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Die geheime Reise der Mariposa
  • Текст добавлен: 17 октября 2016, 01:01

Текст книги "Die geheime Reise der Mariposa"


Автор книги: Antonia Michaelis



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Casaflora schnaubte. »Segeln? Die Mariposa ist ein braves altes Schiff, aber sie ist winzig. Es wäre Selbstmord, im Notfall auf ihre Segel zu vertrauen.« Er sah José an. »Außerdem«, fügte er hinzu, »interessiert es mich inzwischen auch, was ihr auf eurer verfluchten Insel finden werdet. Vielleicht hat es etwas mit mir zu tun. Und mit dem Krieg. Mehr, als ich dachte.«

Die Seelöwen umringten das Schiff noch immer. Sie schienen auf José und Marit zu warten.

»Wie lange wird es dauern, die Schraube zu …?«, begann José.

»Frag mich nicht so was!«, fauchte Casaflora. »Tage? Wochen? Monate? Lasst mich jetzt allein mit dem verfluchten Ding! Ich komme nach, an Land. Ein paar Tage müssen wir sicher hierbleiben.«

Marit vergewisserte sich, dass Casafloras Pistole, die sie immer noch trug, sicher in ihrer Tasche steckte. Dann sprang sie über Bord, mitten zwischen die Seelöwen. Sie hatte gedacht, die Tiere würden erschrecken und fliehen – doch stattdessen kamen sie näher, schwammen neben Marit her, stupsten sie mit ihren Schnauzen an und machten japsende Geräusche wie junge Hunde, die spielen wollen.

Marit drehte sich um. »José!«, rief sie. »Bring Oskar mit!«

»Natürlich«, sagte José und seufzte.

Kurz darauf sprang er mit dem Pinguin im Arm ins Wasser. Kurt der Albatros und Eduardo der Flamingo folgten. Zum Schluss sprang etwas sehr Kleines von der Reling und landete auf Kurts Rücken: Carmen. Hoffentlich sah Kurt auf dem Weg bis zum Strand davon ab, ein längeres Stück zu tauchen.

Die Seelöwen begleiteten sie bis an Land, robbten mit ihnen aus dem Wasser und konnten sich an ihren neuen Besuchern offenbar nicht sattsehen. »Ihnen muss ziemlich langweilig sein, so allein hier«, meinte Marit und lachte. Ein junger Seelöwe warf sich vor ihr auf den Rücken und ließ sich am Bauch streicheln. Es war zu seltsam.

Noch seltsamer war allerdings, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Marit merkte, dass sie beim Gehen schwankte, ähnlich wie Oskar. »José!«, rief sie kichernd, »du schwankst ja auch! Du siehst aus, als wärst du besoffen!«

An jenem ersten Tag auf Marchena wurde ihre Reise zu einem Spiel, wie Zelten im Freien: José schoss im Busch einen Vogel, den sie über ihrem Feuer brieten. Marit holte einen Kanister mit Trinkwasser vom Schiff. Es waren nur noch drei Kanister da. Es wird regnen, sagte sie sich, es wird regnen. Sie wollte sich nicht schon wieder Sorgen machen.

Sie wollte am Feuer sitzen und über die rot-schwarzen Inseldrachen lachen, die Leguane, die sie aus ihren uralten Augen beobachteten. Einer davon, ein ganz kleiner, saß mitten auf dem Kopf eines größeren, den er für einen idealen Aussichtspunkt hielt. Er wunderte sich sicher über den Pinguin und den Flamingo, die mit den Schnäbeln tief in einer Suppendose steckten …

Casaflora hatte sein eigenes Feuer, ein Stück weiter weg. Er hatte die Schiffsschraube tatsächlich ausgebaut und mitgenommen, um sie mit einem Stein von der Insel wieder zurechtzuklopfen. Aber auch über die Schraube wollte Marit sich an diesem Abend keine Gedanken machen.

»Ist es nicht wunderbar?«, fragte sie, als sie auf dem Rücken im Sand lag und die Sterne ansah. «Ist es nicht wunderbar, über Leguane zu lachen? Ist es nicht wunderbar zu leben?«

»Ja«, antwortete José. »Das ist es.«

Und Marit schloss die Augen und schlief auf der Stelle ein, tief und fest und völlig traumlos.

José lag noch lange wach. Nicht weit entfernt träumten die Seelöwen auf dem Strand.

Und hoch oben krochen die Sternbilder über den Himmel wie in jeder Nacht. Aber diesmal brauchte er sie nicht, um ein Schiff zu steuern. Wann würde die Mariposa wieder unter jenen Sternbildern segeln? Würde Casaflora es schaffen, die Schiffsschraube zu reparieren? Und wenn nicht?

