutzte sie, um auf den Container zu klettern. Jetzt befand er sich auf gleicher Höhe mit dem Natodraht, und wenn ihm eine Möglichkeit einfiele, den Draht abzudecken, könnte er vielleicht auf der anderen Seite am Maschendrahtzaun herunterklettern, ohne sich dabei in Fetzen zu schneiden. Er schaute sich in der Gasse um. Wenige Meter entfernt entdeckte er einen Stapel nasser, zusammengefalteter Pappkartons. »Du kannst das Licht jetzt ausmachen«, rief er Ezra zu, der immer noch im Wagen saß. »Und bring mir ein paar von den Kartons da drüben.«
Ezra stieg aus dem Wagen und schloss ab. Wegen des Gestanks, der von den Kartons ausging, wendete er das Gesicht ab, während er ein paar davon zum Zaun zerrte. Carter hievte sie hoch und legte jeweils zwei oder drei über die scharfen Widerhaken des Natodrahts. Sie waren schwer und lappig genug, um den Draht zu bedecken und sogar ein wenig nach unten zu drücken. Carter stellte seinen Fuß darauf und trat zu, um die Stabilität zu testen, dann streckte er vorsichtig eine Hand aus, um das Gleichgewicht zu halten. Nachdem er einen kurzen Moment schwankend auf dem Zaun gestanden hatte, sprang er auf der anderen Seite herunter. Er landete auf einem flachen Haufen aus verklumptem Dreck und Kies, der selbst hier mit Glassplittern und zerdrückten Blechdosen übersät war.
Er wischte seine Jeans ab und schaute hoch, als Ezra gerade auf den Müllcontainer kletterte.
»Gib mir deinen Rucksack«, sagte Carter, und Ezra reichte ihn vorsichtig herunter. »Hier ist der Boden etwas höher. Versuch, auch hier zu landen.«
Carter trat zurück. Unter seinen Sohlen knirschte der Schutt, als Ezra den Natodraht mit den Kartons überwand. Aus der Entfernung hörte er das Rumoren eines Müllwagens. Ezra landete härter als Carter, und sein schwarzes Barett flog ihm vom Kopf.
»Alles in Ordnung?«, fragte Carter und hob die Mütze auf.
Ezra nickte und rang, die Hände auf die Knie gestützt, nach Atem. »Gib mir eine Sekunde.«
Carter reichte ihm das Barett, ehe er sich der Rückseite des alten Sanatoriums zuwandte. Diese Seite war sogar noch düsterer und baufälliger als die Vorderfront. Schartige Löcher durchzogen das Mauerwerk, und aus leeren Fensterhöhlen ragten zerbrochene Balken hervor. Eine gefährlich wackelige schwarze Feuerleiter führte bis zum zweiten Stock. Dort, wo Carter jetzt stand, mochte sich einst der Lieferanteneingang befunden haben, die Umrisse einer halbrunden Auffahrt waren noch schwach zu erkennen. Zu der Zeit, als das Sanatorium errichtet worden war, waren hier wahrscheinlich den ganzen Tag Pferdekarren ein-und ausgefahren. Jetzt war die einzige Bewegung das gelegentliche Vorbeihuschen scheuer Ratten, die sich tief im Schatten verborgen hielten.
Keine Straßenlaterne schickte ihren Schein bis hierher, aber der Mond war hell und tauchte die Ruine in ein fahles silbriges Licht. Carter fischte die Taschenlampe aus seiner Tasche und bahnte sich in ihrem Strahl seinen Weg über das heimtückische Terrain. Der Boden war bedeckt mit einer Mischung aus alten Trümmern aus Steinen und verrotteten Brettern und neuerem Müll wie Plastikreinigungsflaschen und hier und da einer verdreckten Matratze. Als er das Sanatorium erreichte, legte er eine Hand auf den Fuß der Feuerleiter, die am Gebäude baumelte wie ein verdrehter Kleiderbügel, und rüttelte ein paar Mal daran. Nichts bewegte sich oder gab nach. Vorsichtig setzte er einen Fuß auf die unterste Sprosse und probierte, ob sie sein Gewicht trug. Bis auf ein rostiges Quietschen schien das Bauteil noch stabil genug zu sein.
Er drehte sich zu Ezra um, der zustimmend nickte.
