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Insel der Freibeuter
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Автор книги: Alberto Vazquez-Figueroa



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Das soll nicht heißen, daß sich nicht bisweilen einige der skrupellosesten Piraten auf die Seite der Korsaren schlugen und mit ihnen gemeinsam eine mächtige Flotte oder eine Festung angriffen. Stets war jedoch klar, daß die einen nur den Auftrag hatten zu zerstören, während es den anderen ums Plündern ging.

Da es häufig zu solchen Allianzen kam, vergaßen die Opfer und später die Historiker mit der Zeit, worin ursprünglich der Unterschied zwischen Piraten und Korsaren bestanden hatte, und schließlich warf man beide in den gleichen Topf. Ob Korsar oder Pirat: Allein die bloße Erwähnung jagte Angst und Schrecken ein.

Jacare Jack gehörte stets zu den echten Piraten, das heißt zu jenen nur selten blutdürstigen Seeräubern, denen es lediglich darum ging, in kürzester Zeit so reich wie möglich zu werden und sich dann auf ein frühes Altenteil zu setzen, um in Frieden die Früchte der so kurzen Anstrengung zu genießen.

Der Schotte wußte nur zu gut, daß man ein versenktes Schiff kein zweites Mal plündern konnte und daß ein mißhandelter Kapitän nicht noch einmal kampflos die Waffen streckte. Daher sorgte er dafür, daß seine Männer beim Entern nur soviel Gewalt wie unbedingt nötig anwendeten.

Das führte mit der Zeit dazu, daß die Besatzung eines Schiffes beim Anblick der Krokodilsflagge mit Totenkopf einen Seufzer der Erleichterung ausstieß, da sie in Gewässern, in denen es von Feinden nur so wimmelte, ein gewisses Maß an Sicherheit vermittelte.

Von Oktober bis März ging die Jacare daher hundert Meilen östlich von Barbados auf Patrouille, überfiel Schiffe ohne Begleitschutz, plünderte die Lagerräume oder lotste eine besonders reiche Beute in eine versteckte Bucht der von gefährlichen Riffen geschützten kleinen Inseln Rameau, Bateaux und Barandal. Hier in den südlichen Grenadinen war man sicher, denn ein Feind, der die schmalen Wasserstraßen des Archipels nicht wie seine Westentasche kannte, lief unweigerlich auf ein Korallenriff und war den Kanonen der Jacare hilflos ausgeliefert.

Auf der nahen und wesentlich größeren, aber unbewohnten Insel Mayero hatte Jacare Jack sein »Winterquartier« aufgeschlagen. Hinter diesem pompösen Namen verbargen sich allerdings im Prinzip nur zwei Dutzend strohgedeckte Lehmhütten. Immerhin herrschte auf Mayero kein Mangel an Huren, Rum und gutem Essen.

Der größte Teil der Besatzung war mit seinem Los glücklich und zufrieden. Von April bis September machte man Ferien auf einer paradiesischen Insel, und das übrige Jahr ging mit einträglicher und recht gefahrloser Arbeit dahin. Nur gelegentlich regte sich einer auf und fand, daß ein echter Pirat doch mehr sein mußte als jene seltsame Mischung aus Krämer und Bandit.

Auf derartige Beschwerden gab der Schotte stets die gleiche Antwort: »Hier gebe ich die Befehle, und wem das nicht paßt und lieber abhauen möchte, braucht nur die Hand zu heben, damit ich ihn am nächsten Ast aufhängen kann, denn einen Hurensohn, der unser Versteck verrät, kann ich wirklich nicht brauchen.«

Natürlich fiel es keinem auch nur im Traum ein, jemals die Hand zu heben, und so ging das friedliche Leben einige Jahre lang weiter, in denen Sebastián Heredia Matamoros in Gesellschaft der rüdesten Lebewesen auf der Erde aufwuchs.

Mit 16 Jahren beherrschte er bereits drei Sprachen, kannte sich in der Navigation und im Waffengebrauch aus, und kaum war er 17 geworden, da führte ihn eine begabte und erfahrene Mulattin in die schwierige Kunst ein, wie man Frauen glücklich macht.

Auch mit allen Arten von Glücksspiel war er bestens vertraut, und nach drei Krügen Rum konnte er immer noch aufrecht gehen.

Da ihm als »Einsatzleiter« ein beträchtlicher Teil an der Beute zufiel, hätte er sich eigentlich als Günstling Fortunas fühlen können, hätte ihn nicht sein Vater ständig an die bittere Tragödie erinnert, die seine Jugend verdunkelt hatte.

