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Insel der Freibeuter
  • Текст добавлен: 29 сентября 2016, 02:31

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Автор книги: Alberto Vazquez-Figueroa



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»Wenn ihre Pulverkammer nicht in zehn Minuten hochgeht, gehören sie uns«, stellte Lucas Castano klar.

Im sicheren Abstand von zwei Meilen kreiste die Jacare um Ihre Beute, die jeden Augenblick in die Luft fliegen konnte, doch trotz der gewaltigen Packung, die ihr der Feind verpaßt hatte, konnte die Besatzung der Galeone das Feuer löschen. Eine halbe Stunde später lag die Karibik wieder in tiefer Dunkelheit.

»Was nun?« wollte Sebastián wissen.

»Abwarten.«

Bis zum Morgengrauen war noch eine Stunde Zeit, daher begab sich Sebastian unter Deck, wo sein Vater fast die ganze Nacht über verbracht hatte. Abwesend wie üblich hatte er die Schlacht nicht zur Kenntnis genommen, die sich über seinem Kopf abgespielt hatte.

»Wir haben gewonnen«, war das erste, was Sebastián sagte.

»Jemand hat verloren«, lautete die lakonische Antwort seines Vaters.

»Sie haben uns angegriffen.«

»Die Piraten sind wir.«

»Und wenn sie uns versenkt hätten?«

»Wäre schade um dich gewesen.«

Mit der Jacare unterzugehen hätte für Miguel Heredia Ximénez ganz offensichtlich nur das Ende seiner Leiden bedeutet. In Wahrheit war es ihm völlig gleichgültig, ob eine Schlacht, von der er ohnehin wußte, daß sie ihm seine Familie nicht zurückbrachte, gewonnen oder verloren wurde.

Schweigend blieb Sebastián neben seinem Vater sitzen, bis dieser den Kopf wieder auf das Kissen legte, die Augen schloß und bald gleichmäßige Atemzüge vernehmen ließ. Als der Junge an Deck zurückkehrte, war Backbord das erste Tageslicht zu erkennen.

Grau und ruhig war das Meer, sanfter Nieselregen fiel von einem bedeckten Himmel, und in der Ferne trieb eine schmutzige Galeone wie ein rauchgeschwärzter Korken manövrierunfähig auf dem Wasser.

Die Masten schienen verbrannt, kein Mastbaum war mehr an Ort und Stelle, und die einst schmucken Segel waren nur noch düstere Fetzen.

Noch einmal umkreiste die Jacare wie ein Raubvogel ihre todgeweihte Beute, dann ließ Kapitän Jack einen Warnschuß abfeuern.

Unmittelbar darauf wurde eine riesige weiße Fahne geschwenkt.

Die Jacare ließ ihre beste Schaluppe zu Wasser, mit der Lucas Castano und acht bis an die Zähne bewaffnete Männer zur Vendaval übersetzten.

Ohne Widerstand ließ man sie an Bord kommen. Erst als der Panamese ein Zeichen gab, daß alle Kanonen entladen waren, machte man sich daran, den Feind zu entern.

Als Sebastian schließlich das verwüstete Deck betrat, mußte er zu seiner Verblüffung feststellen, daß ihn ein halbes Dutzend schreckensbleicher Frauen und eine Kinderschar vom Achterkastell aus betrachteten.

»Gütiger Gott!« rief er aus. »Die haben mit Frauen und Kindern an Bord eine Schlacht angefangen. Nicht möglich!«

Die übrige Besatzung der Jacare schien ähnlich fassungslos zu sein. Schließlich wollte der Schotte mit ärgerlicher Stimme wissen:

»Wer ist der Kapitän?«

Drei Männer deuteten auf eine der Leichen, die unter dem Achterkastell aufgereiht waren.

»Der Längste.«

Lucas Castano trat heran, musterte den Toten genau, drehte ihn um, bis dessen aufgerissene Augen in den Himmel starrten, dann schloß er sie mit verblüffender Gelassenheit. Ein ums andere Mal schüttelte er den Kopf, bis er sich schließlich aufrichtete und reichlich sarkastisch kommentierte:

»Merkwürdige Leiche, bei Gott! Hat die Brust voller Blei, doch sein wertvolles Hemd hat überhaupt nichts abbekommen.« Streng musterte er die Anwesenden und beharrte schließlich drohend auf seiner Frage: »Wer ist der Kapitän?«

Ein beleibter Mann mit zerfetztem schmutzigen Hemd und schwarzer Klappe über dem linken Auge trat vor.

