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Die geheime Reise der Mariposa
  • Текст добавлен: 17 октября 2016, 01:01

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Автор книги: Antonia Michaelis



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Carmen erreichte die Mariposa als Erste.

Kurz darauf kletterte Jonathan die kleine metallene Leiter am Heck hoch und zog José ins Boot. »Sieh nach«, wisperte José und ließ sich auf eine der Bänke fallen, »ob jemand in der Kajüte ist. Ich wüsste nicht, wer … aber sieh nach!«

Die Tür zur Kajüte klemmte. »Ich kriege sie nicht auf«, sagte Jonathan voller Unbehagen. »Hilf mir mal.« Als José sich von der Bank erhob, packte ihn wieder der Schwindel.

Sie zogen gemeinsam am Griff der kleinen Tür, und José hatte das ungute Gefühl, dass sie sich nicht öffnen würde. Jemand hatte sie zugeschlossen. Von innen. Jemand … In diesem Moment gab die Tür plötzlich nach. Jonathan und José fielen rückwärts auf die Decksplanken. Jonathan setzte sich als Erster auf.

»Oh«, sagte er, »ich muss die Kajütentür offen gelassen haben. Das Abwaschwasser wollte ich eigentlich auch noch auskippen …«

Er half José hoch, und da sah auch er das merkwürdige Bild, das sich ihnen in der Kajüte bot. Unter dem Tisch stand ein Eimer Wasser mit einem badenden Pinguin darin. Den Geschirrlappen hatte der Pinguin aus dem Eimer hinausbefördert, und er war auf der Schwelle der Kajütentür gelandet, wo er sich verklemmt hatte, als die Tür vom Wind zugeschlagen worden war.

Auf dem Tisch stand der Topf mit den Resten der Krabbensuppe. Und daneben stand ein Flamingo. Er hatte den schlanken Hals gebeugt und steckte mit dem krummen Schnabel in der Suppe. Offenbar war er dabei, sie zu filtern. Und er sah aus, als schmeckte ihm, was er fand. Als er die beiden Jungen sah, hüpfte er vom Tisch und stakste umständlich die vier Stufen von der Kajüte hoch an Deck.

»Besser, du fliegst weg«, sagte Jonathan. »Deine Leute sind auch nicht mehr da. Aber du weißt sicher, wo sie hingeflogen sind.«

Der Flamingo flog aufs Kajütendach und sah sich um. José hatte in seinem Leben eine Menge Flamingos gesehen. Sie brüteten in der Nähe des Hafens von Villamil, auf Isabela. Aber nie hatte er einen gesehen, der so ratlos wirkte.

»Ich glaube, er hat keinen blassen Schimmer«, meinte Jonathan. »Wo sie hingeflogen sind, meine ich.«

»Dann … soll er irgendwohin fliegen!«, rief José. »Ksch! Weg! Hau ab!«

Aber die große blaue Weite des Himmels über dem Pazifik, an dem nirgendwo ein Schwarm seiner Artgenossen zu sehen war, schien dem Flamingo mehr Angst einzujagen als dieser nasse Mensch, der mit den Armen fuchtelte. Er schüttelte sich und kehrte zurück unter Deck, um weiter Suppe zu filtern.

José seufzte. »Wir sind doch nicht die Arche Noah!«

Jonathan lachte. »Die Mariposa hat inzwischen eine stattliche Besatzung, was? Ein Flamingo, der nicht fliegen will, ein Pinguin, der nicht mehr schwimmen kann, und eine Ratte, die nicht an Land gehen möchte. Und der Einzige, der das Boot segeln kann, hat eine Gehirnerschütterung.«

»Nein.« José schüttelte langsam den Kopf.

»Nein?«

»Ich bin nicht der Einzige, der die Mariposa segeln kann. Du wirst sie segeln. Du musstes tun. Ich schaffe es nicht.«

Sie teilten sich eine Dose mit kaltem Rindfleisch und öffneten eine mit Fisch für Oskar, und dann erklärte José Jonathan, was er mit Tauen und Segeln zu tun hatte. Es dauerte eine Ewigkeit, aber schließlich fing sich der Wind in den Segeln der Mariposa, und sie glitt sacht über die Wellen, fort von Santiagos Küste. José hatte Jonathan auch den Kompass erklärt, der über der Kajütentür in einer großen Glaskugel eingelassen war und mit dem Boot schwankte, aber er wusste nicht, ob Jonathan verstanden hatte, wie man danach steuerte. Es war ihm egal. Als die ersten größeren Wellen nach der Mariposa griffen, erbrach er sich über die Reling, und danach legte er sich auf die schmale Backbordbank und versuchte, nicht daran zu denken, wie verquer alles war.