Neben der Feuerstelle stand der Wasserkanister. Es war nicht mehr viel darin. José spürte den Durst in seiner Kehle, er streckte die Hand aus – und ließ sie sinken. Nein. Sie mussten sparsam sein. Der flache Kegel des kleinen Vulkans lag im Mondlicht wie ein schlafendes Tier. Vielleicht gab es dort irgendwo Wasser. Eine Quelle, von der noch niemand wusste. Regenwasser, das sich in Vertiefungen des Gesteins gesammelt hatte.

Er betrachtete seine schlafende Schiffsmannschaft: Auf Marits Bauch schnarchte zusammengerollt die Ratte Carmen, an ihre eine Seite hatte sich Oskar gedrängt, an die andere Kurt der Albatros. Eduardo saß an Marits Kopf gelehnt wie eine seltsame Nachtmütze aus rosafarbenen Federn. Etwas in José zog sich schmerzhaft zusammen, als er dieses merkwürdige Bild betrachtete, und die Sorge wuchs in ihm wie ein Krebsgeschwür.

»Meine kleine, ungewöhnliche Familie«, flüsterte er. »Ich werde Wasser für euch finden. Und die Schiffsschraube wird wieder funktionieren. Und wir werden die Isla Maldita erreichen, bald schon, ganz bestimmt. Und dann …«

Ja, was dann?,fragte die Abuelita in seinem Kopf. Dann lieferst du deine ungewöhnliche Familie dem aus, was dort umgeht. Den Geistern der Piraten. Oder einer anderen Sache, die noch viel gefährlicher ist. Sie begleiten dich wie treue, naive Kinder, sieh sie dir nur an! Und sieh mal nach links, wo ein anderes Feuer verglimmt. Casafloras Feuer. Du weißt immer noch nicht, wer er ist. Er wartet. Er wartet darauf, dass du unaufmerksam wirst …

»Unsinn«, sagte José. »Er schläft. Sei still!« Auf einmal fiel José die Karte ein. Jene andere Karte, die Casaflora besaß.

José hängte das Gewehr über seine Schulter, nur für alle Fälle, stand auf und schlich lautlos den Strand entlang. Casaflora atmete gleichmäßig. Sein Atem roch nach dem Rum, den Marit damals zum Desinfizieren des Pinguins benutzt hatte. Offenbar hatte er den Rest der Flasche geleert, um seinen Ärger über den Motor zu vergessen. Er schlief fest, und das war auch gut so. Denn sein Kopf lag auf einem Seesack, den José bisher nicht gesehen hatte. Vermutlich hatte er irgendwo in der verborgenen Koje gelegen.

Die Karte. In diesem Seesack musste die Karte sein.

Er kniete nieder, streckte die Hand aus, vorsichtig, ganz vorsichtig … Bist du nicht bei Trost?,schalt die Abuelita. Er wird aufwachen und so schnell kannst du niemals dein dummes Gewehr auf ihn richten …José versuchte die Abuelita aus seinem Kopf zu schütteln, zurück auf die Farm, wo sie hingehörte. Er hatte es jetzt geschafft, den Seesack unter Casafloras Kopf hervorzuziehen. Casaflora regte sich im Schlaf, murmelte etwas, nicht auf Spanisch, sondern in jener anderen, harten Sprache, die vielleicht Deutsch war. José tastete in dem Seesack. Er fand schmierigen Stoff … und kaltes Plastik. Kein Papier. So gründlich er auch tastete, da war keine Karte. Schließlich zog er das Plastikstück hervor und musste sich zusammenreißen, um nicht triumphierend zu pfeifen. Das Stück Plastik war nur eine Hülle. Natürlich. Eine Hülle, die den Inhalt gegen das Seewasser schützte. Darin befand sich ein vielfach gefaltetes großes Blatt Papier.

José nahm es und versuchte im schwachen Mondlicht etwas darauf zu erkennen. Das Papier war mit mehreren Zeichnungen bedeckt, Zeichnungen, die aus einem verwirrenden Durcheinander von Linien bestanden. Am Rand standen Erklärungen in einer winzigen Schrift und einer anderen Sprache. Deutsch. Und dann erkannte José die Umrisse auf einer der Zeichnungen: Es waren Inseln im Meer. Die Galapagosinseln. Auf einer anderen Zeichnung entdeckte er die Küstenlinien Mittelamerikas: Ecuador, Panama ……Auf zwei anderen Zeichnungen waren einzelne Inseln zu sehen. Eine davon war Bartolomé. Der Pinnacle Rock war auf Englisch eingetragen. Der Pinnacle Rock, auf den die Amis ihre Proberaketen abschossen.