»Das bin ich… Kapitän Rui Santos Pastrana, Marques de Antigua, im Dienste Ihrer Gnädigen Majestät.«

»Deine Gnädige Majestät kann mich mal kreuzweise«, entgegnete der Schotte mit beträchtlicher Schärfe in der Stimme.

»Und noch weniger kann ich ausstehen, daß mich jemand angreift, ohne vorher die Kriegsflagge zu hissen.« Er näherte sich seinem Gegenüber und hob dessen Augenklappe an, um sicherzugehen, daß er wirklich einen Einäugigen vor sich hatte. »Weißt du, welche Strafe die Seegesetze für eine solche Niedertracht vorsehen?«

»Im Kampf gegen Gesetzlose gibt es keine Vorschriften«, gab der Spanier mit augenfälliger Verachtung zurück. »Meine Befehle lauten, jedes Piraten– oder Korsarenschiff zu versenken, das meinen Weg kreuzt.«

»Tja, Pech gehabt, du Tölpel. Daß du ein schmutziger hinterhältiger Latino bist, reicht allein, um dich aufzuknüpfen, aber weil du dabei auch noch das Leben Unschuldiger in Gefahr bringst, hast du es wirklich verdient.« Der Schotte gab drei seiner Männer einen Wink und knurrte: »Hängt ihn auf!«

»Nein…!« Eine der Frauen, die die Szene verfolgt hatten, stürzte die kleine Treppe hinunter, warf sich Kapitän Jack zu Füßen und heulte wie von Sinnen: »Nein, Senor, um Gottes willen, tötet ihn nicht!« Sie drehte sich um und deutete auf die Kinderschar. »Was soll aus meinen Söhnen werden?«

»Eure Söhne?« gab der Angesprochene höchst verblüfft zurück. »Soll ich vielleicht glauben, Senora, daß es dieser Idiot gewagt hat, sich mit seiner Frau und seinen Kindern an Bord auf ein Piratenschiff zu stürzen?«

»So ist es, Senor. Die zwei kleinsten sind unsere Söhne. Ich flehe euch an!« Alle blickten auf die zwei kleinen Knaben, die noch keinen Meter groß waren und das Schauspiel mit schreckensweiten Augen verfolgten.

Zum ersten Mal, seit er ihn kannte, erlebte Sebastián Heredia einen wirklich fassungslosen Kapitän Jack. Einen Augenblick zögerte der Schotte, schließlich aber ging er auf die Knaben zu, hockte sich zu dem Kleinsten und musterte ihn streng.

»Ist er wirklich euer Vater?« wollte er wissen.

Der Junge nickte.

»Und wie heißt er?«

»Papa.«

Der Glatzkopf verharrte einige Zeit, bis er schließlich einen tiefen Seufzer ausstieß.

»Ein guter Name, bei Gott! Der beste, den es gibt.« Er nahm den Kleinen beim Kinn und zwang ihn, den Kopf zu heben. »Weißt du was, du Knirps? Wenn du geantwortet hättest, Rui Santos Pastrana, Marques de Antigua, wärst du in fünf Minuten eine Waise gewesen. Aber einen >Papa< kann man nicht einfach aufhängen.« Er richtete sich mühsam auf, musterte alle Anwesenden der Reihe nach und wandte sich schließlich Lucas Castano zu. »Schlag ihm die rechte Hand ab, damit man ihm nicht noch einmal das Kommando über ein Schiff gibt. Anschließend bekommt jeder Mann an Bord zwanzig Peitschenhiebe. Mit den Frauen könnt ihr machen, was ihr wollt, aber mißhandelt sie nicht. Alles von Wert schafft ihr auf die Jacare, denn wenn es dunkel wird, brechen wir auf.«

»Keiner rührt das Mädchen an!«

Alle drehten sich perplex um und schauten Miguel Heredia Ximénez an, der mit einer großen und scharfen Machete an der Reling stand. An seiner Entschlossenheit konnte kein Zweifel bestehen, und seine Augen funkelten, während er auf ein etwa 13jähriges Mädchen in der Frauenschar zeigte.

»Potztausend«, rief Kapitän Jack belustigt aus. »Du kannst ja sprechen! Was bist du doch für ein schweigsamer Kerl gewesen! Doch das sage ich dir, ein Kind ist die nicht mehr. Eigentlich ist sie die einzige Frau, die etwas taugt.«

»Sie muß so alt sein wie meine Tochter«, lautete die unbeirrte Antwort. »Und wer es wagt, sie anzurühren, den kastriere ich! Ihr seid gewarnt!«

Der Schotte musterte ihn, blinzelte spöttisch mit den Augen, dachte einige Sekunden nach und zuckte mit der Schulter.