»Der Wind, weißt du?«, sagte Jonathan. »Er hat gedreht. Wenn die Mariposa in ihrem Versteck geblieben wäre, hätte er sie gegen einen der Felsen gedrückt. Ist es nicht merkwürdig, dass sie sich selbst gerettet hat?«

»Hmm«, machte José.

Sich selbst gerettet, was?,höhnte die Abuelita in seinem Kopf. Unsinn! Das Schiff eines Toten rettet sich nicht selbst. Hast du die Unaussprechlichen schon vergessen, die in der Tiefe wohnen? Er hat sie gerufen. Er ist noch an Bord, der tote Segler. Er liebt sein Schiff genau wie zu seinen Lebzeiten, er lässt es nicht im Stich. Behandelt es nur gut, das Honigboot! Wer sein Schiff so liebt, dass er es noch nach seinem Tod bewacht, mit dem ist nicht zu spaßen …

»Casaflora bewacht die Mariposa noch nach seinem Tod?«, murmelte José. »Abuelita, du hast sie nicht mehr alle. Und jetzt verschwinde aus meinen Gedanken und lass mich schlafen, ja?«

»José?«, fragte Jonathan. »Schläfst du? Du kannst jetzt nicht schlafen! Ich weiß nicht, wie … José?« José rührte sich nicht. Sicher, er brauchte Ruhe. Aber Jonathan brauchte ihn. Er betrachtete die schlafende Gestalt eine Weile, betrachtete das schwarze Haar, das seitlich von Blut verklebt war. Es war nur eine Platzwunde und darunter begann sich eine ansehnliche Beule zu bilden. Würde ein Streifschuss eine solche Wunde verursachen? Eigentlich nicht, dachte Jonathan. Jemand hatte José einen schweren, stumpfen Gegenstand über den Kopf gezogen. Etwas wie den Fuß einer Stehlampe.

Aber er hatte jetzt über Wichtigeres nachzudenken. Wie sollte er allein ein Schiff durch die Unendlichkeit des Pazifiks steuern?

Natürlich war er nicht allein. Neben ihm auf der seitlichen Bank saßen Oskar und der Flamingo, und Carmen war damit beschäftigt, ein Tau anzunagen. Jonathan hoffte, dass es kein wichtiges Tau war.

»Hör mal, Flamingo«, sagte Jonathan, »ich werde dich Eduardo nennen. Ist dir das recht?«

Der Flamingo antwortete nicht. Auch unter dem Namen Eduardo war er keine große Hilfe beim Steuern eines Schiffs. Wenn nur der Wind nicht zunahm! Solange alles so blieb, wie es war, genügte es, das Steuer festzuhalten und darauf zu achten, dass der verwirrend bewegliche Kompass in der gleichen Stellung blieb. Bei der kleinsten Bewegung der Mariposa schwappte er in seinem Glasgehäuse umher wie ein eigenes Meer und Jonathan wurde ganz übel vom Hinsehen. Und er fror. Plötzlich merkte er, wiesehr er fror.

Der Tag sank schon auf den Horizont zu. Sie hatten beide gehofft, dass die Sonne ihre nassen Kleider bis zum Abend trocknen würde, doch sie hatte es nicht ganz geschafft. Und jetzt kam die Nacht, die lange, kalte, windige Nacht, in der es keine Positionslichter geben würde, schon deshalb nicht, weil Jonathan nicht wusste, wie man sie anzündete.

Und auch José schlief in seinen feuchten Sachen.

Er besaß eine zweite Garnitur Kleidung im Rucksack. Und da waren die alten Kleider unter Deck, von denen er Oskars Verband abgerissen hatte. Jonathan hakte das Steuerruder fest. »Tu es nur, wenn es nicht anders geht«, hatte José gesagt. »Nur, wenn der Wind es erlaubt. Und nur ganz kurz, hörst du?«

Er beeilte sich, in die Kajüte hinabzukommen, und öffnete Josés Rucksack. Diesmal spürten seine Hände auf dem Boden des Rucksacks Papier. Die Karte. Nein, er hatte jetzt keine Zeit, sie sich anzusehen. Die Kleider, die er in den Händen hielt, waren steif vom Salzwasser. In diesen Sachen war er über Bord gesprungen. Wie lange das her zu sein schien!

Er fragte sich, ob er es noch einmal tun würde. Er würde José bis zur Isla Maldita begleiten, so viel war klar … aber was war dann? Würde er dann ins Meer zurückkehren, in den Tod, zurück zu seiner Familie? Er war sich nicht mehr sicher.