Denn Miguel Heredia Ximénez hatte sich im Lauf der Jahre kein Jota verändert und war so stumm und abwesend wie immer geblieben. Zwar erwähnte er seine Frau und seine Tochter niemals mit auch nur einem Wort, doch konnte jeder sehen, daß ihm beide unaufhörlich im Kopf herumgingen. Das steigerte sich immer mehr zu einer Besessenheit, die ihn allmählich verrückt machte.

Sebastiáns Liebe und Hingabe hätte sogar die Herzen einer Bande von Halunken erweicht, die wahrscheinlich einem Lahmen, ohne mit der Wimper zu zucken, die Kehle durchgeschnitten hätten. Stunden und Stunden setzte sich der Junge zu seinem Vater, um ihm tausend Dinge zu erzählen, obwohl er wußte, daß er nur selten eine Antwort erhalten würde.

Nur eines schien den Vater, dem ansonsten sogar das Atmen schwerfiel, glücklich zu machen: Wenn er sich an einem seichten Ankerplatz ins Meer stürzen und stundenlang bis zur Erschöpfung tauchen konnte.

In diesen Nächten schlief er tief und ruhig, als hätte ihm die Taucherei für einen Augenblick die glücklichen Zeiten zurückgebracht, in denen sein ganzes Schalten und Walten darin bestand, schöne Perlen zu finden, die seiner Familie zugute kamen.

Wenn der Vater tauchen ging, paßte sein Sohn wie früher auf Haie und Barracudas auf, stets mit einer Hand an der Lanze und einer scharfen Machete am Gürtel, wie ein Schutzengel, der genau wußte, daß jenes schutzlose Wesen alles war, was ihm im Leben geblieben war.

Oft nahm der schweigsame Lucas Castano am anderen Ende der Schaluppe Platz, wo er angelte oder scheinbar abwesend vor sich hin döste. Doch obwohl die Augen unter seinem alten zerfressenen Strohhut geschlossen waren, konnte er beim leisesten Anzeichen von Gefahr aufspringen.

Während der langen Ruhezeiten zog es Miguel Heredia vor, in seinen schmerzlichen Erinnerungen versunken an Bord der Jacare zu bleiben. Rum, Glücksspiel und Huren interessierten ihn nicht das mindeste. Er beschränkte sich darauf, Waffen zu schleifen oder gefundene Perlen in einer kleinen selbstgeschnitzten Truhe zu hüten.

Er bot wirklich einen jammervollen Anblick.

Sein Sohn begeisterte sich dagegen oft ein wenig zu sehr für die Würfel und die Frauen. In der Liebe war ihm das Glück stets hold, im Spiel eher weniger. Das scherte ihn allerdings kaum, denn die Lagerräume der Schiffe der Casa de Contratación gaben weit mehr her, als selbst ein Pechvogel beim Würfeln verschleudern konnte.

Für die richtige Erziehung eines Jünglings war das Umfeld, in dem Sebastián Heredia Matamoros aufwuchs, nicht gerade ideal, doch wie das Leben manchmal so spielt, schaffte es der Junge trotzdem, eine seltsame Balance zwischen der schmutzigen, von Gewalt beherrschten Welt, die ihn umgab, und den moralischen Prinzipien zu halten, die man ihm von klein auf beigebracht hatte.

Dabei spielte es kaum eine Rolle, daß die Frau, die ihm die Prinzipien vermittelt hatte, diese als erste verraten hatte. Vielleicht waren aber auch die schmerzvollen Folgen dieses Verrats daran schuld, daß sich der Junge von Margarita unbewußt seine Moral bewahrte.

Lucas Castano, der ihn von allen Leuten an B6rd am besten kannte, war zutiefst davon überzeugt, daß Sebastián ohne die Anwesenheit des Vaters seine Wurzeln ebenso verloren hätte wie die restlichen Mitglieder der kunterbunt zusammengewürfelten Besatzung. Die eiserne Klammer, die ihn mit dem bedauernswerten Kranken verband, hatte den Jungen jedoch ohne Zweifel vor dem moralischen Absturz bewahrt.

Das Leben der seltsamen Gemeinschaft verlief also weiterhin in »normalen« Bahnen: bis am Morgen eines heißen Sommertages die Wache der Nordküste die alarmierende Nachricht brachte, daß während der Nacht die beste Schaluppe verschwunden war.

Bald stellte sich heraus, daß zwei französische Marsgaste offensichtlich beschlossen hatten, zu desertieren.