»Aber drängle nicht«, sagte Carter und senkte instinktiv seine Stimme. »Warte, bis ich von der Treppe runter bin, ehe du raufkommst.«
Er kletterte ein paar Stufen höher. Das Quietschen wurde lauter, und als er den ersten Stock erreicht hatte, wo die Fensteröffnung zugemauert war, spürte er, wie plötzlich ein Beben durch die Metallstufen ging. Eine Sekunde lang erwog er, umzukehren, doch dann sah er, dass es bis zum leeren Fenster des zweiten Stocks nur noch wenige Schritte waren, und nahm von den restlichen Stufen drei auf einmal. Von der Fensterbank aus ließ er den Strahl der Taschenlampe durch das Innere wandern, um sicherzugehen, dass es einen Fußboden gab, auf dem er landen konnte, dann duckte er sich und kletterte über das verrottete Fensterbrett hinein.
Als er den Kopf wieder durchs Fenster steckte, sah er, dass Ezra bereits den Rucksack geschultert hatte. Schweigend winkte er ihm zu, hochzukommen. Dann wandte er sich um und suchte die neue Umgebung mit Blicken ab.
Dieses Stockwerk konnte nie als medizinisches Lager genutzt worden sein. Ganz offensichtlich handelte es sich bei dem langen schmalen Raum um einen der ehemaligen Krankensäle. An den Wänden standen mehrere eiserne Bettgestelle aufgereiht, deren Spiralfedern größtenteils zu Staub zerfallen waren. Ein metallener Ablagewagen ohne Räder lag auf der Seite. Am anderen Ende des Raumes führte eine große offene Tür in die Dunkelheit.
Ezra kletterte durch das Fenster ins Zimmer. Mit gedämpfter Stimme sagte er: »Wie sollen wir jemals das ganze Gebäude durchsuchen können?«
»Hoffen wir, dass das nicht nötig ist.«
Carter ging voran. Seine Taschenlampe erfasste die Löcher im Boden sowie die gesplitterten Dielen, die in merkwürdigen Winkeln herabhingen. Schließlich erreichten sie die Tür. Mit der Lampe leuchtete Carter den Flur in beide Richtungen aus. Direkt vor ihnen lockte ein breiterer Korridor.
»Dieser dort«, flüsterte Carter, »sieht aus, als würde er uns am ehesten in den Bauch der Bestie führen.«
Obwohl sie so leicht auftraten, wie sie konnten, hallten ihre Schritte im höhlenartigen Inneren des Gebäudes wider. Zu beiden Seiten waren die Wände mit Löchern übersät und voller Wasserflecken. Die Türen zu den Zimmern waren entweder herausgefallen oder standen offen und gaben den Blick auf karge Räume frei. Hier und da entdeckten sie noch ein Bettgestell, eine Kommode ohne Schubladen oder ein zerbrochenes Waschbecken am Boden.
Vor ihnen, gerade noch im Lichtkegel von Carters Taschenlampe, schien sich der Raum zu öffnen, es fühlte sich sogar an, als wehte ein frischerer Lufthauch aus dieser Richtung. Aufgrund der Anordnung der anderen Flure gewann Carter den Eindruck, dass das alte Krankenhaus als ein einziges großes Quadrat angelegt worden war, mit einem offenen Platz genau in der Mitte. Als sie näher kamen, wurde die Luft frischer, und die Dunkelheit wurde allmählich schwächer. Selbst die Decke wurde am Ende des Korridors höher.
Und dann war die Decke ganz verschwunden. Carter blieb stehen, genau wie Ezra neben ihm, blickte empor und sah eine Wolkenbank vor dem Mond dahinjagen. Sie befanden sich in einem riesigen offenen Raum, der wie ein Wintergarten wirkte. Über ihnen befanden sich die Überreste von etwas, was einst ein riesiges Oberlicht gewesen zu sein schien. Die eisernen Stützbalken, oder zumindest einige davon, krümmten sich über ihnen wie schwarze Finger, doch die übergroßen Glasscheiben, die sie einst gehalten hatten, waren komplett verschwunden. Alles, was von den Fenstern übrig geblieben war, waren Tausende körnige Splitter, die unter ihren Füßen knirschten. In der Mitte des Raumes befand sich ein versiegter steinerner Springbrunnen mit einer Art Statue in der Mitte, die aus dieser Entfernung nicht zu erkennen war.