Irgendwo auf diesem Blatt Papier, dachte José, musste auch die Isla Maldita sein. Aber er fand nirgends etwas, das dem Umriss auf seiner eigenen Karte glich. Dafür fand er Baltra. Die Insel war übersät mit kleinen Vierecken, Gebäuden voller Erklärungen in der winzigen Schrift. Er fand sogar die Landebahn.

Baltra. Der Militärstützpunkt der Amerikaner.

José besah sich die Zeichnung der mittelamerikanischen Küste noch einmal. Linien verbanden die Inseln, verbanden Baltra mit Bartolomé … verbanden die Inseln mit dem Festland. Panama. Ein Land mit einem Durchschlupf: dem Panamakanal. Die einzige Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik, wenn man nicht außen um Südamerika herumfahren wollte. Der Kanal, den die Amis von Baltra aus zu kontrollieren planten, damit keine deutschen oder japanischen U-Boote hindurchkamen.

Plötzlich fielen José wieder die Worte seines Vaters ein, die er damals, am Hafen auf Baltra, über Juan Casaflora gesagt hatte: Man hört, er wollte herausfinden, welchen Einfluss der Flugplatz auf die Gewohnheiten der Tiere hat …

Nein, dachte José. Juan Casaflora war auf Baltra gewesen, um etwas ganz anderes herauszufinden. Er hatte die Karte selbst gezeichnet. Was man darauf sehen konnte, war bekannt. Den Amerikanern. Und den Männern, die für sie arbeiteten, so wie Josés Vater und seine Brüder. Aber nicht einmal sie hatten von den Raketenübungen gewusst. Und die Deutschen – die Deutschen wussten womöglich von gar nichts.

Noch nicht.

Brauchten sie die Karte nur, um ihre U-Boote an den Kontrollpunkten der Amerikaner vorbeizuschmuggeln? Oder würden sie ihre Flugzeuge bis nach Baltra schicken, um die Insel zu beschießen? Die Baracken der Arbeiter, wo auch Josés Vater und seine Brüder des Nachts ahnungslos schliefen?

Casaflora, dachte José, war nicht nur ein Deutscher. Casaflora war ein deutscher Spion.

José stand auf und atmete tief durch. Er faltete das Blatt Papier, steckte es in die Tasche und lud die Mauser durch. Dann trat er einen Schritt zurück, stellte sich ganz gerade hin und zielte. Sein Finger lag am Hahn wie tausendmal zuvor, wenn er im Busch von Isabela auf wilde Bullen geschossen hatte, die die Felder zertrampelten. Er hatte noch nie auf einen Menschen geschossen.

Er schluckte. Er hatte gedacht, es wäre leicht: Du lädst, zielst, drückst ab. Aber es war nicht leicht. Er merkte, wie seine Hand begann, unkontrollierbar zu zittern. Ich lege sie alle um,hatte er gesagt, ihr werdet schon sehen …Er versuchte sich vorzustellen, wie dieser Mann vor ihm einfach nicht mehr aufstand. Wie er für immer liegen blieb. Wie er nie wieder eine Konservendose auf einem Schiff öffnete und nie wieder in seiner eigenen Sprache fluchte. Er konnte es sich nicht vorstellen. Das Zittern seiner Hände war jetzt so stark geworden, dass es seinen ganzen Körper erfasste wie ein Anfall von Schüttelfrost.

Lange, lange stand er so da und versuchte Herr über seine zitternden Hände zu werden. Und schließlich ließ er die Mauser sinken, drehte sich um und ging über den Strand davon. Seine Schritte waren schwer und in seiner Tasche brannte die Karte mit all ihren einzelnen Zeichnungen wie Feuer. Er würde sie vernichten. Sie ins Meer werfen. Zerreißen. Verbuddeln. Er musste erst noch über ein angemessenes Begräbnis nachdenken für dieses gefährliche Stück Papier. Eine Weile wanderte er ziellos durch die Nacht, um seine zitternden Hände zu beruhigen, zwischen kargen Büschen und schlafenden Leguanen hindurch.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er zu der kalten Feuerstelle zurückkehrte, neben der Marit schlief. Geschlafen hatte. Marit war verschwunden. Nur ein Abdruck im Sand zeugte davon, wo ihr Körper gelegen hatte. Drei schlafende große Vögel – ein Albatros, ein Pinguin und ein Flamingo – bildeten einen lebendigen Rahmen um den Abdruck.