»Also gut! Da es das erste ist, worum du mich bittest, und weil mir die Idee nicht gefällt, eine Bande von Kastrierten zu befehligen, gewähre ich dir diesen Wunsch unter der Bedingung, daß du in den nächsten fünf Jahren den Mund nicht mehr aufmachst.« Damit schien die Diskussion für ihn beendet zu sein. Er nahm die schluchzende Marquesa de Antigua am Handgelenk und schleifte sie in seine Kajüte auf der Jacare, während er kundgab: »Ach, ist das manchmal schwer, Senora, ein Pirat zu sein! So schwer!«

Die Frau folgte ihm, während sie sich die Tränen abwischte. Kein Opfer, mit dem sie das Leben des törichten Vaters ihrer Kinder retten konnte, schien ihr zu schwer. Miguel Heredia stieg zum Achterkastell hinauf und baute sich mit gut sichtbarer Machete neben dem Mädchen auf.

Lucas Castano drückte Sebastian seine zwei schweren blitzenden Pistolen in die Hand und deutete nach oben.

»Geh mit ihm! Hier gibt es manchen Hurensohn, der es riskiert, sich kastrieren zu lassen, wenn es um eine gute Jungfrau geht. Ich hab zu tun!«

Er hatte wirklich eine so schwere Arbeit vor sich, daß er um Hilfe bitten mußte. Es war weder leicht noch angenehm, einem Mann kaltblütig die Hand abzuschlagen und anschließend einer ganzen Besatzung ein »kariertes Hemd« auf den Rücken zu malen.

Mit gezückten Waffen stellte sich Sebastián Heredia Matamoros neben seinen Vater und betrachtete das stumme Schauspiel. So brutal ihre Strafe auch war, keines der Opfer ließ auch nur ein Jammern hören. Auch die Frauen ließen sich wie Lämmer in die Offizierskajüten führen. Dort wartete praktisch die gesamte lüsterne Besatzung der Jacare darauf, an die Reihe zu kommen.

Als sich Lucas Castano am Nachmittag seine Pistolen zurückholte, beschränkte sich Sebastián auf ein Murmeln:

»Es ist nicht gerecht.«

Der Panamese musterte ihn erstaunt.

»Doch, Junge, das ist gerecht! Wenn diese Fettsäcke uns besiegt hätten, wären wir jetzt nur noch Fischfutter. Wenn wir die schwarze Flagge hissen und der Feind sich ergibt, dann respektiert der Kapitän die Gesetze, und keiner wird bestraft, geschändet oder getötet.« Er spuckte aus, um seiner ganzen Verachtung Nachdruck zu verleihen. »Aber wenn sie ein schmutziges Spiel mit ihm treiben, dann zahlt er ihnen mit gleicher Münze heim, und das kann er stets besser.«

Er ließ sich an einem dicken Tau zum Deck der Jacare hinab, und der Junge beließ es dabei, seinen Vater anzusehen.

»Was meinst du dazu?« wollte er wissen.

»Daß er recht hat.«

Nun wandte sich Sebastian dem bleichen Mädchen zu, das keinen Mucks gemacht hatte, als hoffte es dadurch unsichtbar zu werden. Die gelbe Pfütze zu ihren Füßen verriet jedoch nur zu deutlich, wie wenig sie ihr Entsetzen hatte beherrschen können.

»Wie alt bist du?« wollte der Margariteno wissen.

Erst nach einer Ewigkeit schien die einfache Frage das Hirn des schreckensstarren Geschöpfs erreicht zu haben, das schließlich stotterte:

»Vierzehn.«

»Woher kommst du?«

»Aus Cuenca.«

»Und wohin fährst du?«

»Nach Puerto Rico.«

»Mein Vater hat ein Gasthaus in San Juan. Ich fahre zu ihm, weil meine Mutter gestorben ist.«

Der Junge betrachtete das magere Mädchen, das so blaß geworden war, als wolle es gleich in Ohnmacht fallen, und plötzlich ging ihm der Gedanke durch den Kopf, ob seine Schwester wohl ähnlich aussehen mochte. Bald jedoch war ihm klar, daß bei aller Zeit, die vergangen war, die rebellische Celeste sich nicht in ein so verletzliches und zerbrechliches Wesen verwandelt haben konnte.

Mit einem Stein in der Hand nahm es Celeste mit jedem Jungen auf, und eines war dem Margariteno klar: Unter keinen Umständen hätte sie sich in die Hose gemacht.

Celeste hatte Mumm.

Verdammt viel Mumm.