»Sieht aus, als sei das früher einmal das Sonnenzimmer gewesen«, sagte Carter.
Ezra leuchtete mit seiner eigenen Taschenlampe im Saal herum. Schwere Holzsäulen ragten wie Telegraphenmasten in die Höhe, um ein Dach zu tragen, das nicht mehr dort war. Jegliche Farbe war verblasst, es war eine Welt aus Schwärze und Schatten, in der im silbrigen Schimmer des Mondlichts kaum Konturen erkennbar waren. Selbst die Geräusche der umgebenden Stadt fehlten. Alles, was sie hörten, war der Wind, der am verrotteten Holz und den abgewetzten Ziegeln rüttelte. Doch dann erfasste sein Lichtstrahl etwas Glitzerndes, das an einem der senkrechten Holzbalken befestigt war.
Als er näher kam, konnte Ezra erkennen, was es war. Ein Kruzifix. Er winkte Carter heran.
Während Carter es anschaute, fragte Ezra leise: »Ob es von einem ehemaligen Patienten des Sanatoriums stammt?«
Doch Carter schüttelte den Kopf. Er erkannte sofort das Kruzifix wieder, das er zuletzt auf der Intensivstation für Brandopfer im St. Vincent’s gesehen hatte. »Es gehörte Joe.«
Ezra wusste nicht, was er davon halten sollte. Einerseits war er erleichtert, weil sie tatsächlich auf der richtigen Spur waren, doch zugleich war er auch verwirrt. Wenn seine Theorien stimmten, würde Arius sich für so etwas zuletzt interessieren. Und noch weniger würde er es in seinem Schlupfwinkel zur Schau stellen. Aber was gäbe es sonst für eine Erklärung dafür, wie es hierhergekommen war?
Als er erneut in die düsteren Winkel des Raumes spähte, entdeckte Ezra noch etwas, das ebenfalls an einer der Säulen befestigt war. Etwas, das sich, soweit er es aus der Ferne beurteilen konnte, als ebenso seltsam erweisen könnte.
Er ging an dem steinernen Springbrunnen vorüber, dessen Becken trocken und zerbrochen war, und folgte dem Strahl seiner Lampe bis zu einem kleinen Farbklecks in einem vergoldeten Rahmen. Es war ein Aquarell, unverkennbar ein Degas, und als Carter neben ihm stand, sagte Ezra: »Und dies hier gehörte Kimberly. Sie hatte es in ihrem Ankleidezimmer hängen.« Es hing schief an einem rostigen Nagel, der mitten durch das Bild geschlagen worden war. »Er hat sich nicht viel Mühe damit gegeben, es richtig aufzuhängen«, fügte er hinzu. Er brauchte nicht auszusprechen, was sie beide wussten: Das Bild war von ihrem flüchtigen Engel dort angebracht worden. »Aber warum?«, überlegte Ezra laut. »Warum das Kruzifix? Und warum dieses Bild? Schließlich respektiert er weder die religiöse Bedeutung des einen, noch kann er von der Schönheit des anderen so verzaubert sein.«
Carter kannte den Grund, obwohl ihm bei dem Gedanken daran schlecht wurde. In verschiedenen paläontologischen Ausgrabungsstätten hatte er Ähnliches gesehen. Geweihe und Kieferknochen, die an Höhlenwänden hingen, oder eingeschlagene hominide Schädel, in kleinen Nischen versteckt. »Das ist keine Dekoration«, erklärte er. »Er sammelt Souvenirs.«
Er ließ den Strahl seiner Lampe durch den Raum wandern, und dieses Mal hielt er bei der antiken Statue in der Mitte des Springbrunnens inne. Sie hatte einen klassischen Kopf, von Apollo oder Narziss oder dergleichen, Beth könnte ihn sicherlich eindeutig benennen. Der Rest der Statue jedoch war unter einem lose drapierten roten Tuch verborgen. Carter ging näher heran und stellte fest, dass es sich um einen langen roten Wildledermantel handelte.
»Was zum Teufel ist das?«, frage Ezra. »Das sieht ja aus wie der Fummel einer Nutte.«
»So ist es«, sagte Carter. »Der Mantel gehörte dem Transvestiten, der Arius als Erster gesehen hat.«
Ezra schwieg. »Noch eine Trophäe?«
Carter nickte.