Lied der Wasserleguane

Siehst du’s auf den Felsen sitzen?

Schwarz und rot, voll Zackenspitzen?

Siehst aus trägen Augenschlitzen

du den Schalk bisweilen blitzen?

Wir? Lebendig? Nein.

Das muss ein Irrtum sein.

Wir sind aus Stein.

Du sahst uns Feuer spei’n …?

Alles Trug und Schein. Wir blasen

nur das Salz aus unsren Nasen,

das wir in den Trockenphasen

aus des Ozeans Wasser lasen.

Ja, wir sind die letzten Drachen,

doch entfachen wir im Rachen

keine tödlicheren Sachen

als ein leises Lachen.

No tienes hermano
Du hast keinen Bruder

Marit schlief nicht die ganze Nacht fest und traumlos. Irgendwann glitt sie hinüber in den Bereich der deutschen Träume, den sie nicht abschütteln konnte. Vielleicht geschah es in dem Moment, als José aufstand und fortging. Sie fiel aus der Schlafschwärze in einen frühen grünen Frühlingstag, noch kalt vom letzten Wind des Winters.

Sie merkte, dass sie mit einer Gruppe von Leuten außerhalb der Stadt unterwegs war, auf einer schmalen Straße. In den Gärten rechts und links blühten Tulpen und Narzissen. Dann ließen sie die Gärten hinter sich und wanderten auf ein Feld hinaus.

Sie sah sich um: Da waren Julia und ihre Mutter, Frau Edler aus dem zweiten Stock mit ihren beiden kleinen Kindern, die sie irgendwie in einem einzigen Kinderwagen untergebracht hatte, Frau Adam und Richard mit seiner Mutter. Irgendwo über einem Feld sang hoch in der Luft eine Lerche.

Und dann wusste Marit es: Sie befanden sich auf einem Osterspaziergang. Es waren noch einige Wochen, bevor sie die Nachricht bekommen würden, dass Papa in Frankreich vermisst war. Und vor der Nacht, in der die Häuser brennen würden.

»Nächste Ostern sind eure Väter wieder da«, sagte Frau Adam. »Wartet’s nur ab. Nächstes Jahr um diese Zeit ist der Krieg längst Vergangenheit.«

»Natürlich«, sagte Richard. »Nächstes Jahr um diese Zeit haben wir gesiegt. Dann können wir unseren Osterspaziergang in Paris machen, oder in London.« Er grinste. »Nach Polen hat der Hitler ja schon einen Spaziergang gemacht, was? Wenn du erwachsen bist«, sagte er zu Julia und lachte, »kannst du mit deinen Kindern in Hinterindien spazieren gehen. Das gehört dann alles uns, der ganze Globus, wirst schon sehen.«

Er lachte wieder, und Julia lachte auch, weil sie noch klein war und nichts begriff.

Sonst lachte niemand.

»Sprechen wir nicht vom Krieg«, sagte Mama leise.

»Sie haben wohl was gegen den Krieg, wie?«, fragte Richard und sah Mama lauernd von der Seite an. »Sie sind wohl nicht dafür, dass wir uns den Raum in der Welt schaffen, der uns zusteht?«

»Richard, bitte. Es ist Ostern«, sagte Richards Mutter. Sie war eine kleine Frau, viel kleiner als Mama, mit einem freundlichen Gesicht und etwas zu großer Nase. Aus irgendeinem Grund ließ diese Nase sie immer ein wenig verschüchtert wirken.

Richard schnaubte. »Ja, Ostern!«, sagte er. »Ein durch und durch germanisches Fest. Das ganze verweichlichte Kirchgetue, das hat gar nichts damit zu tun! Das haben sich Leute ausgedacht, die die germanischen Bräuche schwächen wollten. Uns von der Natur entfremden. So ist das nämlich.«

»Du redest Unsinn«, sagte Marit leise.

Sie waren alle stehen geblieben. Richard trat ganz nah an Marit heran und sah auf sie hinab. »So? Ist es das?«, fragte er. »Ich werd dir eins sagen: Du und deine Mutter und dein Vater, ihr glaubt, ihr seid so schlau. Nur, weil deine Mutter mal studiert hat. Und dein Vater, der Herr Lehrer – als ob der was wüsste! Gar nichts weiß der. Jetzt muss er kämpfen, jetzt wird er sich wundern. Aber wahrscheinlich kämpft er gar nicht. Wahrscheinlich läuft er weg. Ihr wolltet doch immer schon weglaufen. Auswandern. Stimmt’s nicht? Irgendwelche blöden Schmetterlinge erforschen. Ich habe euch im Hof reden hören.«

Marit warf ihrer Mutter einen unsicheren Blick zu. War es verboten, über Schmetterlinge zu reden? Man konnte das nicht genau wissen. Neuerdings änderte es sich täglich, worüber man reden durfte.