Das schreckensbleiche Mädchen hier war nicht gerade schön und wohl noch nicht einmal eine Frau, doch gab es da etwas in ihrer Hilflosigkeit – vielleicht ihre riesigen und angsterfüllten grauen Augen –, das einen brutalen Seewolf dazu verleiten konnte, sie an der schmalen Taille zu packen und in die entlegenste Kajüte zu zerren. Wie Lucas Castano zu versichern pflegte: Jungfräulichkeit war ein seltenes Gut und daher um so begehrter.

Als die Sonne langsam am Horizont verschwand, ließ Jacare Jack die in ein schmutziges Bettuch gehüllte Marquesa auf das Schiff ihres Ehemanns springen und brüllte mit einer Stimme, die er für besondere Gelegenheiten aufsparte:

»Wer nicht in fünf Minuten an Bord ist, landet in San Juan de Puerto Rico!« Er machte eine kleine Pause: »Oder am Galgen!«

Auf der Galeone gab es nichts mehr, was nur einen Heller wert gewesen wäre. Als sich die beiden Schiffe endlich trennten, war sie nur noch ein trauriger Schatten ihrer selbst.

Die Männer der Vendaval fluchten leise, während sie sich gegenseitig ihre blutigen Striemen auf den Schultern behandelten. In der Zwischenzeit versuchten sich die Frauen gegenseitig zu trösten, daß sie klaglos hatten ertragen müssen, von einer ganzen Bande wilder Bestien bis zur Erschöpfung für deren lüsterne Spiele benutzt worden zu sein.

Kurze Zeit später wurde der Kapitän »madig«: im wahrsten Sinne des Wortes.

Niemand wußte genau, warum, doch brach bei ihm eine eiternde Wunde nach der anderen auf, und obwohl man ihn mit unzähligen Tinkturen und Salben einrieb, konnte niemand verhindern, daß nach einer gewissen Zeit weiße Maden im geschwollenen und übelriechenden Fleisch wimmelten. Man hätte an einen merkwürdigen Kadaver denken können, der sich schon für die Fäulnis entschieden hatte, während er noch reden und fluchen konnte.

»Das muß diese verdammte Marquesa gewesen sein!« knirschte er ein ums andere Mal mit den Zähnen, während der geschickte Portugiese Manoel Cintra, der bisweilen an Bord den Arzt spielte, seine schmerzhaften und nutzlosen Salben auftrug. »Die verdammte Hure muß verfault gewesen sein!«

Ob es nun eine Geschlechtskrankheit oder ein unbekannter tropischer Parasit war, der in seinen Wunden Eier abgelegt hatte: Der bislang so spöttische und mutige Pirat verwandelte sich vor aller Augen in ein empfindliches und furchtsames Geschöpf, das sich offen gegen die Vorstellung wehrte, bei lebendigem Leib von derart widerwärtigen Kreaturen verschlungen zu werden.

»Daß sie mich mal beim Entern umbringen, damit habe ich stets gerechnet«, sagte er. »Selbst daß sie mich aufhängen, wenn sie es schaffen, mich zu fangen. Das ist schließlich ein glorreiches Ende für einen Seeräuber wie mich. Aber lebendig zu verfaulen… Bei Gott, das hätte ich mir nicht träumen lassen!«

Als Sebastian wissen wollte, was an einem Tod am Galgen »glorreich« sein könnte, gab der übelgelaunte Kapitän bissig zurück:

»Ohne die Gefahr, am Galgen zu enden, würde sich jeder Hungerleider zum Piraten aufschwingen, und in der Karibik würde es vor Feiglingen wimmeln. Wer bereit ist zu töten, sollte vor allem auch bereit sein zu sterben…« Er deutete auf seine Wunden: »Aber so nun auch wieder nicht.«

Ein gequälter Mann, der keine Nacht mehr schlafen konnte, und tagsüber vor Schmerzen auf seine Pfeife biß, war nicht mehr in der Lage, eine Mannschaft unerwünschter Glücksritter zu befehligen. Nach einer weiteren grauenvollen Nacht war der Kapitän offensichtlich zur Überzeugung gelangt, daß ihm die Situation aus den Händen glitt. Er befahl den Jungen aus Margarita in die Achterkajüte, bedeutete ihm, die Türe hinter sich zu schließen, und kam ohne Umschweife zur Sache:

»Ich werde dir eine schwierige Mission anvertrauen.«

»Wie Ihr befehlt, Kapitän.«

»Manoel Cintra sagt, daß mich nur ein Mensch auf der Welt heilen kann: ein Arzt aus Cartagena de Indias. Fahr dorthin und schaff ihn mir her.«