Ezra, dem anscheinend etwas auffiel, das Carter entgangen war, kletterte über den Rand des Beckens und zog den Mantel auf. Flüsternd sagte er: »Aber schau dir an, was darunter ist.«
Carter richtete den Strahl seiner Taschenlampe darauf, und jetzt konnte er ebenfalls das Pergament erkennen, das gleich einer Haut fest um den Torso der Statue gewickelt war. »Meine Schriftrolle«, sagte Ezra. Hastig schob er den Mantel von den Schultern der Statue und ließ ihn in das trockene Becken fallen.
»Was tust du da?«, fragte Carter. »Lass die Rolle in Ruhe!«
»Warum sollte ich?«
»Hast du schon vergessen, was in deiner Wohnung passiert ist?«
»Ich habe nicht vor, sie hier zu lassen«, sagte Ezra und warf Carter über die Schulter einen finsteren Blick zu. »Es ist die bedeutendste Entdeckung der Weltgeschichte, und dieses Gebäude wird in wenigen Tagen abgerissen.«
Erneut drehte er sich um, und ehe Carter ihn aufhalten konnte, hatte er das Ende der Rolle, das über die Schulter der Statue drapiert war, zwischen den Fingern. Vorsichtig begann er, die Schriftrolle abzupellen. Kaum begann sich das Pergament zu lösen, da vernahm Carter das vertraute leise Summen und sah das pulsierende lavendelblaue Licht.
»Ezra, hör auf!«
Doch die Schrift entrollte sich weiter, das Summen wurde lauter und das Licht dunkler. Ezra machte einen Schritt zurück, als sei er überrascht über das, was er ausgelöst hatte.
»Ich habe gesagt, hör auf«, sagte Carter.
»Das habe ich doch!«, sagte Ezra, während die Rolle sich von selbst abwickelte, gleich einer Schlange, die sich von einem dünnen Baum löste.
Das Licht wurde intensiver, wurde zu einem kräftigen pulsierenden Violett. Das Summen wurde durch ein Knistern ersetzt, als würden trockene Zweige unter ihren Füßen zerbrechen.
»Komm zurück«, sagte Carter und packte Ezra am Ärmel, aber Ezra weigerte sich. »Ich glaube nicht, dass sie uns etwas anhaben kann«, sagte er. »Nicht, solange wir den Lehm aus Jerusalem tragen.«
»Hast du vor, es auszuprobieren?«
Ezra streckte die Hand aus. »Ja.« Er berührte die Schriftrolle, gerade, als Carter erneut nach seinem Arm griff, und es war, als würde plötzlich ein heftiger Stromschlag sie beide treffen. Ezra wurde in die Luft gehoben, und mit einem fürchterlichen dumpfen Geräusch prallte sein Kopf auf dem Beckenrand auf.
Carter wurde umgerissen und gegen eine der hölzernen Säulen geschleudert. Das Messer, das in seinem Gürtel steckte, schlitterte über den Boden.
In einer senkrechten Säule aus immer stärker werdendem Licht wirbelte die Schriftrolle empor und tauchte die Steinmauern des baufälligen Wintergartens in einen violetten Glanz. Auf den schmuddeligen Wänden wurden die Worte sichtbar, die einst auf der uralten Haut niedergeschrieben worden waren, sie drehten und wanden sich wie die Schriftrolle selbst.
Benommen und verblüfft lag Carter da und begriff plötzlich, was diese Worte bedeuteten.
Sie berichteten nicht nur davon, wer die Wächter waren, welche Gräuel sie verübt hatten und welcher entsetzlichen Strafe sie ausgesetzt waren.
Diese Worte waren mehr als das. Jemand hatte sie aufgezeichnet, und zwar einer der Bezwinger.
Sie waren das Protokoll eines Sieges, niedergeschrieben mit dem Blut des Besiegten. Auf seiner ureigenen Haut.
Auf Arius’ Haut.
Kein Wunder, dass sie zu ihm zurückgekehrt war.
Die Worte, deren Schriftzeichen gespenstisch in die Länge gezogen wurden, kreisten auf den bröckeligen Mauern wie Bilder einer magischen Laterne. Sie drehten sich im Kreis, Runde um Runde, und wurden dabei immer schneller. Das violette Licht wurde heller und heißer, bis es nahezu weiß war. Carter konnte nicht länger direkt hineinblicken, sondern musste seine Augen schützen. Die Rolle beschrieb immer engere Spiralen, verwandelte sich in eine Helix aus Wind und Licht, während sie weiter über dem Springbrunnen schwebte.