Gaston und Rene Rousselot, an Bord nur »die Marseiller« genannt, waren zwei sehr unterschiedliche Brüder, die allerdings kaum eine Gelegenheit ausließen, sich in alle nur denkbaren Schwierigkeiten zu bringen.

Von allen zehn Peitschenhieben, die Lucas Castano in den letzten Jahren ausgeteilt hatte, waren sechs auf dem Rücken eines der beiden gelandet, und dennoch zettelten die Brüder immer wieder aus dem geringsten Anlaß heraus eine wütende Schlägerei an.

Nach drei Gläsern Rum war Rene in der Lage, sogar – oder besser mit Vorliebe – auf seinen eigenen Bruder mit Fäusten einzuschlagen. Doch aus unerfindlichen Gründen einigten sich die beiden immer wieder, nur um sich mit dem Rest der Mannschaft anzulegen.

Da sie sich jahrelang nur noch mit Rivalen hatten anlegen können, die ihre Tricks nur zu genau kannten, wunderte es keinen, daß sich die beiden Südfranzosen abgesetzt hatten, um sich neue »Opfer« zu suchen. Der erfahrene Kapitän konnte sich aber an fünf Fingern abzählen, daß die beiden bei ihrer Vorliebe für Alkohol und Schlägereien bald herumerzählen würden, wo sich die gesuchte Jacare und ihre nicht aufgreifbare Besatzung verbarg.

»Entweder machen wir Jagd auf sie«, befand er, »oder wir warten ab, bis sie Jagd auf uns machen. Also los!«

»Und wohin?«

»Sind doch Franzosen, oder nicht? Die Ziege will auf den Berg und die Franzosen dorthin, wo man ihre Sprache spricht. Ich wette meine vier letzten Haare darauf, daß sie Kurs auf Martinique gesetzt haben.«

Im letzten Abendrot lichtete die Jacare die Anker, um die gefährlichen Riffe der kleinen Inseln gefahrlos zu umschiffen, und bei Anbruch der Nacht fuhren sie bereits mit geblähten Segeln Kurs Nordost.

Jacare Jack hatte genügend seemännische Erfahrung, um sich auszumalen, daß sich die Marseiller mit ihrer Nußschale nicht aufs offene Meer hinauswagen, sondern lieber an der Leeseite der Inseln entlang segeln würden. Auf diese Weise konnten sie sich beim geringsten Anzeichen von Gefahr in jeder noch so winzigen Bucht verstecken.

Aus diesem Grund ließ er sich gar nicht erst auf eine sinnlose Verfolgungsjagd ein, sondern beschloß, auf der Luvseite der Inseln die ganze Schnelligkeit seines Schiffs auszuspielen, um die Schaluppe im breiten Kanal zwischen St. Lucia und Martinique abzufangen.

Endlich ließ er einmal seinen wahren Charakter durchblicken. Gewöhnlich konnte ihn nichts aus der Ruhe bringen, doch in den folgenden Tagen verließ er die Brücke keinen Augenblick lang und befehligte seinen schnellen Küstensegler so bravourös, als ginge es um eine Regatta, bei der seine ganze Habe auf dem Spiel stand.

»Keiner legt sich mit Kapitän Jack an«, war das einzige, was er gelegentlich vor sich hin grollte. »Haifischfutter mache ich aus den beiden.«

Bis zum letzten Schiffsjungen waren alle seiner Meinung, denn an Bord hatte jeder mit den verhaßten Marseillern ein Hühnchen zu rupfen, und jetzt, wo die beiden die gesamte mühsam aufgebaute Existenz der Besatzung aufs Spiel setzten, brachen alte, längst verheilte Wunden wieder auf.

Selbst der schweigsame Lucas Castano ließ einen Fluch hören, und damit war alles gesagt.

Obwohl Sebastián und Miguel Heredia wie durch ein Wunder als einzige an Bord die aberwitzigen Gewaltausbrüche dieses barbarischen Pärchens noch nie am eigenen Leib verspürt hatten, war der Junge über den schmutzigen Verrat ebenso empört wie die anderen. Sein Abscheu gegenüber den Deserteuren verflog jedoch urplötzlich, als sein Vater zum ersten Mal seit langer Zeit mit ihm sprach.

»Hab Mitleid mit ihnen«, murmelte er, als sich der Junge immer mehr erregte. »Ihr Ende wird schrecklich sein.«

»Woher weißt du das denn?«

»Ich weiß es einfach.«

Mehr sagte er nicht, doch er wußte es mit Sicherheit. Ein Mensch, der nichts wahrzunehmen schien, was um ihn herum vorging, konnte andere Welten »kennen«, von denen andere, die ihn umgaben, noch nicht einmal etwas ahnten.