»Und wie überrede ich ihn dazu?«

»Wie man alle Welt überredet: mit Geld.« Er nahm die Hand des Jungen und drückte sie fest. »Biete ihm, was er verlangt, aber bring ihn her zu mir, denn diese verdammten Mistviecher bringen mich um!«

Der Junge musterte sein abgemagertes, welkes Gegenüber, in dem sein alter Kapitän nicht wiederzuerkennen war, und fragte schließlich:

»Warum habt Ihr mich ausgewählt? Warum schickt Ihr nicht Lucas Castano? Nach allem, was man mir erzählt hat, kennt er Cartagena de Indias sehr gut.«

»Weil ich ihn hier brauche, um die Disziplin an Bord aufrechtzuerhalten.« Er schnitt eine bittere Grimasse. »Und weil du der Schlaueste bist.«

»Danke!«

»Keine Ursache!« Wie ein Haken zeigte sein Finger auf ihn. »Denk dran, ich habe aber auch noch einen dritten Grund, dich auszuwählen.«

»Und der wäre?«

»Dein Vater«, entgegnete der Schotte mit größter Selbstverständlichkeit. »Er bleibt an Bord, und wenn du mich verrätst, wird er die Hölle auf Erden erleben. Du weißt, wozu ich fähig bin.«

»Solche Drohungen sind unnötig«, lautete die traurige Antwort. »Ich bin Euch zu größtem Dank verpflichtet.«

»Die Friedhöfe sind voller Leute, die auf fremden Dank vertrauten. Manche halten einen guten Faustschlag für den besten Dank.«

»Ich nicht.«

»Das will ich hoffen, doch nur für den Fall, daß du deine Meinung änderst, bleibt dein Vater, wo er ist.« Er tätschelte ihm freundlich den Unterarm. »Und jetzt sag Lucas, daß er Kurs auf Cartagena nehmen und dir erklären soll, so gut er kann, was du dort zu tun hast.«

Sechs Tage später gingen sie zwischen den Islas del Rosario vor Anker, einem wunderschönen Archipel mit kristallklarem Wasser, traumhaften Stränden und winzigen paradiesischen Inseln. Nachdem er eine Schaluppe zu Wasser gelassen und diese bis zum Bordrand mit verschiedenen Fischen gefüllt hatte, wies der Panamese nach Westen.

»Wenn du vier Stunden die Küste entlangsegelst, wirst du eine riesige Bucht mit zwei Festungen entdecken. Fahr ohne Furcht hinein und nimm Kurs auf den Fischerhafen. Du findest ihn zur Linken eines Klosters, das auf einem Berg liegt, den sie Popa nennen. Den siehst du schon von weitem. Verkauf alle Fische, doch denk dran, in den Eingeweiden des Zackenbarschs sind die Perlen. Geh mit ihm an Land, als ob du ihn abliefern müßtest, und lauf geradewegs auf einen Turm zu. Dort fragst du nach dem Haus des Juden Isaias Toledo. Alle Welt kennt ihn dort.«

Sebastian Heredia Matamoros befolgte alle Ratschläge der Nummer Zwei an Bord aufs Genaueste, wenn ihm auch das Herz bis zum Halse schlug, als er an den drohenden Kanonen und den aufmerksamen Wachposten der Festungen San Jose und San Fernando vorbei in die weite Bucht einfuhr, in der die Geschwader der ganzen Welt Platz gefunden hätten.

Als er anschließend Kurs auf die Stadt nahm, die sich im Westen erhob, und sich dem weißen Häusermeer näherte, konnte er angesichts der majestätischen Festung von San Felipe sein Staunen nicht unterdrücken. Das Fort beherrschte die Stadt völlig und war zweifellos das großartigste militärische Bauwerk, das je ein Architekt entworfen hatte.

Das so gefürchtete kleine Fort La Galera, in dessen Schatten er auf die Welt gekommen und aufgewachsen war, erschien ihm angesichts dieser hohen und dicken Mauern wie eine Hundehütte. Hätte man die unzähligen Kanonen, mit denen die gestaffelten Mauern gespickt waren, gleichzeitig abgefeuert, wäre wahrscheinlich auf jeden Quadratmeter der Bucht eine Kugel gestürzt.

Cartagena de Indias war die wunderschöne Stadt, in der jedes Jahr die unendlichen Schätze aus allen Winkeln des Kontinents lagerten, bis sie mit der Großen Flotte nach Sevilla gebracht wurden. Die Baumeister von vier Generationen spanischer Könige hatten die Stadt zum damals gewaltigsten »Tresor« der Menschheit ausgebaut, so stolz und uneinnehmbar, daß die Tatsache, im ruhigen Wasser der Bucht zu segeln, für sich allein ein unvergeßliches Erlebnis war.