Er hörte Ezra stöhnen.
Zumindest war er am Leben.
Wieder blickte er auf die umherwirbelnde Rolle, wie gelähmt von ihrer Kraft. Gleich einer Feuersäule drehte sie sich am Platz, wurde so grell und heiß, dass er schließlich die Augen zusammenkneifen und den Kopf abwenden musste. Selbst jetzt noch spürte er die Kraft, hörte das Knistern der Hitze. Im Raum befand sich eine lebendige Präsenz, und in stummem Entsetzen fragte Carter sich, was sie zufriedenstellen würde.
Dann wusste er, selbst mit geschlossenen Augen, dass sie verschwunden war. Der große Raum war wieder dunkel, der Wind und das Knistern waren erstorben. Alles war ruhig.
Er schlug die Augen auf und wandte sich wieder zum Springbrunnen. Die antike Statue stand allein und unschuldig dort, nur vom blassen Mondlicht angestrahlt, das durch das leere Oberlicht des Wintergartens fiel.
Die Schriftrolle war verschwunden. Hatte sie sich in Luft aufgelöst? War sie wie eine Flamme erloschen? Durch das offene Dach davongeweht? Nirgendwo entdeckte Carter eine Spur von ihr. Er hielt den Atem an und sagte: »Ezra, bist du verletzt?«
Er bekam keine Antwort.
Taumelnd kam er auf die Beine, stieg über den Rucksack und ging zu Ezra. Das schwarze Barett hatte sich über das Gesicht geschoben, und als Carter es anhob, stellte er fest, dass er die Augen geöffnet hatte, aber der Blick ziellos war. »Kannst du mich hören?«, fragte er, und dieses Mal nickte Ezra schwach. »Ich bringe dich hier raus. Kannst du aufstehen?«
Wieder keine Antwort, aber als er seinen Arm unter Ezras Schulter schob, schaffte er es, ihn auf die Füße zu ziehen.
»Okay, und jetzt ein Schritt nach dem anderen.« Er leuchtete mit seiner Taschenlampe in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und während Ezra sich schwankend gegen ihn lehnte, entfernten sie sich langsam vom Springbrunnen. Mit der Lampe leuchtete Carter ständig hin und her, um sicherzustellen, dass sie nicht über irgendeinen verrotteten Balken oder zerbrochene Dielen stolperten. »Wir lassen es langsam angehen«, erklärte er Ezra. »Ganz langsam und gemütlich.«
Sie hatten es fast aus dem Raum geschafft, als der Strahl seiner Taschenlampe etwas erfasste, das wie die anderen Trophäen an einem der Holzbalken befestigt war. Er musste es beim Eintreten völlig übersehen haben. Carter zerrte Ezra mit sich zu dem Fund und sah, dass es ein Stück Satinstoff war, das im Licht glänzte. Satinstoff am Kragen eines Pyjamas mit Leopardenmuster.
Genau wie bei Beths Lieblingspyjama. Demjenigen, den sie an dem Abend getragen hatte, als ihre Schlafzimmertür blockiert gewesen war und das Fenster zur Feuerleiter weit offen gestanden hatte.
»O mein Gott«, sagte er leise, und Ezra stieß einen Schmerzenslaut aus. Ein Blutstropfen lief ihm aus einem Mundwinkel.
Carter stopfte die Taschenlampe in seinen Gürtel und nahm dann das Kleidungsstück vom Nagel. Er hielt es vor sein Gesicht. Es verströmte immer noch ihren Duft. »O mein Gott«, murmelte er noch einmal und betete, dass es, anders als die anderen Trophäen, ein Symbol für einen unerfüllten Wunsch war und kein Erinnerungsstück.