Und kein Wahnsinn ist unergründlicher als der, in den man sich freiwillig geflüchtet hat.

Am meisten verbitterte Sebastian, daß er gegen die schmerzvolle Wahl des Vaters nicht anzukämpfen vermochte. Jedesmal lief er wie gegen eine unsichtbare Mauer. Das Herz des Vaters schien nur noch eine Pumpe zu sein, und seine Gedanken waren in einem unergründlichen Brunnen der Erinnerungen versunken. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb richtete der Junge seine Liebe, die einst seiner gesamten Familie gegolten hatte, ganz auf seinen Erzeuger. Für Emiliana Matamoros empfand er nur noch tiefen Groll, während das Bild, das er von seiner Schwester hatte, immer verschwommenere Züge annahm, so sehr er sich auch dagegen stemmen mochte.

Schließlich war Celeste zur Zeit der Trennung noch ein kleines Mädchen gewesen, dessen Gesichtszüge sich ständig zu ändern schienen. Drei Tage nach ihrem Aufbruch, nach einer Nacht, die sie in einer winzigen Bucht von St. Lucia auf der Lauer gelegen hatte, stürzte sich die Jacare wie ein Pelikan auf die Nußschale der ahnungslosen Marseiller.

Was Sebastian für eine harmlose Redewendung gehalten hatte, den Satz mit dem Haifischfutter, sollte sich als schrecklicher Ernst erweisen. Kaum hatte der inzwischen nicht mehr wiederzuerkennende Kapitän Jack die Deserteure ergriffen, befahl er, sie ins Meer werfen zu lassen. Zuvor ließ er sie mit starken Tauen aneinanderfesseln und zwischen ihre Schenkel riesige Haken stecken, deren messerscharfe Spitzen auf der Höhe des Penis herausragten.

Mit dem eigenen Messer schnitt er ihnen in die Beine, die stark zu bluten begannen. Danach befahl er langsamste Fahrt voraus, nahm auf dem Achtersteven Platz und sah zu, wie die Opfer voller Panik im Wasser ruderten und eine rote Spur hinterließen, die bald gierige Haie anlocken würde.

Nach zehn Minuten tauchte die erste Rückenflosse auf, doch folgte sie zunächst lediglich der Blutspur, ohne anzugreifen, so als traute die dunkle und riesige Bestie dem unerwarteten Frühstück nicht über den Weg.

Nicht nur an Bord, sondern auch im Wasser blieb es stumm. Gaston und Rene hatten offensichtlich eingesehen, daß alles Betteln um Gnade sinnlos war, und sich in ihr schreckliches Schicksal ergeben. Vielleicht hofften sie auf ein schnelles und möglichst schmerzloses Ende.

Doch wer immer eine so sadistische Qual erfunden hatte, wußte genau, was er tat. Normalerweise konnte ein Hai sein Opfer mit einem einzigen Biß in Stücke reißen, doch wenn dieses Opfer wie ein lebendiger Köder gefesselt war, dann hatte es einen entsetzlichen, quälend langsamen Todeskampf vor sich.

Mit einemmal tauchte ein zweiter Hai aus der Tiefe auf, stürzte sich auf das linke Bein von Rene und riß es bis zum Oberschenkel ab. Als wäre das ihr Signal gewesen, stürzte sich die erste Bestie auf das andere Bein.

Das Meer färbte sich rot vor Blut, und jetzt stieß der beklagenswerte Marseiller einen Schrei aus, der den Zuschauern des grausigen Schauspiels in Mark und Bein fuhr.

Doch das Schlimmste sollte noch kommen.

Der forschere Hai ließ der wehrlosen Beute keine Zeit, zu verbluten, sondern attackierte sie erneut und verschluckte dabei den Haken. Damit hing die Bestie unweigerlich an Rene Rousselot und schlug ihre scharfen Zähne in das weiche Fleisch des Bauchs, den sie bei ihren erfolglosen Versuchen, sich von dem im Rachen feststeckenden Eisen zu befreien, immer weiter aufriß.

Von den Marseillern blieb nur eine stöhnende Masse aus Blut, Fleisch und Eingeweiden, die wie ein Ball im Rachen des Hais hin– und hergeschüttelt wurde. Schließlich konnte der schreckensstarre Sebastián Heredia nicht mehr anders: Er lehnte sich über die Reling und mußte sich das erste Mal in seinem Leben übergeben. Danach nahm er neben seinem Vater Platz, der völlig abwesend eine Machete schliff, und blieb dort sitzen, bis Lucas Castano die Taue durchschnitt und sich die aus allen Himmelsrichtungen herbeigeeilten blindwütigen Haie den kärglichen Rest der beiden Brüder streitig machen konnten.