Er kletterte wieder an Deck, kontrollierte den Kurs und kam sich beinahe schon vor, als könnte er tatsächlich segeln. Oskar, Eduardo und Carmen beobachteten ihn, während er José mühsam seinen nassen Kleidern entwand.

Einen Moment lang betrachtete er den Körper vor sich. Von Nordwesten zogen Wolken herauf wie in den Nächten zuvor, doch noch schien der Mond. Auf Josés Oberkörper prangten mehrere dunkle Blutergüsse. Was war auf Santiago geschehen? Wer hatte ihn – und womit – verprügelt? Wie still er dalag! Jonathan legte eine Hand auf seine Brust, spürte Josés Herzschlag und atmete auf. Eine Weile ließ er die Hand dort liegen. Es tat gut, das Leben zu fühlen, das warme Leben eines anderen Menschen in der weiten, stillen Nacht. Beinahe fror Jonathan nicht mehr. Aber auf Josés Armen hatte sich eine Gänsehaut gebildet und er zitterte im Schlaf. Jonathan beeilte sich, ihm die trockenen Kleider überzuziehen. Dann schleifte er ihn die Stufen hinunter, bettete ihn auf eine der Bänke und breitete die Wolldecke über ihn. Es war ein Wunder, dass er von all dem Geziehe und Gezerre nicht aufwachte.

Jonathan hängte Josés nasse Kleider über den Tisch und beschwerte sie zur Sicherheit mit dem schläfrigen Oskar. Der Flamingo Eduardo leistete ihm bereitwillig Gesellschaft und Carmen kringelte sich zum Schlafen in Josés Armbeuge zusammen. Jonathan kehrte allein zurück an Deck, unter dem Arm das Bündel alter Kleider. Sie rochen nach Fäulnis und Tabak.

»Die Kleider eines Toten«, flüsterte er.

Aber es waren trockene Kleider. Der Saum des Hemds fehlte, er hatte sich in Oskars Verband verwandelt. Jonathan schlug die Ärmel und die Hosenbeine mehrfach um und fand einen Strick, den er als Gürtel benutzte.

Als er das Steuer wieder losmachte und sich umsah, sah er hinter der Mariposa plötzlich ein anderes Schiff. Es war weit weg, zu weit, um Genaues erkennen zu können. Aber es kam Jonathan vor, als wäre dies ein kleineres Schiff, kleiner als die Roosevelt. Das Mondlicht wich, der Himmel verdunkelte sich und er fand das Schiff nicht wieder. Hatte er sich getäuscht? War es am Ende gar kein Schiff gewesen, sondern nur die weiße Gischt auf den Wellen? Die weiße Gischt, dachte Jonathan. Überall war jetzt weiße Gischt.

Der Wind hatte zugenommen. Die Wolken bedeckten den Himmel als dichte Wand. Sekunden später fielen erste Regentropfen. Die Mariposa legte sich schräg und Jonathan vergaß jeden Gedanken an das andere Schiff.

»José!«, rief er. »José, wach auf! Was soll ich tun? Was…?«

Das Prasseln des Regens verschluckte seine Worte beinahe. Und natürlich hörte José ihn nicht, von dort, wo er unter Deck schlief. Niemand hörte ihn. Niemand. Er war vollkommen allein.

Die Wellen, die die Mariposa durchkämmte, spuckten salzige Fontänen, und die Leereling an der windabgewandten Seite tauchte ins Wasser ein – es schwappte an Bord und leckte an Jonathans Füßen. Er kletterte auf die Luvreling. Die Segel der Mariposa waren straff und windgefüllt wie nie zuvor. Sie schoss nur so dahin – aber schoss sie noch in die richtige Richtung? Jonathan konnte den Kompass nicht mehr sehen. Das Regenwasser lief ihm in die Augen. Er klammerte sich am Steuer fest. Was tat man, wenn der Wind zu stark wurde? Hatte José etwas darüber gesagt? Er musste etwas tun. Er konnte nicht segeln. Er konnte ein Steuer halten, aber er konnte verdammt noch mal nicht segeln! Panik stieg in ihm auf, machte seine Kehle eng und ließ in seinem Kopf einen hohen Ton entstehen wie das Heulen einer sich nähernden Rakete.

Und dann wusste er es.

Er konnte nicht segeln. Er würde nicht segeln.