»Ich – ich werde eines Tages kämpfen«, sagte Richard. »Vielleicht schon bald. Und ich werde vor niemandem weglaufen. Ich lege sie um, all die Juden und die anderen da draußen … Ich bin nicht so ein Feigling wie die Väter von gewissen anderen Leuten.«

Mamas Hand schnellte so rasch vor, dass Marit es kaum sah. Sie hörte nur das Klatschen, als die Hand auf Richards Wange landete.

»Halt jetzt den Mund, Richard«, sagte Mama scharf. »Du weißt überhaupt nicht, wovon du redest. Du verdirbst uns noch das ganze Osterfest.«

Richard fing einen flehenden Blick von seiner eigenen Mutter auf und verstummte, aber Marit sah, dass er rot angelaufen war vor Wut und Scham. Eine Weile wanderten sie schweigend weiter durch die grüne Vorfrühlingslandschaft. Ihr Grün hatte jetzt etwas Kaltes.

Und als sie auf einer Wiese den Picknickkorb abstellten, beugte sich Richard beim Auspacken ganz dicht zu Marit, wie zufällig. »Warte nur«, flüsterte er. »Das wird sie bereuen, deine feine Mutter. Irgendwann habe ich was zu sagen. Irgendwann zahle ich es ihr heim. Und dann werdet ihr an mich denken.«

Marit fuhr hoch und sah sich um, schwer atmend. Sie befand sich nicht auf einer Wiese vor Hamburg und da war kein Picknickkorb. Zum Glück auch kein Richard. Der Himmel über ihr wurde langsam hell und entblößte eine karge Landschaft, bewachsen mit dichtem, niedrigem Dornengestrüpp. Vor ihr fiel der Boden allmählich ab, in der Ferne lag das Meer, blau und unendlich. Sie rieb sich die Augen. Natürlich. Galapagos. Marchena. Sie war noch immer hier.

Aber wo warsie? War sie nicht am Strand eingeschlafen, neben einer verglimmenden Feuerstelle? Neben José? Jetzt befand sie sich auf einem Berg. Sie musste den ganzen Osterspaziergang im Schlaf gemacht haben, jeden einzelnen Schritt. Hatte José ihr nicht versprochen, über ihren Schlaf zu wachen, solange Casaflora in der Nähe war?

Vor ihr stieg der Berg noch ein wenig an, sie befand sich kurz unterhalb seines Gipfels. Doch der Gipfel war kein Gipfel, es sah aus, als hätte jemand ihn abgeschnitten. Und Marit erinnerte sich daran, was Mama über die Vulkane vorgelesen hatte: Vor Urzeiten hatte der Meeresboden sich aufgewölbt und die Inseln mit einem Strom heißer Lava aus dem Meer emporgeschleudert.

Marit stand auf und wanderte langsam weiter aufwärts über den trockenen Boden. Sie hatte noch nie einen Vulkan von Nahem gesehen. Der obere Rand, das war die Caldera, sie erinnerte sich an das Wort. Und dann stand sie dort, auf der Caldera, und alles war ganz anders, als sie gedacht hatte.

Sie hatte geglaubt, ein kreisrundes Loch vor sich zu haben und in finstere Tiefe zu blicken wie in einen riesigen Brunnen. Doch der Krater war angefüllt mit lange erkalteter Lava, Moose und Flechten überwucherten die Felsen und einige niedrige Büsche krallten sich dazwischen fest. Das Kraterinnere lag vor ihr wie ein Tal mit sanft abfallenden Hängen, deren Gestein in seltsamen Farben angemalt war: Feuerrote und gelbe Ablagerungen leuchteten zwischen dem Schwarz der Lava. Zwischen den Steinen stieg an unzähligen Stellen Dampf empor, und Marit roch jetzt den Schwefel, den durchdringenden Geruch fauliger Eier. Etwas regte sich dort unten, Marit spürte es. Der Vulkan grollte in seinem Innern, wie jemand, der im Schlaf unverständliche Worte murmelte. Schlief er wirklich? Wie fest schlief er, wie lange schon … und wie lange noch?

In der Mitte des Tals sah sie jetzt eine dünne Lavafontäne aufspritzen, und sie zuckte zusammen, obwohl die Fontäne sich gut zweihundert Meter weit weg befand. Es war ein abstruser Gedanke, aber … konnte es sein, dass sie den Vulkan geweckt hatte?