Im schweren Jahr nach der grausamen Hinrichtung wurde Sebastián schneller erwachsen als in der gesamten Zeit, die er bis dahin an Bord der Jacare verbracht hatte, nicht nur, weil er an Körpergröße und Kraft gewann oder in der Kriegs– und Liebeskunst dazulernte, sondern weil ihm allmählich dämmerte, daß er sich eine andere Zukunft schafften mußte, weit weg von jener üblen Gesellschaft.

Jeden Abend legte er sich mit der Überzeugung schlafen, seine Lebensweise, die ihm so absurd vorkam, aufzugeben, doch jeden Morgen verschob er seine Entscheidung aufs neue. Kapitän Jack, der schon die Marseiller Brüder nicht hatte ziehen lassen, hätte, davon war Sebastián zutiefst überzeugt, einen »jungen Wirrkopf und einen alten Toren« ebensowenig frei mit dem Wissen herumlaufen lassen, wo sich sechs Monate im Jahr eines der meistgesuchten Schiffe der Karibik verbarg.

»Die Jacare ist immer >das Land ohne Wiederkehr< gewesen«, hatte ihm Lucas Castano bedeutet. An diesem Tag verbrauchte er mehr Spucke als gewöhnlich. »Du mußt wissen, daß unser Leben eine Hölle wäre, wenn wir nicht eine absolut sichere Zuflucht hätten.«

Wie konnte man einem mißtrauischen Schotten und die gesamte finstere Besatzung davon überzeugen, daß weder er noch sein Vater die genaue Lage der Insel preisgeben würden?

Wer konnte garantieren, daß er schweigen würde wie ein Grab, falls er in die Hände der Schergen der Casa de Contratación fallen würde?

Und wer konnte ausschließen, daß eine saftige Belohnung die beiden nicht dazu verleiten würde, die Kameraden, mit denen sie so viele schwere Jahre geteilt hatten, zu verraten?

Ehrbarkeit hatte nie zu den Kardinaltugenden der Bruderschaft der Piraten gehört. Wie konnte man also von dieser üblen Meute »Seewölfe« erwarten, daß sie von sich aus an den Anstand eines ihrer Mitglieder glaubte?

Man hätte sich also wie die Marseiller bei Nacht und Nebel aus dem Staub machen müssen und wäre dabei Gefahr gelaufen, ebenfalls als Haifutter zu enden: ein Risiko, das der Junge um nichts in der Welt hätte eingehen wollen.

Und selbst wenn sie gefahrlos hätten fliehen können, wohin denn?

»Nach Hause«, hatte einige wenige Male der stets abwesende Miguel Heredia Ximénez zu diesem Thema gesagt. Die Schwester wiederzusehen war in der Tat auch der sehnlichste Wunsch seines Sohnes.

Was wohl aus ihr geworden war?

Inzwischen mußte sie fünfzehn Jahre alt sein, rechnete sich Sebastián aus, doch so sehr er sich auch Mühe gab, er konnte sich nicht vorstellen, wie aus dem Mädchen allmählich eine junge Frau wurde, und wenn sich die Schwester wie ein Schatten in seine Erinnerung schlich, dann stets als Kind.

Wenn das Boot seines Vaters am Kap vorbei in die weite Bucht von Juan Griego einfuhr, war das erste, was sie sahen, Sebastián mußte lächeln, wenn er daran dachte, das kleine Mädchen, das im Schatten der Festung La Galera saß, aufs Meer hinausschaute und sogleich fröhlich zu winken begann. Bis zum Schlafengehen wich es dann dem älteren Bruder nicht mehr von der Seite und folgte ihm wie ein treues Hündchen.

Nur zu oft hatte Sebastián den Spott seiner Freunde ertragen müssen, die nicht verstehen konnten, daß dieses kleine Mädchen, das eigentlich eher aussah wie ein kleiner Junge, stets wie eine Klette an ihm hing. Doch hatte die kecke Kleine ein so einnehmendes Wesen, daß die ungehobelte Jungenschar schließlich zähneknirschend ihre Anwesenheit duldete.

Schon mit vier Jahren zeigte Celeste Heredia Matamoros beeindruckend ihre Willenskraft, die sie allerdings hinter einem unschuldigen Lächeln und manchen schlagfertigen Antworten zu verbergen wußte.