Die Mariposa hatte einen Motor. Er hatte ihn gesehen, er wusste, wo der Anlasser war … Es wäre ganz einfach. Aber zuerst musste er die Segel herunterbekommen, und das war nicht einfach. Er stellte das Steuer fest, obwohl er wusste, dass es der Wind diesmal nicht zuließ. Welches war das Großfall, das er lösen musste, damit das Großsegel herunterkam? Er probierte verschiedene Taue durch – und schließlich fand er das richtige. Die Spitze des Segels löste sich und rutschte ein Stück den Mast hinunter. Doch das Segel lief in einer Nut im Mast, und darin klemmte es fest, es würde nicht von selbst herunterkommen. So kletterte er auf der windzugewandten, erhobenen Luvseite die Reling entlang, über die Kajüte nach vorn, mitten im peitschenden Regen. Das Schiff lag so schräg, dass er sich mit den Füßen auf der seitlichen Kajütenwand abstützen konnte. Dann war er beim Mast, griff mit beiden Händen ins Segel und zog. Es ließ sich kaum bewegen. Der Wind straffte es noch immer, die Mariposa schoss noch immer durch die Wellen dahin … Jonathan kämpfte mit seinem Gleichgewicht – er würde es nicht schaffen. Er konntees nicht schaffen. Tränen der Wut und der Angst vermischten sich auf seinem Gesicht mit dem Regen.

Und dann rutschten seine bloßen Füße auf dem glatten Deck ab. Er verlor den Halt, schlug der Länge nach hin, schlitterte zur Leeseite hinunter und hing mit beiden Händen am Mast, die Arme gestreckt, die Füße bereits unten im Wasser, während die Mariposa ihre wilde, wahnsinnige Fahrt fortsetzte, herrenlos – ein Totenschiff, ein Todesschiff.

Jonathan schloss die Augen und betete. Er betete zu dem Gott, der verloren gegangen war. Er betete: Natürlich gibt es dich nicht, und es hat dich nicht gegeben, aber hilf uns. José glaubt an dich, und er liegt unter Deck und schläft, und vielleicht wacht er davon auf, dass die Mariposa sinkt. Lass ein Wunder geschehen! Nimm den Wind weg! Tu, was du für richtig hältst, aber tu etwas!

Als er »etwas!« dachte, erhob sich über Jonathan ein ohrenbetäubendes Geknatter, und zuerst dachte er, es wäre Gewehrfeuer. Aber es konnte kein Gewehrfeuer sein, hier, mitten auf dem Pazifik, nicht wahr? Er merkte, dass die Mariposa wieder gerade lag. Sie wurde noch immer von den Wellen hin und her geworfen, doch er rutschte nicht mehr auf ihrem Deck nach unten. Er sah auf, dorthin, woher das Knattern kam. Es waren die Segel. Beide Segel schlugen jetzt wild hin und her. Jonathan spürte, dass der Wind von vorn kam. Die Mariposa hatte ihre Nase in den Wind gedreht. Er zog sich am Mast hoch, griff wieder ins Segel – und diesmal, ohne den Druck des Windes, ließ es sich herunterziehen, Stück für Stück. Die Fock, das Vorsegel, ließ sich mittels eines Seils um das Vorstagsegel wickeln, um jenes Drahtseil, das die Mastspitze mit dem Bug verband. Aber er wusste nicht, mittels welchen Seils. So drehte er das Vorstag-segel mit den Händen, bis sich die Fock ganz darumgerollt hatte. Er fand ein Bändsel, wickelte es drum herum und verknotete es, damit sie sich nicht wieder ausrollen konnte. Dann atmete er tief durch und ließ sich aufs Deck fallen. Einen Moment saß er einfach nur so da.

Und dann hörte Jonathan durch das Prasseln des Regens hindurch ein anderes Geräusch, und er merkte, dass der Wind nicht mehr von vorn kam. Das Geräusch war das des Motors. Hatte er vorhin am Anlasser gezogen?

Er sah nach hinten, und dort stand jemand am Steuer, ein Schemen zwischen Regen und Dunkelheit. José war aufgewacht. Ein Glück!

»Was muss ich mit dem Großsegel tun?«, rief Jonathan. Das Segel lag in unordentlichen Falten auf dem Baum, in die der Wind wieder hineinfuhr. Er erinnerte sich daran, dass José es beim Ankern ebenfalls mit einem Tau umwickelt hatte. Doch José schien seine Frage nicht gehört zu haben. Jonathan schnappte sich das erstbeste Tau und schlang es um Segel und Baum. Vorerst würde es halten. Seine Knie zitterten, als er an der Kajüte vorbei zurück zum Heck kletterte. Er musste auf jeden Schritt achten, um nicht danebenzutreten und noch einmal zu stürzen.

Erst als er ganz hinten war, sah er auf. Das Steuerruder stand festgehakt, wie er es verlassen hatte. José war nirgends zu sehen. War er überhaupt da gewesen? Auf einmal kam es Jonathan vor, als wäre die Person, die er am Steuer gesehen hatte, größer gewesen als José. Kein Junge: ein Mann. Ein Mann, dem die Kleider gepasst hätten, die jetzt, getränkt vom Regen, an Jonathans zu schmächtigem Körper klebten.