38. Kapitel
»Ich bin froh, dass du die Party früher verlassen hast«, sagte Abbie, während sie den Wagen auf die Ausfahrt nach Hudson lenkte. »Je eher wir heute Abend ins Bett kommen, desto früher können wir uns morgen an die Arbeit machen.«
Beth starrte aus dem Fenster auf die schwarzen Bäume und Büsche, die jetzt die zweispurige Straße säumten. Sie hatte Mühe, sich auf das zu konzentrieren, was ihre Freundin sagte. Egal, wie sehr sie dagegen ankämpfte, ihre Gedanken kehrten immer wieder zu denselben Punkten zurück. Arius’ Anblick, als er bei der Party auftauchte, den kleinen Blutfleck, den sie selbst jetzt in ihrer Unterhose zu spüren meinte. Wenn sie an die letzten paar Wochen zurückdachte, sah sie nur eine immer höher werdende Flut aus schlechten Nachrichten, Problemen und sogar Tod. Einen Kondolenzbrief an Joes Mutter zu schreiben, gehörte zu den schmerzhaftesten Aufgaben, vor die sie je gestellt worden war.
»Wir werden natürlich auch jede Menge Spaß haben«, sagte Abbie. »In der richtigen Gesellschaft kann es total witzig sein, Vorhänge aufzuhängen.«
»Ich bin sicher, dass es lustig wird«, sagte Beth pflichtschuldig.
»Für diese Vorstellung bekommst du aber nicht gerade einen Oscar«, witzelte Abbie.
Lächelnd wandte Beth sich ihrer Freundin zu. »Tut mir leid, aber die Party hat mich völlig geschafft. Ich muss nur mal eine Nacht richtig gut schlafen. Morgen früh kann ich es vermutlich kaum noch abwarten, loszulegen.«
Abbie tätschelte Beths Handrücken. »Schlaf ruhig, so lange du willst. Selbst Ben, der das Ganze hasst, musste zugeben, dass er da oben wie ein Baby schläft.« Sie wollte gerade hinzufügen, dass Beth aussah, als könnte sie eine ordentliche Portion Schlaf vertragen, aber dann überlegte sie es sich anders. Wer hörte so etwas schon gerne?
Obwohl sie inzwischen ein Dutzend Mal beim Haus gewesen war, war Abbie daran gewöhnt, dass Ben am Steuer oder neben ihr saß, so dass sie nie groß auf die Richtung oder Wegmarkierungen geachtet hatte. Jetzt war es zudem schon dunkel, und sie musste sich konzentrieren und an jeder Kreuzung oder Abbiegung zweimal überlegen. Musste sie hier scharf links abbiegen oder die andere Straße nach links nehmen? Lag die alte Gießerei immer rechts von ihnen, oder waren sie auf der Anliegerstraße quer über das Gelände gefahren? Hin und wieder entdeckte sie etwas Bekanntes, den vertrauten Schriftzug von Quickie Mart auf einem trostlosen Neonschild oder die Tankstelle mit diesen altmodischen Pumpen, wo sie ein paarmal auf dem Rückweg in die Stadt getankt hatten. Dann wusste sie, dass sie auf dem richtigen Weg war. Aber es war nicht leicht, und die Dunkelheit, die sie von allen Seiten umgab, war tiefer und abweisender, als sie es von den vorigen Fahrten in Erinnerung hatte. Im Grunde ihres Herzens musste sie sich eingestehen, dass sie, trotz ihrer Tagträumereien vom einsamen Landleben, nicht oft allein herkommen würde. Zumindest nicht abends.
Als sie schließlich die alte Bahnlinie kreuzten, deren Warnschild von Rost und Einschusslöchern arg in Mitleidenschaft gezogen war, wusste sie, dass sie es fast geschafft hatten. Vorsichtig nahm sie die lange, beeindruckende Kurve eines Hügels und wich dem Schlagloch aus, von dem sie wusste, dass es kommen würde. Sie bremste und schaltete das Fernlicht an, um die Auffahrt zu ihrem Haus zu finden. Sie wurde teilweise von einer riesigen alten Eiche verdeckt, die wie ein gigantischer Wachposten am Anfang des schmalen Hohlwegs stand.
»Mein nächstes Projekt wird irgendeine Lampe sein, damit ich das Haus auch im Dunkeln finde«, sagte Abbie, als sie mit dem Wagen in die Auffahrt einbog.
»Was ist das?«, sagte Beth, gerade als Abbie selbst es erblickte. Ein orangefarbener Straßenkegel stand auf der rechten Seite der Auffahrt. Sie erwischte ihn mit der Stoßstange und stieß ihn in einen tiefen Graben, den sie erst jetzt bemerkte.