Was mochte wohl aus ihr geworden sein, jetzt wo sie in einem Palast unter ganz anderen Menschen lebte?

Gelegentlich erinnerte sich Sebastián an die Wut, die in ihren rebellischen Augen funkelte, als man sie gewaltsam in die Kutsche des Abgesandten der Casa de Contratación von Sevilla zerrte, und er konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob der plötzliche Wandel in ihrer Lebensweise nicht Einfluß auf ihr mutiges und spontanes Wesen genommen hatte.

In Nächten wie dieser legte er sich mit dem Vorsatz schlafen, das Schiff zu verlassen und sich auf die Suche nach dem Mädchen zu machen.

Bald aber holte ihn das unendliche Meer in die bittere Wirklichkeit zurück: Er mochte zwar ein wahrhaft »freier Mann« sein, ein wilder Pirat ohne jegliche Bindungen, und doch war er ein Gefangener seines eigenen Berufs geworden, und die Taue, an die er sich beim Betrachten des weiten Horizonts klammerte, waren in Wirklichkeit nichts anderes als die schwachen Gitterstäbe eines Gefängnisses, aus dem die Flucht fast unmöglich erschien.

Eintönig flössen so die Tage dahin.

Und die Wochen.

Und die Monate.

Eine harte Strafe.

Zu hart in den Augen eines Menschen, der vom Leben wesentlich mehr erwartete.

An einem diesigen Nachmittag schließlich, bei dem man nicht wußte, ob ein Sturm oder eine der gefürchteten totalen Flauten drohte, die selbst stählerne Nerven auf die Probe stellten, entdeckten sie ein Schiff am Horizont.

Alle Augen folgten ihm.

Es war eine mittelgroße Galeone, deren Reling im Verhältnis zur Länge des Schiffs unverhältnismäßig hoch schien. Zunächst hielt das Schiff direkt auf die Piraten zu, dann schien es jedoch Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, indem es den Kurs änderte, offenkundig mit der Absicht, gut zwei Meilen luvseits zu kreuzen.

»Die Masten hoch!« befahl der Schotte angesichts dieses Manövers. »Und haltet die hohen Segel bereit.«

»Greifen wir an?« fragte verblüfft Lucas Castano.

Ein leichtes Kopfschütteln war die Antwort.

»Nein! Aber mit den Segeln, die er gesetzt hat, sollte er nicht nach Luv abfallen, sondern leeseits fahren. Ich trau ihm nicht.«

»Vielleicht eine Falle?«

»Unter einer so hohen Reling könnte er durchaus drei Kanonenreihen verbergen. Leute, paßt auf…!« rief er seiner Mannschaft auf Deck zu, die auf seine Befehle wartete. »Wenn das Schiff nur eine Idee auf uns zuhält, alle Segel setzen, Steuer hart Backbord und ab wie der Teufel!«

»Können wir ihn nicht stellen?« wollte Sebastián wissen.

Der Glatzkopf schaute ihn an wie einen Idioten.

»Hier und jetzt? Ich müßte verrückt sein! Wenn er uns ködern will, hat er wenigstens fünfzig Dreißigpfünder an Bord, mit denen er uns in Stücke reißen kann. Bei der Schlacht hätten wir keine Chance.«

Also warteten sie weiter ab, schweigend und angespannt, die Augen starr auf den Bug eines Geisterschiffs gerichtet, auf dessen Brücke kein menschliches Wesen auszumachen war.

»Gefällt mir nicht!« gab Lucas Castano schließlich zu. »Gefällt mir überhaupt nicht.«

»Macht die Rauchflöße fertig«, flüsterte der Schotte, und sein Befehl wurde von Mann zu Mann auf Deck weitergegeben.

Besagte »Flöße« waren in Wirklichkeit nur riesige, mit Öl und Schießpulver getränkte Strohballen. Angezündet verbreiteten sie einen dichten Rauch, der die Sicht der Kanoniere behinderte und die Flucht des in Bedrängnis geratenen Schiffs begünstigte.

Die Galeone, auf deren Bug man den provokanten Namen Vendaval (»Sturmwind«) entziffern konnte, setzte ihre schnelle Fahrt fort, wobei sie allmählich nach Steuerbord abfiel, als wollte sie so weit wie möglich an der Jacare vorbeisegeln. Doch als die Entfernung nur noch eine knappe Meile betrug, grollte Kapitän Jack vor sich hin und zog geräuschvoll den Rotz hoch:

»Entweder ändern die jetzt gleich den Kurs, oder sie können bei diesen Segeln ihr Manöver nicht fortsetzen, ohne längsseits zu gehen.«

Ohne Zweifel war er ein großartiger Seemann.