Sie ging auf der Caldera am Krater entlang, ohne den Blick von seinem Innern zu nehmen, sah es hier und da zwischen Steinen blubbern und Blasen werfen, heiß und tödlich.

»Mach besser, dass du hier wegkommst«, sagte sie zu sich selbst. Doch sie gehorchte sich nicht. Der Vulkan war zu faszinierend.

Da huschte etwas über ihren Fuß und sie sah hinunter. »Carmen?«, fragte sie. Eine Schnauze reckte sich aus Marits Ärmel, die Ratte schnupperte, schien den Schwefel zu riechen und verkroch sich mit einem angewiderten Gesichtsausdruck wieder. Sie war es nicht gewesen, die über Marits Fuß gehuscht war. Sie sah sich um. Es war kein anderes Tier da. Nur die rot-schwarzen Zacken der Felsen starrten in den warmen, regenlosen Himmel.

Dann regte sich einer der Felsen. Marit erschrak. Es war, als bewegte sich der Felsen in mehrere Richtungen gleichzeitig, als würde er atmen und sich winden … Nein. Es war nicht der Felsen, der sich bewegte. Es waren die Tiere darauf, jetzt erkannte sie sie: große rot-schwarze Echsen mit zackenbewehrten Rücken und langen, schuppigen Schwänzen wie kleine Drachen.

Leguane. Dieselbe Sorte, die sie schon am Strand gesehen hatte. Aber hier, auf dem Gestein, waren sie beinahe unsichtbar. Ihre Köpfe waren kürzer, höckeriger und stacheliger als die der gelben Leguane auf Santiago, und es war, als hätten sie keine Hälse.

»Oje«, sagte Marit und verkniff sich ein Lachen. »Ihr seid aber hässlich.«

Sie bückte sich, streckte die Hand nach einem der Tiere aus … und es zögerte einen Moment. Dann peitschte es in einer plötzlichen hektischen Bewegung mit seinem Schweif den Staub auf und huschte den Berg hinunter. Die anderen Leguane folgten. Nach einer Weile drehte das Tier, nach dem sie die Hand ausgestreckt hatte, sich nach Marit um. Seine kleinen Augen fixierten sie mit großer Entschlossenheit.

»Komm!«, schien es zu sagen. »Komm, komm! Hier ist kein guter Ort zum Bleiben!«

»Du hast recht«, sagte Marit und folgte dem Leguan den Berg hinunter. »José fragt sich sicher schon, wo ich bin.« Sie merkte jetzt, wie trocken ihr Mund und wie groß ihr Durst war. In Josés Kanister gab es noch einen Rest Wasser.

Sie beeilte sich, dem Leguan zu folgen. Die Dornbüsche schienen nach ihr zu greifen und sie festhalten zu wollen, sie rissen an ihrer Hose und ihrem Hemd, und stellenweise waren sie hoch genug, um ihre Wangen zu zerkratzen.

Als Marit endlich in der Ferne den Strand sah, atmete sie auf. Die Leguane hatten sie verlassen – bis auf einen, der immer noch neben ihr herrannte.

»Hey, du«, sagte sie. »Hast du dich etwa auch entschieden, bei mir zu bleiben? Wenn José dich sieht, bekommt er einen Anfall. Schleppst du schon wieder ein neues Tier an?, wird er sagen. Aber mach dir keine Sorgen. Er tut immer so hart, aber eigentlich ist er …«

Sie verstummte, und der Leguan erfuhr nie, was José eigentlich war. Sie hatten den Strand erreicht. Doch da war kein José. Keine alte Feuerstelle. Keine Mariposa, die draußen vor Anker lag. Kein Casaflora, der mit einer Schiffsschraube kämpfte. Da war gar nichts.

Es gab nicht einmal Spuren im weißen Sand. Es war, als wäre nie jemand hier gewesen.

Der Leguan war ins flache Wasser gelaufen, tauchte jetzt wieder auf und sprühte eine winzige Wasserfontäne aus seinen Nasenlöchern. Natürlich, diese Sorte von Leguan gehörte ins Wasser. Marit erinnerte sich, dass sie das Salz aus dem Wasser filterten. Leguane hatten niemals Durst. Sie trat neben ihm ans Wasser, bückte sich und fuhr dem seltsamen Tier über den rauen Rücken.