Die Meerseite der Zitadelle war von bis zu zwanzig Meter dicken, mit Geschützen gespickten Mauern unterstützt, und als ob das nicht ausgereicht hätte, machten die schweren Kanonen von San Felipe mit ihrer langen Reichweite jedem Träumer deutlich, daß er anstelle von Cartagena de Indias ebensogut die Holle hätte angreifen können.

Tausende von Gefangenen hatten über ein Jahrhundert lang Tag und Nacht geschuftet, damit sich die Steinblöcke mit mathematischer Präzision ineinanderfügten. Niemand wußte genau, wie viele Geheimkammern sich im Labyrinth der Gänge verbargen, die in die Eingeweide der Erde führten, bis in die fernen Gewölbe des Dominikanerklosters.

Die Festung San Felipe war in Wahrheit eine zweite Stadt in der Stadt, eine unüberwindliche Zuflucht, falls die übrigen Verteidigungsanlagen nicht ausgereicht hätten. In den tiefsten Verliesen lagerte man über Monate hinweg die Schätze, bis sie nach Spanien eingeschifft wurden.

Der Hafen pulsierte vor Leben und Hektik, so daß niemand Notiz von der Ankunft eines kleinen Fischerboots zu nehmen schien. Nachdem er seine Ware unter Wert verkauft und nur soviel gefeilscht hatte, daß er keinen Argwohn erregte, packte Sebastián Heredia den schwarzen Zackenbarsch in einen alten Sack und machte sich ohne Hast auf den Weg zum Turm, der die Hafeneinfahrt beherrschte.

Eine halbe Stunde später betätigte er den Klopfer einer schweren Tür am Ende einer engen Gasse, einen Steinwurf vom Gouverneurspalast entfernt, und sofort öffnete ihm ein indianischer Diener. Nachdem er den Besucher von Kopf bis Fuß gemustert hatte, ließ er ihn in einen schattigen Innenhof eintreten, in dem ein Dutzend bunter Papageien plapperte.

»Meister Isaias ist nicht da«, war alles, was er sagte. »Aber seine Schwester wird Euch empfangen.«

Kurz darauf erschien eine Frau mit dem blassesten Teint und den blondesten Haaren, die der Margariteno je gesehen hatte. Zwar war sie nicht unbedingt schön, doch mit ihrer Art zu sprechen und sich zu benehmen zog sie unweigerlich die Aufmerksamkeit auf sich. Kein Zweifel: Sie war ein einzigartiges Geschöpf, das mit den Frauen der Karibik wenig oder gar nichts gemein hatte.

Sie musterte den Neuankömmling mit einer merkwürdigen Mischung aus Interesse und Mißfallen angesichts seines unordentlichen Aussehens. Meister Isaias sei auf Reisen, wiederholte sie, doch auch ihre medizinischen Kenntnisse reichten aus, um jeder Bitte zu entsprechen.

»Seit Jahren arbeite ich mit meinem Bruder zusammen. Wie kann ich Euch helfen?«

Mit dieser Situation hatte der Junge nun überhaupt nicht gerechnet. Dabei verwirrte ihn weniger die Tatsache, daß die Person, die er sprechen wollte, nicht anwesend war, sondern daß er nicht die geringste Ahnung hatte, wie er sein Problem einer Frau erklären sollte.

»Ich kann ja wiederkommen«, murmelte er schließlich.

»Mein Bruder bleibt vielleicht noch länger fort«, lautete die unwirsche Antwort. »Wenn Ihr krank seid, solltet Ihr mir lieber so schnell wie möglich sagen, was Euch fehlt.«

»Nein! Ich bin nicht krank«, beeilte sich der Junge mit der Antwort. »Es geht nicht um mich.«

»Um wen dann?«

Sebastian zögerte.

»Um einen Verwandten«, sagte er schließlich. »Jemand, der schnelle Hilfe nötig hat.«

»Welche Symptome hat er?«

»Würmer.«

»Würmer?« entgegnete die seltsame Frau, ein wenig überrascht. »Was für Würmer? Doch nicht etwas sututus, oder?«

Jetzt war die Verblüffung auf Sebastiáns Seite. Wieder einmal schaute er in die beunruhigenden und fast durchsichtigen Augen, bis er schließlich mit den Schultern zuckte.

»Keine Ahnung, was ein sututu ist.«

»Winzige Larven, die einige Urwaldfliegen auf der Rückenhaut ablegen. Lebt Euer Verwandter im Urwald?«

Der Margariteno schüttelte den Kopf.