Der beste seines Metiers, von dem alle an Bord stets eine Menge lernen konnten. Denn kaum hatte er seinen Satz ausgesprochen, drehte der Bug der Vendaval langsam nach Backbord.

Unverzüglich brüllte der Schotte los:

»Alle Segel setzen, Steuer hart Backbord, Flöße ins Wasser!«

Drei Minuten später bot die Jacare der Vendaval nur noch ihr Achterschiff, machte geradezu einen Sprung nach vorn und glitt wie das schärfste Messer von Miguel Heredia durch die Wogen, während acht in ihrem Fahrwasser brennende Strohballen dichte, schwarze und stinkende Rauchsäulen aufsteigen ließen.

Die Kanonen der Galeone feuerten nur ein einziges Mal, ohne damit den Küstensegler zu gefährden, der in der Ferne verschwand. Die Besatzung amüsierte sich in der Zwischenzeit damit, dem Feind mit eindeutigen Handzeichen deutlich zu machen, wie wenig Respekt das schnellste Schiff der Karibik vor der Feuerkraft der Vendaval hatte.

Am Nachmittag war vom Angreifer keine Spur mehr zu sehen. Nun ließ der Kapitän die Glocke läuten, bis sich die gesamte Besatzung unterhalb des Achterkastells versammelt hatte.

»Jetzt sind wir an der Reihe!« sagte er.

»Greifen wir an?« riefen einige Stimmen im Chor, wobei sie eine Spur echter Begeisterung nicht verbergen konnten.

»Natürlich!« gab der Schotte zurück und wandte sich Lucas Castano zu. »Die schwarze Flagge hoch!«

Zustimmendes Raunen erfüllte das Deck, und bald grinsten die meisten Besatzungsmitglieder übers ganze Gesicht, als der riesige Totenschädel mit Krokodil am höchsten Mast flatterte.

»Alle Kanonen nach Backbord«, befahl der Glatzkopf, während er mit absoluter Gelassenheit den Rotz hochzog. »Hundert Mal haben wir das schon geübt, doch vergeßt mir keinen Augenblick lang, daß wir ihnen nur eine einzige Breitseite verpassen können. Wenn wir sie nicht voll erwischen, können wir wieder Fersengeld geben!«

»Schwarze Segel?« wollte sofort der Hauptgast wissen.

»Später«, entgegnete der Kapitän. »Jetzt müssen wir erst mal schnelle Fahrt machen, und mit den weißen Segeln geht das besser.«

Vier Stunden später holte man Groß– und Besansegel ein, um Teersegel zu setzen, ohne daß die Jacare entscheidend an Fahrt einbüßte. Sie steuerte einen Kurs parallel zu dem, den die Vendaval ursprünglich verfolgt hatte, mit dem Ziel, den Gegner zu überholen. Schließlich war das Piratenschiff vom Kiel bis zum Mastkorb auf Schnelligkeit getrimmt.

Im Schutz der Dunkelheit, die über die Karibische See hereingebrochen war, war der blaue Rumpf der Jacare, auf der kein Licht brannte, nur ein Schatten in der Finsternis. Selbst aus einer Entfernung von weniger als 200 Metern hätte sie nicht einmal ein Ausguck mit Adleraugen entdeckt.

Gleichzeitig hatte man fast alle Steuerbordkanonen um 180 Grad gedreht und ihre Lafetten so weit erhöht, daß man einen guten Meter über Deck, zwischen Tauen und Masten hindurch, über die Backbordreling feuern konnte. Auf diese Weise verdoppelte man die Feuerkraft auf einer Seite, ließ allerdings die andere inzwischen ungeschützt.

Doch der erfahrene Kapitän Jack wußte genau, was er tat.

Nach Mitternacht hatte man den Berechnungen des Kapitäns zufolge genügend Vorsprung vor der Galeone erreicht. Nun änderte er den Kurs um 90 Grad. Sein Ziel war es, dem Gegner den Weg abzuschneiden und dessen Ankunft abzuwarten.

Um drei Uhr morgens betrachtete er den Himmel, schien die Luft zu prüfen und befahl dann, Wind aus den Segeln zu nehmen. Das Schiff verlor an Fahrt, bis es fast bewegungslos verharrte. Schließlich ließ er alle restlichen Segel einholen. Lediglich das Teersegel blieb gesetzt, mit dem sich die gefügige Jacare problemlos manövrieren ließ.