Ein Toter.

Was hatte José gemurmelt, halb im Traum schon? »Casaflora bewacht die Mariposa noch nach seinem Tod.« Wer war dieser Casaflora gewesen? Liebte er die Mariposa wirklich so sehr, dass er sie nicht verlassen konnte? Oder gab es etwas anderes an Bord, das er bewachte?

»Unsinn«, flüsterte Jonathan. »Fange ich etwa an, daran zu glauben, dass ein Geist hier an Bord umgeht? Die Mariposa hat ganz allein ihren Kurs geändert, es lag am Wind. Und am Anlasser des Motors muss ich selbst gezogen haben. Ich war nur durcheinander.«

Zitternd hockte er sich neben das Steuer. Jetzt gab es wirklich keine trockenen Sachen mehr an Bord. Die Nacht war lang, und die Mariposa warf sich gegen die Wogen des offenen Meeres an wie ein trotziges, winziges Kind. Jonathan kämpfte mit dem Schlaf.

Als endlich die Sonne aufzog, fanden seine müden Augen am Horizont einen kleinen Punkt, der ein Schiff hätte sein können, das ihnen folgte. Von dorther kamen ein paar Möwen angesegelt, umkreisten die Mariposa eine Weile, merkten, dass es hier nichts zu holen gab, und strichen wieder davon. Eine der Möwen ließ etwas fallen, und erst dachte Jonathan, sie hätte einen erbeuteten Fisch verloren. Doch was er kurz darauf aus dem Wasser fischte, war ein Stück braunen, zotteligen Stoffs. Vermutlich hatte die Möwe gerade erst gemerkt, dass man es nicht essen konnte. Jonathan sah sich das Stoffstück genauer an. Es war kein Stoffstück. Es war ein kleiner alter Teddybär. Ein Bär, den Jonathan kannte. Zuletzt hatte er ihn auf der Isabelita gesehen, bei Waterwegs Gepäck. Dem Bären fehlte etwas. Eine rote Schleife. Sie befand sich in seiner Hosentasche.

Julias Bär.

Wie kam er hierher?

Lied der Delfine

Siehst du uns unter den Wogen liegen?

Siehst du, wie wir uns im Wasser wiegen?

Wir sind es, die dich riefen.

Sieh, wie wir schweben, sieh, wie wir fliegen!

Wir sind die Vögel der Tiefen.

Der Sinn dieses Lebens? Ach, frag nicht so viel,

es ist nur ein Spiel, ist alles ein Spiel.

Das Leben ist leicht, das Leben ist schön,

man braucht es nicht zu verstehn.

Siehst du uns auf den Wogen reiten?

Jenseits der Zeit und der Gezeiten,

mitten durch bläuliche Leere?

Sieh, wie wir kreisen, sieh, wie wir gleiten!

Wir sind die Tänzer der Meere.

Die Antwort? Die Wahrheit? Ach, frag nicht so viel,

es ist nur ein Spiel, ist alles ein Spiel.

Hörst du uns schnattern? Hörst du uns singen?

Siehst du uns lachen? Siehst du uns springen?

Von Lee nach Luv und von Luv nach Lee.

Wir gaukeln gleich schwimmenden Schmetterlingen.

Wir sind die Kinder der See.

Das Ziel? Unser Ziel? Ach, frag nicht so viel …

Wir haben noch keinem ein Leid getan,

wir sind die Clowns im Ozean,

wir sind die Boten vom Horizont,

wo sich der Mond im Abendlicht sonnt.

Komm mit uns, komm! Denn angesichts

dieser Welt ist es besser, du folgst uns ins Nichts.

Dann fragst du nicht mehr, fragst nicht mehr zu viel,

dann begreifst du endlich das Spiel.

Mentira y verdad
Lüge und Wahrheit

J osé!,sagte die Abuelita. Wach endlich auf! Es ist höchste Zeit! Du hast alles verschlafen, mein Junge: Die Unaussprechlichen haben den Wind stärker gemacht. Die Hand eines Toten hat die Mariposa gelenkt, und an der Horizontlinie hängt ein Schiff, das einen auffallend ähnlichen Kurs segelt wie ihr. Obwohl es nicht das Schiff ist, dessen Taue Jonathan gekappt hat. Und es hat geregnet …

»Geregnet?«, fragte José laut. Er hörte etwas zuschlagen wie eine Tür oder eine Klappe, ganz nah, und setzte sich abrupt auf. Nein, die Kajütentür stand offen – ein wenig Sonnenlicht fiel auf den Boden und beleuchtete eine einzelne rosafarbene Flamingofeder.