»Auf dem Meer. Und es sind keine winzigen Larven, sondern große dicke Würmer, die am ganzen Körper aus stinkenden Wunden kriechen… Einfach widerlich!«

»Aha…!«

Die Frau setzte sich auf eine Steinbank, streckte den Arm aus, auf dem ein riesiger roter Papagei Platz nahm. Mit einer Geste verwies sie ihren Besucher auf eine benachbarte Bank, blieb einen Augenblick stumm und dachte angestrengt darüber nach, während sie den Kopf des Vogels streichelte, ob ihr solche Symptome schon einmal untergekommen waren.

»Seltsam«, murmelte sie schließlich, als spräche sie mit sich selbst. »Sehr merkwürdig für einen Seemann.« Ratlos schüttelte sie den Kopf. »Wie alt ist er?«

»45 Jahre, vielleicht fünfzig. Genau weiß ich es nicht.«

»Muß ja ein ziemlich entfernter Verwandter sein, wenn Ihr nicht mal sein Alter wißt, doch das ist nicht mein Problem.« Sie blickte ihm so tief in die Augen, als wollte sie seine Gedanken lesen. »Ist er in Europa oder Westindien geboren?«

»In Europa.«

»Und wo dort?«

»Irgendwo im Norden…« lautete die zögerliche Antwort Sebastiáns, der nicht zuviel verraten wollte. »Wo genau, weiß ich nicht.«

Die Frau ließ den Papagei auf einen Ast flattern, musterte ihr Gegenüber erneut mit ihrem durchdringenden Blick und murmelte schließlich mit absoluter Ruhe, wobei sie ihn duzte:

»Ich hab allmählich den Verdacht, daß du zu einem jener Piratenschiffe gehörst, die oft die Küste heimsuchen. Oder schlimmer noch, zu einem Korsarenschiff. Doch das spielt keine Rolle. Was mich interessiert, sind die Patienten, nicht ihr Beruf…« Sie lächelte ein wenig, und ihr Lächeln war wirklich sehr anziehend. »Pirat oder Korsar?«

»Pirat.«

»Besser so. Wenn ich ehrlich sein soll, die Scheinheiligkeit der Korsaren ist mir zuwider. Nun gut! Ich werde mich eingehend mit der Krankheit deines >Verwandten< beschäftigen. Wann kann ich ihn sehen?«

Der Junge schüttelte heftig den Kopf.

»Unter keinen Umständen setzt der Kapitän einen Fuß an Land. Wenn er die Wahl zwischen Galgen und Würmern hat, zieht er die Würmer vor.«

»Abwarten«, lautete die ironische Antwort. »Wenn die Dinge so sind, wie sie sind, wird ihm die Schlinge bald lieber sein.« Langsam stand sie auf, als wollte sie das Gespräch damit beenden. »Ich brauche zwei Tage, um die Bücher zu konsultieren und zu sehen, was sich machen läßt.«

»Und wer garantiert mir, daß bei meiner Rückkehr nicht die Soldaten auf mich warten?«

Sein Gegenüber sah ihn abschätzig an, als könnte sie es nicht fassen, daß jemand sie des Verrats für fähig hielt.

»Raquel Toledo«, antwortete sie schließlich ziemlich bitter. »Was du mir gesagt hast, ist so, als hättest du es einem Priester anvertraut. Zwar kann ich die nicht unbedingt leiden, doch ein Geheimnis können sie hüten. Genieß die Stadt, aber bitte unauffällig, und komm in zwei Tagen wieder.«

Sebastian Heredia zog ein scharfes Messer aus dem Gürtel, schnitt den Barsch auf, zeigte eine Handvoll schöner kichererbsengroßer Perlen vor und legte fünf auf die Steinbank.

»Das ist Euer Vorschuß. Den Rest bekommt Ihr, wenn der Kapitän geheilt ist.«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich ihn heilen werde«, lautete die trockene Antwort. »Nur, daß ich es versuchen werde. Und jetzt ab mit dir.« Als der Junge schon fast am großen Portal angelangt war, rief sie ihn zurück und fügte hinzu: »Und das nächste Mal kommst du bitte am Abend. Man muß ja nicht unbedingt sehen, wie ein Pirat am hellichten Tage bei mir aus – und eingeht.« Sie zeigte ein schelmisches Lächeln. »Obwohl du, ehrlich gesagt, eher wie ein Klosterschüler als wie ein Pirat ausschaust.«

Verwirrt bis gekränkt verließ der Margariteno das große Haus. Noch immer wußte er nicht so recht, was in dem schattigen Innenhof voller krächzender Papageien geschehen war.