»Wie ein lauerndes Krokodil.«

Mit wachen Augen und gespitzten Ohren, die auf jedes kleinste Geräusch achteten, das nicht von Meer und Wind verursacht wurde, legten sich alle bis zum philippinischen Koch und seinen jungen Küchengehilfen auf die Lauer. Ihr erfahrener Kapitän, darauf vertraute die gesamte Mannschaft, hatte den Kurs der Galeone genau berechnet, die so töricht gewesen war, sich auf offener See mit der legendären Jacare anzulegen.

Verblüfft stellte Sebastián fest, daß seine Gefährten kaum Nervosität zeigten, sondern fröhlich und voller Zuversicht waren, als wäre die Tatsache, daß sie es in wenigen Augenblicken mit einem Schiff aufnehmen würden, das sie in eine Falle hatte locken wollen und ihnen an Feuerkraft weit überlegen war, nur eine nette Anekdote, die sie eines Tages ihren Enkeln erzählen würden.

Die schwarze Nacht, in der nur eine schmale Mondsichel den Sternen Gesellschaft leisten wollte, jagte ihnen ebenfalls keine Angst ein. Trotz des ausdrücklichen Befehls, sich absolut ruhig zu verhalten, war der eine oder andere geflüsterte Witz zu hören, und ein Pirat leistete sich sogar den Luxus, laut zu schnarchen.

Dann verbreitete es sich auf Deck wie ein Lauffeuer.

Der Feind kam,

»Besan– und Focksegel anziehen! Steuer zwei Grad Steuerbord!«

Lediglich die schweren Teersegel blähten sich im Wind, und trotzdem wurde die Jacare immer schneller. Sie hielt genau auf die weißen Segel zu, die sich kaum von der verschwommenen Linie am Horizont abzeichneten. Jeder Mann nahm seine Gefechtsposten ein. Aus den Ladeluken holte man zwei Dutzend Laternen, deren dicke Hauben dafür sorgten, daß man von weitem keinen Schein sehen konnte.

»Kurze Lunten!« hatte der Kapitän ausdrücklich angeordnet. Wenn die Kanonen feuerten, würde das leichte Schiff bis zum Mastkorb erzittern. Die Marsgaste mußten sich daher mit aller Kraft an die Taue klammern, um nicht ins Meer geschleudert zu werden.

Arrogant und schweigsam setzte die völlig ahnungslose Vendaval ihren Kurs fort. Der Küstensegler steuerte auf sie zu, um sie im Windschatten zu überholen.

Eine Frage von Minuten.

Nicht einmal eine Viertelmeile trennte die beiden Schiffe noch. Hätte die Galeone ihren Kurs nur um ein Grad Backbord geändert, wäre es fast unweigerlich zum Zusammenstoß gekommen, bei dem das leichte Piratenschiff sicherlich im Nachteil gewesen wäre.

Doch an Bord der Galeone hatte niemand auch nur den Hauch einer Chance, die Gefahr zu erkennen, die da auf sie zukam.

Kein Schiff.

Nur ein Schatten in der Dunkelheit.

Schote lockern, gab man im Flüsterton weiter. Darauf drosselte der Segler seine Fahrt etwas und fiel in die horizontale Lage zurück. In diesem Augenblick drückte Lucas Castano Sebastián etwas Werg in die Hand und flüsterte:

»Stopf dir die Ohren zu.«

Der Junge gehorchte sofort, denn die Galeone war schon fast auf gleicher Höhe, und wenige Augenblicke später donnerte die Stimme von Kapitän Jack:

»Feuer!!!«

Man nahm die Hauben von den Laternen, zündete die Lunten, und während sie vor der Backbordseite der Vendaval kreuzten, spuckten die Kanonen eine nach der anderen ihre tödliche Ladung aus und ließen alle Spanten und Planken erzittern.

Der beißende Rauch vernebelte einige Augenblicke lang den Blick auf das feindliche Schiff, doch als er sich allmählich verzog, konnte man im Schein der an Bord entfesselten Brände erkennen, daß die schwere Galeone abgefallen war und ihr Besanmast krachend ins Meer stürzte. »Schote anziehen, alle Segel setzen und Steuer hart Backbord!«

In aller Eile entfernte sich die Jacare vom Schlachtort, doch die Besatzung stieß sofort Jubelschreie aus, als sie sah, wie die Flammen die umfangreiche Takelage der Vendaval ergriffen, die sofort beigedreht hatte, während die verstörte Besatzung allerorts versuchte, Schäden zu reparieren und Brände zu löschen.


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