»Was ist hier denn los?«, sagte Abbie, riss hektisch den Wagen nach links und hielt an.
»Sieht nach Straßenbauarbeiten aus«, sagte Beth und spähte die Auffahrt hinunter. Der Graben zog sich den ganzen Hügel hinunter und hörte kurz vor dem Haus auf.
»Du hast recht«, sagte Abbie, »das muss die Wasserleitung sein. Sie wird gerade überall hier in der Gegend erneuert.«
»Haben sie euch nicht Bescheid gegeben, dass sie jetzt damit anfangen?«
»Wer liest schon all die Zettel, die man ständig bekommt?« Abbie startete den Wagen erneut. »Ich hoffe nur, dass sie uns nicht das Wasser abgestellt haben.«
Sie fuhren den Rest des Weges hinunter bis zum Haus. Tiefschwarz lag es in der Dunkelheit und war vor den ebenso schwarzen Hügeln dahinter fast nicht zu erkennen.
Abbie bog in die halbrunde Auffahrt ein. Die Reifen knirschten auf dem losen Kies, dann hielten sie neben einem Stapel Baumaterial und einer zusammengeklappten Leiter an. Die Balken und Steine wurden für eine zusätzliche Terrasse an der Rückseite des Hauses gebraucht. Abbie wollte schon die Scheinwerfer ausschalten, überlegte es sich dann aber anders.
»Ich lasse sie an, bis ich das Haus aufgeschlossen habe«, sagte sie, und Beth nickte.
»Können wir nicht die Vorhänge bis morgen im Auto lassen?«, fragte Beth, und dieses Mal stimmte Abbie zu. Keine von ihnen wollte es aussprechen, aber beide wollten nichts anderes, als so schnell wie möglich ins Haus kommen, die Tür hinter sich absperren und jede Lampe im Haus einschalten.
Abbie stieg aus, ließ die Fahrertür offen, obwohl ein leiser Warnton einsetzte, und eilte die Holztreppe empor. Auf der Vordertreppe suchte sie zwischen ihren Schlüsseln, bis sie den richtigen gefunden hatte. Anschließend musste sie ihn noch eine Weile drehen und rütteln, bis das Schloss endlich nachgab und die Tür sich öffnen ließ. Auf der Stelle griff sie nach innen und schaltete die Lampen im Eingang und auf der Terrasse an, ehe sie zum Auto zurückkehrte.
Beth zerrte ihre Taschen von der Rückbank. Gemeinsam trugen sie das Gepäck die Treppe hinauf und ließen es im Foyer fallen. Im Haus war es fast so kalt wie draußen in der Nacht.
»Ich stelle die Heizung an«, sagte Abbie. »Die sollte trotz allem funktionieren. Du kannst ja deine Sachen schon ins Gästezimmer bringen.«
Beth manövrierte sich samt Tasche um die engen Windungen der Wendeltreppe, was nicht ganz einfach war. Das Haus war als einstöckiges Gebäude errichtet worden, und erst einer der späteren Eigentümer hatte den Dachboden ausbauen lassen, so dass die Treppe irgendwie in den bestehenden Grundriss hineingequetscht werden musste. Das Gästeschlafzimmer mit dem angrenzenden Badezimmer und einem eigenen Wohnraum nahm das gesamte Dachgeschoss ein.
Erschöpft warf Beth ihre Tasche auf das mit einem Quilt bedeckte Bett. Sie hatte den Lichtschalter noch nicht gefunden, so dass es im Zimmer immer noch dunkel war. Sie konnte die nackten Zweige in der aufgegebenen Apfelplantage sehen, und dahinter die in Silber getauchten Umrisse der baufälligen Scheune. Ben hatte Witze darüber gemacht, dass sie ihre Nachbarn zu einem Scheunenfeuer einladen könnten, aber Abbie hatte gesagt, dass ihr die Scheune gefiel und dass sie dem Ort Charakter verlieh. In diesem Moment verstärkte sie nur Beths Gefühl, sich am Ende der Welt zu befinden. Wenn die Vorhänge schon hängen würden, hätte sie sie mit einem Ruck zugezogen.