»Verstehst du, wo alles hingekommen ist?«, flüsterte sie. »Verstehst du, was hier los ist?«

José wartete lange auf Marit. Irgendwann wurde der Morgen zu hell, um ihn zu ignorieren, und Casaflora wachte auf und knurrte einen Morgengruß herüber. Er sah nicht in seinem Rucksack nach, ob die Karte noch da war. José ging zu ihm, das Gewehr über dem Arm, und sie teilten schweigend ein wenig hartes Brot aus einer weiteren Dose. Wasser gab es nur schluckweise.

»Noch ein Kanister ist auf der Mariposa«, murmelte Casaflora. »Nur noch einer.«

»Ich werde Wasser suchen«, sagte José. »Irgendwo muss sich das Regenwasser gesammelt haben. Aber zuerst muss ich Marit suchen.«

»Wo ist sie?«

»Wenn ich das wüsste«, meinte José, »brauchte ich sie ja nicht zu suchen.«

Casaflora begleitete ihn ein Stück in den Busch und sah sich nach Steinen um, mit denen er die Schraube zurechtklopfen konnte.

»Sieh zu, dass du sie findest«, sagte er, ehe sie sich trennten.

»Sie machen sich Sorgen«, stellte José erstaunt fest.

Casaflora nickte. »Natürlich mache ich mir Sorgen.«

»Dann kommen Sie mit, sie suchen.«

»Sie ist deine Schwester«, sagte Casaflora, »nicht meine. Die Rollen sind festgelegt. Ich bin der böse alte Mann, schon vergessen?«

José ging kopfschüttelnd weiter. Er dachte an die Nacht zurück und an die Karte in seiner Tasche. Er dachte an das Gewehr über seiner Schulter und daran, dass er es nie benutzen würde, um einen Menschen zu erschießen, weil er es nicht konnte. Er musste mit Marit über all das reden. Nie hatte er so dringend mit jemandem reden wollen.

»Komm schon!«, sagte er laut. »Wo bist du?«

Und dann begann er zu rufen. Er ging kreuz und quer durch den Busch, rief und rief, rief sich heiser – und bekam keine Antwort. Nur ein paar rot-schwarze Leguane kreuzten seinen Weg und verfolgten ihn stumm mit ihren beweglichen Augen. Der Durst in seiner Kehle wuchs und er hob einen kleinen Stein auf und schob ihn im Mund hin und her. Die Abuelita hatte einmal gesagt, das würde gegen Durst helfen. Aber offenbar war es nur eine ihrer Geschichten, denn es half nicht. Irgendwann fand José sich oben auf der Caldera des Vulkans wieder, umgeben von Schwefeldämpfen. Dicke gelbliche Wolken stiegen aus dem Krater und an einigen Stellen ragten die toten Finger verdorrter schwarzer Büsche zwischen den Felsen auf. Es war sehr still hier oben.

Kein Vogel sang, keine Zikade zirpte, selbst der Wind schlief. Nur ein blauer Schmetterling torkelte vorbei, wie betrunken von den Dämpfen aus dem Erdinneren.

Du warst natürlich noch zu klein,flüsterte die Abuelita in seinem Kopf, als damals der Vulkan auf Isabela ausbrach. Zwei oder drei warst du, erinnerst dich nicht, was? An das Feuer. Und wie rot der Himmel war. Mit Vulkanen ist nicht zu spaßen. Die Unaussprechlichen kriechen aus der Tiefe des Pazifiks herauf durch den Krater und schwimmen mit der Lava nach oben …

José seufzte. »Du machst mich noch mal wahnsinnig mit deinen Unaussprechlichen«, sagte er laut. »Dieser Vulkan schläft. Er atmet beim Schlafen, das ist alles.« Er ging ein Stück auf der Caldera entlang und rief weiter nach Marit, aber der Schwefel stieg in seine Lungen und schien sich dort festzusetzen wie ein Vorgeschmack der Hölle.

Dann fiel ihm etwas ins Auge, das auf einem Felsen lag, ganz vorn am Kraterrand. Etwas braun Kariertes. Eine Mütze. Die Mütze, die Marits Mutter in ihrer letzten Nacht getragen hatte. War Marit hier gewesen? Oder hatte ein Vogel die Mütze in seinen Krallen hierhergetragen, so wie die Möwe damals den alten Teddybären?

José spürte ein Grollen unter sich im Berg, setzte die Mütze auf und beeilte sich, hinunterzukommen. Er würde bei der Feuerstelle am Strand auf Marit warten. Vermutlich war sie längst wieder da. Vielleicht hatte sie sogar irgendwo Wasser gefunden.

Weiter unten am Berg sangen die Vögel wieder, bunte Flecken aus Federn leuchteten zwischen dem Graubraungrün der Dornen und José atmete auf. Hinter ihm blieb die Caldera des Vulkans einsam und tot zurück, inmitten von Schwefeldämpfen.