Der zugehörige Flamingo schien sich draußen zu befinden, denn José sah einen Flamingofuß auf der Treppe. Er stand auf und stieß die Tür ganz auf. Der Flamingo stand tatsächlich auf der untersten Stufe, hatte den langen Hals gestreckt und den Kopf bequem auf die Decksplanken oberhalb der kleinen Treppe gelegt. So befand sich sein Kopf auf Höhe von Carmen, die dort auf dem Fußboden saß. Die beiden sahen aus, als wären sie in ein stummes Zwiegespräch vertieft. Hinter ihnen saß Jonathan am Steuer, auf dem Schoß Oskar, den Pinguin.

José schüttelte den Kopf. »Ich wache auf und bin in einem wahnsinnigen Zoo«, sagte er.

Jonathan zuckte zusammen und fuhr hoch. »José«, sagte er. »Ich muss eingenickt sein.«

»Es hat geregnet«, sagte José, »nicht wahr? Hast du das Wasser in einem Kanister aufgefangen?«

Jonathan sah ihn an. »Das Wasser … in einem Kanister?«

»Ja, Wasser.« In José stieg der Ärger auf. »Dieses nasse Zeug, das von oben kommt. Man braucht es zum Überleben. Wir haben ein paar leere Kanister unter Deck. Wenn es regnet, muss man sie füllen. Wer weiß, wann es wieder regnet! Und was macht der Flamingo hier auf der Treppe? Er ist im Weg.«

»Eduardo«, verbesserte Jonathan ihn. »Er heißt Eduardo.«

José drängte sich an Eduardo vorbei und ließ sich auf die Bank gegenüber von Jonathan fallen. Er nahm ihm das Steuer ab und sah auf den Kompass. Der Kurs stimmte nicht mehr ganz. Er korrigierte ihn schweigend.

»José«, sagte Jonathan.

José sah auf. Jonathan griff über Bord, tauchte eine Hand ins Wasser und fuhr sich damit durchs Gesicht.

»Weißt du«, fragte Jonathan, »was ich in der letzten Nacht alles getan habe?«

Erst da merkte José, wie müde Jonathan aussah. Er konnte die Augen kaum offen halten. Zwei breite Schrammen liefen über seine linke Wange, und er steckte in viel zu großen Kleidern, die José noch nie gesehen hatte. Sie machten ihn schmächtiger. Er trug die alte karierte Schiebermütze wieder, die seinem Vater gehört hatte. Und mit einer Hand hielt er einen braunen Stofffetzen umklammert. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest war sein Griff um das Stück Stoff, und seine Hand zitterte. José legte eine Hand auf Jonathans Arm, und plötzlich tat es ihm leid, dass er ärgerlich gewesen war. »Was ist passiert?«

»Alles«, sagte Jonathan. »Du hast sehr, sehr fest geschlafen.«

Während José auf dem Gaskocher Kaffee kochte, hörte er Jonathan zu. Und schließlich bekam er eine Reihenfolge in die Ereignisse. Er blies in seine Blechtasse und betrachtete nachdenklich die Wellen im Kaffee. Die Mariposa fuhr wieder unter Segel, wenngleich mit verringerter Segelfläche. Es war sehr still ohne das Motorengeräusch.

»Am merkwürdigsten ist die Sache mit dem Anlasser«, sagte er. »Dass sich die Mariposa von selbst in den Wind gestellt hat, kann ich mir vorstellen. Aber dass du den Motor angeworfen hast, ohne es zu merken – die Abuelita hätte ihren Spaß gehabt letzte Nacht.«

»Wer?«, fragte Jonathan.

»Meine Urgroßmutter. – Eduardo, das ist Kaffee. Den kann man zwar filtern, aber nicht, wenn man ein Flamingo ist. Nimm deinen Schnabel aus meiner Tasse. – Die Abuelita ist ziemlich alt und erzählt gern Gruselgeschichten. Mit Vorliebe über Geister von Toten.«

José setzte Eduardo auf den Boden, damit er die Krabbensuppe aus der dort befindlichen Schale zum Frühstück filtern konnte. Oskar fischte die Stückchen heraus. Zum Glück hatte Juan Casaflora vor seinem Tod einen ausreichenden Vorrat an Krabbensuppe angelegt. Hatte er damit gerechnet, einen Flamingo auf der Mariposa zu beherbergen? Immerhin war er Forscher gewesen. Angeblich, hatte der Ami auf Baltra gesagt. Aber wenn er kein Forscher gewesen war, was dann?

Der Wind hatte seit der Nacht nachgelassen, doch er schob sie noch immer stetig über das Wasser voran. Das Boot, das am Horizont geklebt hatte, war nicht mehr zu sehen.