»Sieht so aus, als könntest du doch ein Bad nehmen«, rief Abbie vom Fuß der Treppe. »Der Boiler ist an, und das Wasser läuft.«
»Danke«, rief Beth zurück. Das Haus war so klein, dass man kaum die Stimme heben musste, um verstanden zu werden. »Ich denke, das werde ich auch tun.«
»Ich sehe dich dann morgen früh«, sagte Abbie. »Wer als Erster wach ist, macht die Kaffeemaschine an.«
Beth fand den Lichtschalter und schaltete ihn ein. Dann ging sie zum Fenster, das ein paar Zentimeter offen stand. Sie wollte es gerade schließen, als sie innehielt. Die Nachtluft war zwar kalt, aber auch so frisch und duftend, dass sie den Geruch noch einen Moment genießen musste. Es erinnerte sie daran, wie es nach einem Regenschauer im Wald gerochen hatte, als sie eine Reise durch die Cotswolds unternommen hatte. Sie würde das Fenster einen Spalt offen lassen, um zur Abwechslung einmal bei frischer Luft und ohne Stadtlärm zu schlafen. Zu müde, um ihre Tasche ganz auszupacken, nahm sie nur ihr Nachthemd, den Bademantel und die Toilettenartikel heraus und brachte alles ins Badezimmer, das Abbie und Ben inzwischen hatten renovieren lassen. Jetzt war es mit einem Medizinschränkchen aus geätztem Glas, einem Porzellanwaschbecken mit zwei vergoldeten Wasserhähnen und einer großen hohen Badewanne auf klauenartigen Füßen ausgestattet. Als Beth das heiße Wasser aufdrehte, fiel ihr unglücklicherweise wieder ein, was sie schon beim letzten Mal gestört hatte, als Carter und sie für ein Wochenende hier gewesen waren: Die Badewanne stand direkt vor einem großen Fenster, und es gab weder Vorhänge noch Jalousien.
»Wer soll von einem brachliegendem Feld schon zusehen?«, hatte Carter gefragt, wie Beth sich erinnerte. Außerdem, sagte sie sich, war es fast Mitternacht.
Trotzdem wandte sie sich vom Fenster ab, als die Wanne voll war und sie sich auszog. Sie hätte das Badezimmerlicht ausschalten können, aber nicht heute Abend, nicht hier. Lieber ging sie das Risiko ein, vom unternehmungslustigsten Spanner der Welt entdeckt zu werden, als in einem dunklen Zimmer zu baden.
Sie hängte ihren weißen Bademantel an die Rückseite der Tür und stapelte ihre Kleidung unter dem Waschbecken auf, wobei sie besorgt feststellte, dass ihr Slip tatsächlich blutbefleckt war. Anschließend fuhr sie mit einem Finger durch das Badewasser. Wenn es noch heißer wäre, würde sie schmelzen. Sie legte ein paar zusammengelegte Handtücher auf den Toilettensitz neben der Badewanne und stieg, nachdem sie den Kaltwasserhahn etwas weiter aufgedreht hatte, in die Badewanne. Das Wasser war tief, und als sie sich hinsetzte, reichte es bis über ihre Knie. Sie ließ sich weiter einsinken, und das Wasser stieg höher, über ihren Bauch und ihre Brüste. Vorsichtig lehnte sie den Kopf gegen das immer noch kalte Email.
Entspann dich,sagte sie sich. Versuch einfach, dich zu entspannen.
Aber genauso gut hätte sie auf einen Gefangenen auf dem Weg zum Galgen einreden können. Noch immer schwirrten ihr tausend Dinge im Kopf herum. Sie musste Carter anrufen, sobald sie aus der Wanne raus war, und sei es nur, um eine Nachricht zu hinterlassen, dass sie wohlbehalten angekommen waren. Und morgen früh sollte sie bei der Galerie anrufen, um sich für ihr frühes Verschwinden von der Party zu entschuldigen. Sie müsste sogar Bradley Hoyt anrufen, um ihm für seine Deckung zu danken.
Und schließlich sollte sie den Gynäkologen anrufen und sich einen Termin geben lassen, um die Blutung untersuchen zu lassen. Es war nicht nötig, Dr. Weston damit zu behelligen. Wahrscheinlich hatte sie sich nur irgendeine Infektion eingefangen, das hatte sie schon einmal gehabt. Ein Antibiotikum würde genügen, und die Sache käme wieder in Ordnung. Aber bis dahin war es nur noch ein Problem mehr, um das sie sich Sorgen machen würde.