Als er beinahe unten war, sah er Casaflora über den Strand laufen, die Schiffsschraube noch in der Hand, und ins Gebüsch tauchen. Er blieb stehen. Und dann sah er, was Casaflora gesehen hatte. Ein Boot kam in die Bucht, in der auch die Mariposa lag, ein kleines helles Boot mit einem dunklen Schriftzug an der Seite. Der Mast schien in der Mitte dicker zu sein, als hätte man dort ein zweites Stück Holz als Verstärkung drangeschraubt. War dieser Mast in der Mitte geflickt? War er in einem Sturm vor nicht allzu langer Zeit gebrochen?

Das Segel wurde eingeholt, das Boot ankerte ein Stück entfernt von dem honigfarbenen Flecken, der ohne Schiffsschraube auf den Wellen schaukelte, näher am Strand. Es hatte weniger Tiefgang als die Mariposa. Und jetzt sprang jemand heraus, um an Land zu waten. Jemand, dem Casaflora entgegensah.

José duckte sich zwischen die Büsche und lief los, gebückt, unsichtbar.

Kurz darauf lag José auf dem Bauch zwischen den niedrigen Büschen, nahe der Stelle, an der Casaflora saß. Vor seinen Augen wanderte eine handgroße feuerrote Krabbe mit langen Stielaugen vorbei, in einer komplizierten vielbeinigen Seitwärtsbewegung. Es sah aus, als würden ihre Beine jeden Moment vollkommen durcheinandergeraten. Irgendwo über ihm schrie ein Bussard. Er hob den Kopf und sah ihn kreisen. Die Bussarde auf den Inseln ernährten sich von Aas. Hatte der Bussard irgendwo einen toten Körper entdeckt?

»Hallo?« Der fremde Segler stand jetzt am Strand und rief: »Hola?«

Als würde ihm jemand antworten, wenn er auf Spanisch rief!

José hörte, wie Casaflora sich hinter seinem Busch bewegte, unruhig. Er wusste nicht, dass José hier war, ganz nah … Der Fremde war bei ihrer alten Feuerstelle angekommen, kniete nieder und untersuchte die kalte Asche. Oskar, der ein Bad genommen hatte, kam aus dem Wasser gewatschelt und beobachtete den Mann misstrauisch, als wollte er sagen: Das ist unsere Feuerstelle. Was wollen Sie hier? Auch Kurt der Albatros näherte sich vorsichtig, und Eduardo stakste auf seinen langen rosafarbenen Beinen heran. Sie waren alle in der Nähe geblieben. Nur Carmen fehlte.

Der Fremde streckte eine Hand nach Oskar aus und Oskar wich zurück. Kurt schlug mit seinen riesigen schmalen Flügeln, wie um den Pinguin zu schützen, und der Fremde wich kopfschüttelnd zurück. Dann hob er etwas aus dem Sand auf. Den Teddybären. Marit hatte ihn mit an Land genommen und im Sand liegen lassen. Wie seltsam musste das alles für den Fremden aussehen! Er ging an einer unbewohnten Insel an Land und fand einen halben Zoo und einen Teddybären.

Der Fremde presste den Bären kurz an sein Gesicht, wie um seinen Geruch einzuatmen, und steckte ihn in die Tasche.

Und da wusste José, wer er war. Waterweg. Marits Onkel. Er musste es sein, sie hatte recht gehabt mit ihrer Vermutung. Aber wie war es ihm gelungen, mitten auf dem Pazifik, mitten in einem Sturm einen Mast zu reparieren?

Er kam jetzt über den Strand herauf, zögernd, suchend. José sah sein Gesicht durch die Dornenäste der Pflanzen hindurch. Er besaß die gleichen hellen Augenbrauen wie Marit, das gleiche helle Haar. Und als wollte er die letzten Zweifel fortwischen, legte er die Hände an den Mund und rief laut seinen Namen. »Ich bin es, Waterweg!« Erst auf Spanisch, danach auf Englisch, und schließlich in einer Sprache, die Deutsch sein musste. Er rief noch mehr auf Deutsch – Worte, die José nicht verstand. Worte, die dazu führten, dass Casaflora aufstand.

»Ich bin hier«, sagte er.

Waterweg bahnte sich einen Weg durch die Dornen. »Was ist das für ein Versteckspiel?«, fragte er und streckte seine Hand aus. Casaflora nahm sie nicht. Und als Waterweg noch etwas auf Deutsch hinzufügte, antwortete er auf Spanisch.


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