Er hatte erwartet, einem alten Juden mit langem Bart und Hakennase zu begegnen, vielleicht so einem wie dem Ladino Samuel, dem Geldverleiher von La Asuncion, den sein Vater mehr als einmal hatte aufsuchen müssen, wenn die Perlenfischerei nicht den erhofften Gewinn abwarf. Doch hier hatte er es mit einer beunruhigenden und überraschenden Frau zu tun, die ihr Leben lang auf eigenen Beinen gestanden hatte.

Abgesehen von den einfachen Dorfbewohnern von Juan Griego hatte Sebastián Heredia nur mit den fröhlichen und schamlosen Huren der »Winterquartiere« zu tun gehabt. Und wenn er ehrlich war, mußte er zugeben, daß er sich nie hätte träumen lassen, daß eine Frau Bücher lesen, etwas von Medizin verstehen und so selbstbewußt sprechen könnte wie Raquel Toledo.

Nicht die Tatsache, daß er eine Ärztin vor sich hatte, die ihn gleichzeitig anzog und abstieß, auch nicht ihr charmanter exotischer Akzent, sondern ihre nicht vorgeschützte, sondern tatsächliche Überlegenheit ließ den armen Perlenfischer aus Margarita, der zum Piraten geworden war, darüber nachdenken, welch unergründliche Kluft zwischen seiner eigenen Welt und der eines so einzigartigen Geschöpfs bestand.

Er nahm auf einer Mauerböschung des weiten Palmenstrands Platz und fragte sich, ob jene Raquel Toledo, Schwester eines konvertierten Juden und selbst Jüdin, die zum Christentum übergetreten war, nicht in Wahrheit eine jener gefürchteten Hexen war, von denen man sich an Bord der Jacare in den langen Mußestunden so viel erzählte.

Sie konnte lesen, glaubte nicht an Jesus, konnte geheimnisvolle Tränke gegen eklige Würmer zubereiten und hatte darüber hinaus zwei beunruhigende Augen und hellblondes, fast weißes Haar. Ohne Zweifel konnte man sie viel eher als echte Hexe ansehen als all die anderen Geschöpfe, von denen der arme Junge in seinem kurzen Leben gehört hatte.

»Gefällt mir nicht«, murmelte er schließlich in sich hinein. »Gefällt mir überhaupt nicht.«

Längere Zeit hing er seinen Gedanken nach, bis ihn der Hunger packte und er sich ohne Hast auf die breite Esplanade am Hafen begab. Dutzende Frauen priesen dort mit lauter Stimme alle möglichen zubereiteten scharfen Speisen an, als hätte man in der unglaublichen Hitze der Stadt, in der sich kein Lüftchen regte, nicht schon genug geschwitzt.

Mit einem Beutel voller Geld und unendlicher Neugier stürzte sich der Junge aus Margarita bald in den Schlund der heißesten, lebendigsten und pulsierendsten Stadt der Karibik. Sie war das Herz einer Neuen Welt und seit dem Niedergang von Santo Domingo die inoffizielle Hauptstadt des Kontinents.

In Cartagena de Indias strömten nicht nur die Reichtümer, sondern auch die überaus unterschiedlichen Menschen aus allen Winkeln des spanischen Weltreichs zusammen. Auf den weiten Plätzen und in den beschaulichen Gassen liefen halbnackte Indianer mit Federschmuck herum, während elegante Fräulein ihre zarte Haut mit riesigen, reich bestickten Sonnenschirmen schützten, die sie in einem gleichmäßigen Rhythmus drehten.

Kapitäne in spanischem Sold, Seeleute, Schreiber, Pfarrer, Mönche, Händler, schwarze Sklaven, aufgeputzte Freudenmädchen, Mischlinge und Tagelöhner: Vom Sonnenaufgang bis kurz nach Mittag war es ein einziges Kommen und Gehen. Dann leerten sich die Straßen wie durch Zauberhand, denn in der drückenden Hitze des frühen Nachmittags wagte sich nicht einmal der mutigste Straßenköter in die pralle Sonne, die einem das Hirn wegschmolz.

Drei Stunden lang war die lebendigste Stadt der Karibik wie ausgestorben. Zumindest schlief sie, und unter den schattigen Kapokbäumen der Parkanlagen und Plätze schnarchten alle, die keinen geeigneteren Platz für ihre wohlverdiente Siesta hatten finden können.

Wenn die Sonne schließlich die Palmen der Insel Baru, welche die Bucht im Osten abschloß, zu streicheln begann, erwachte Cartagena in der ersten Brise des späten Nachmittags zu neuem Treiben, das noch frenetischer war als in den ersten Morgenstunden.


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