»Glaubst du an das, was deine Großmutter erzählt?«, fragte Jonathan. »An die Geister?«

»Natürlich nicht«, sagte José. »Sie erzählt trotzdem. Du wirst jetzt sagen, ich bin verrückt, aber … sie redet manchmal in meinen Gedanken.«

»Du bist verrückt«, sagte Jonathan und grinste.

José seufzte. »Sie weigert sich, mich in Ruhe zu lassen, die störrische Alte. Ihr Vater war der, der vor uns zur Isla Maldita gefahren ist.«

»Vielleicht spricht sie deshalb mit dir. Sie hat Angst, dass du auch verschwindest.«

José schüttelte sich. »Ich verschwinde nicht. Keiner verschwindet. Stattdessen tauchen Dinge auf. Teddybären fallen vom Himmel. Oder wie war das?«

Jonathan nickte. Er hatte den Bären die ganze Zeit über festgehalten und nun streckte José zögernd seine Hand nach ihm aus. Das braune Fell, über das er fuhr, war fadenscheinig und abgegriffen. Doch in den schwarzen Knopfaugen des Bären schien ein Geheimnis zu glänzen. Er wusste mehr, als er verriet.

»Meinst du, die Möwe hat ihn den ganzen Weg von der Isabelita hierhergebracht?«

Jonathan schüttelte den Kopf. »Da war dieses Boot. Wir sehen es jetzt nicht mehr, aber ich könnte wetten, es folgt uns. Die Möwen kamen aus dieser Richtung. Es ist das Boot, von dem Julias Bär stammt. Die Möwe hat ihn dort aufgesammelt und für etwas Essbares gehalten.«

»Hm«, machte José. Konnte es sein, dass Jonathan Dinge sah, die es nicht gab? Bilder, aus Angst und Müdigkeit entstanden? Tote? Schiffe? Aber der Bär war ganz eindeutig da und er war vorher nicht da gewesen. Julias Bär, hatte Jonathan gesagt.

»Du sprichst es komisch aus«, sagte José. »Ich dachte, die Engländer sagen Dschulia

»Ja«, sagte Jonathan. »Es liegt daran … dass … unsere Mutter, weißt du, sie ist … sie war … sie stammte aus Holland. Die meisten in England haben natürlich Dschuliagesagt.« José sah zu, wie er dem Bären das rote Band wieder umband. »Manchmal wünschte ich, der dumme Bär wäre mitverbrannt«, sagte Jonathan. »Er erinnert mich an die Nacht, in der sie gestorben sind. Als würde es nicht reichen, dass ich davon träume.«

José zuckte die Schultern. »Wirf ihn über Bord.«

Jonathan stand auf, streckte den Arm aus und ließ den Bären an einem Bein über die Reling hängen. Dann drückte er ihn plötzlich an sich wie ein Kind. »Ich kann es nicht. Er und ich, wir sind die Einzigen der Familie, die jene Nacht überlebt haben.«

José nickte. »Erzähl mir«, sagte er leise. »Erzähl mir, was in der Nacht geschehen ist. Vielleicht wird die Erinnerung dann leichter.«

Jonathan streichelte mit einem Finger Carmen, die neben ihm saß und am letzten Rest eines trockenen Brotkantens nagte. Er schwieg so lange, dass José schon dachte, er würde nichts erzählen.

»Wir hatten jeder einen Koffer«, sagte er dann unvermittelt. »Mit unseren wichtigen Sachen. Er stand neben der Haustür. Man brauchte ihn nur zu greifen, wenn Bombenalarm war. Sogar Julia hatte ihren Koffer. Es gab dauernd Probealarm. Dann mussten wir alle hinüber, zum Nachbarhaus, Nummer 21. Es war wie ein Spiel. Der ganze Krieg war wie ein Spiel. Eine Zeit lang. Und dann …«

»Ja?«

»Dann erfuhren wir, dass Papa vermisst wurde. In Frankreich. Er ist nicht zurückgekommen. Vermutlich … liegt er dort irgendwo in einem Massengrab. Eine Weile hat Mama fast nicht mehr mit uns gesprochen. Mit gar niemandem. Und dann fing sie wieder von den Galapagosinseln an. Wie schön alles wäre, wenn wir dorthin gegangen wären, ehe der Krieg anfing. Sie holte die alten Bücher hervor, die wir uns so oft zusammen angesehen hatten. Sie sprach von ihrem Professor. Professor Blumenhaus.« Er biss sich auf die Zunge. Hatte José gemerkt, dass Blumenhaus ein deutscher Name war? Nein, offenbar nicht. »›Der hat es richtig gemacht‹, hat Mama gesagt«, fuhr er rasch fort. »›Er ist rechtzeitig aus … England … verschwunden. Sicher‹, sagte sie, ›ist er irgendwo auf den Galapagosinseln und sucht nach seinem blauen Schmetterling mit den Goldflecken. Er ist frei.‹ Und immer, wenn sie unsere Koffer ansah, seufzte sie. Wahrscheinlich dachte sie daran, wie gut es gewesen wäre, diese Koffer auf ein Schiff über den Pazifik zu tragen. Aber selbst Julia war klar, dass Mama nur träumte. Dann fielen die ersten Bomben auf die Stadt. ›Jetzt dauert es nicht mehr lange‹, sagte Mama, ›und sie fallen auch auf unsere Straße. Lasst sie nur alles kaputt machen. Soll doch alles brennen!‹ Sie wollte es. Verstehst du? Sie wollte, dass unser Haus brannte. Es war verrückt. Sie sehnte sich nach dem nächsten Fliegeralarm. Sie lachte über die unsinnigsten Dinge. Als wüsste sie, dass sie nicht mehr lange lachen könnte. Und dann kam diese Nacht im Mai. Ich weiß noch, wie ich mit meinem Koffer oben auf der Treppe stehe. Mama ruft nach mir. Ich renne … dann stehe ich draußen. Der Mond scheint. Er bescheint Julia und ihren Teddybären. Und Mamas Gesicht. Sie lächelt. Sie trägt Papas alte Mütze. Ihr Haar ist so hell, hell wie der Mond. Sie zerzaust mein Haar, als wäre ich noch klein.

Sie nimmt Julia an der Hand. ›Halt deinen Bären gut fest‹, sagt sie, ›denn jetzt rennen wir.‹ Und dann höre ich die Flugzeuge, fast direkt über uns. Ich höre, dass ein Haus in der Nähe getroffen ist. Ich renne. So, wie sie es gesagt hat. Ich höre die Sirenen. Irgendwo prasseln Flammen. Da ist noch ein Geräusch, ein Motorengeräusch. Wie von einem Auto. Aber natürlich fährt keiner Auto bei einem Bombenangriff, nicht wahr? Ich drehe mich nicht um, ich renne. Mama und Julia sind irgendwo hinter mir. Ich stolpere Stufen hinunter … hämmere gegen die Tür des Kellers … jemand öffnet sie, zerrt mich hinein und wirft sie sofort wieder zu. Das Heulen der Sirenen wird leiser.« Er sah auf, sah José an, schwer atmend. »Und als ich mich umgedreht habe, waren Mama und Julia nicht da. Ich wollte die Tür noch einmal öffnen. Richard hat mich festgehalten. Er war schon achtzehn. Er war verantwortlich für den Luftschutzkeller.

»Er … er hat sie draußen an die Tür hämmern lassen und ihnen nicht geöffnet?«

Jonathan schien zu überlegen. Schließlich schüttelte er langsam den Kopf. »Ich habe kein Klopfen gehört. Aber es war alles so laut … Kurz danach wurde der Häuserblock getroffen. Und am nächsten Tag fand ich den Bären und die Mütze vor dem Eingang zum Luftschutzkeller. Sie müssen die Sachen verloren haben. Ich denke, sie sind zurück ins Haus gerannt. Drinnen ist alles verbrannt, alles …« Jonathan sah zu Boden. »Nein«, murmelte er leise. »Es wird nicht besser, wenn man es erzählt.«

José legte einen Arm um ihn wie um einen kleinen Bruder und eine Weile saßen sie schweigend so. Seltsam, dachte José, aber etwas an Jonathans Geschichte stimmte nicht. Er konnte den Finger nicht darauflegen, aber etwas war falsch.Er fragte sich, ob Jonathan log oder ob er selbst gar nicht gemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte. Er würde noch daraufkommen, dachte José, wenn er nur oft genug die gleiche Geschichte in seinem Kopf abspielte … Jonathans Vater … die Koffer … die Sirenen … die Nacht … der Teddybär …

Der Wind hatte nachgelassen, als dächte auch er über Jonathans Geschichte nach.

»Vielleicht haben sie nicht an die Tür des Kellers geklopft«, flüsterte Jonathan. »Vielleicht waren sie gar nicht hinter mir, Mama und Julia – das ist es, was mich am meisten erschreckt. Vielleicht ist Mama einfach auf der Straße geblieben. Mitten auf der Straße. Seit Papa tot war, war alles so anders. Als hätte das Leben keinen Wert mehr. Vielleicht hat sie Julia mitgenommen, in den Tod. Nur mich, mich hat sie hiergelassen.«


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