355 500 произведений, 25 200 авторов.

Электронная библиотека книг » Antonia Michaelis » Die geheime Reise der Mariposa » Текст книги (страница 8)
Die geheime Reise der Mariposa
  • Текст добавлен: 17 октября 2016, 01:01

Текст книги "Die geheime Reise der Mariposa"


Автор книги: Antonia Michaelis



сообщить о нарушении

Текущая страница: 8 (всего у книги 17 страниц)

»Du bist aus Deutschland, wie ich«, sagte Casaflora. »Du bist eine verfluchte kleine deutsche Schwindlerin.«

Lied der Seelöwen

Wer uns je zu nahe kam,

hält uns für erstaunlich zahm.

Wir fliehn nicht, wenn ein Schiff sich näh’rt,

wir schwimmen ihm entgegen.

Wir fühl’n uns durch Besuch geehrt,

Besuch kommt uns gelegen.

Wir zeigen gerne unsren Gästen,

wo man auf guten Fischgrund stößt

und wo man nach dem Mahl am besten

im warmen Sande döst.

Wer uns je zu nahe kam,

hält uns für erstaunlich zahm.

Wir schwimmen mit dem Gast im Kreise,

wir lehr’n ihn jeden Tauchertrick

und lachen nur dezent und leise

über sein Ungeschick.

Wir schlafen voller Glück und Wonne

auf Bänken, die der Mensch erbaut,

und aalen uns dort in der Sonne

und schnarchen manchmal sogar laut.

Der Mensch, so ohne Scheu und Scham,

ist er nicht erstaunlich zahm?

Er flieht nicht, wenn wir näher kommen,

nein, ER schwimmt uns entgegen.

Er wirkt nicht ängstlich, nicht beklommen:

Kommt ihm Besuch gelegen?

Marit
Marit

Dein Freund da an Deck hat keine Ahnung, woher du kommst«, sagte Casaflora. »Oder?«

»Nein«, flüsterte sie. »Er … er hasst alle Deutschen.«

Casaflora lachte leise. »Tut er das? Wie heißt du wirklich?«

»Marit«, wisperte sie, kaum hörbar. »Mein Onkel … er hat gesagt, es ist sicherer als Junge … und es war auch der Pass eines Jungen …«

Casaflora nickte. »Natürlich. Viel sicherer. Einem Mädchen können zu viele Dinge zustoßen auf einer solchen Reise.« Er fasste sie nicht an, seine Hand verharrte in der Luft. Aber sie sah seine Augen.

»Bitte …«, flüsterte Marit. »Bitte nicht!«

»Wenn du nach deinem Freund schreist«, sagte Casaflora, »werde ich ihm wohl sagen müssen, woher du kommst …«

Als könnte er mich hören, dachte Marit. Der Sturm war viel zu laut. In diesem Moment lief ein Ruck durch die Mariposa, das ganze Schiff schwankte – und sie verloren beide das Gleichgewicht. Marit fand sich auf dem Boden wieder, neben sich den alten Mann, zu nah, viel zu nah. Sein Atem roch nach kalten Zigaretten und ungewaschenen Kleidern. Die Taschenlampe war ebenfalls zu Boden gefallen, doch sie sah in ihrem Licht, dass die Mauser aus der geheimen Koje gekullert war. Aber sie kam nicht daran. Casafloras schwerer Körper lag zwischen ihr und der Mauser.

»Wir gehen alle unter«, flüsterte er heiser, »und dann ist es aus mit uns. Es wäre doch schade, wenn wir nicht vorher …«

Das Heulen des Sturms übertönte den Rest seiner Worte. Auch das Geräusch des prasselnden Regens war plötzlich wieder da. Jemand hatte die Kajütentür geöffnet.

»Jonathan!«, schrie José. »Was ist hier los?«

José hatte die Mariposa schließlich doch in den Wind gestellt. Sollte der andere Segler sie einholen. Wichtiger war, dass die Mariposa nicht volllief und sank. Wo blieb Jonathan? Etwas stimmte nicht. Er ließ das Steuer los, riss die Kajütentür auf und blieb einen Moment verwirrt stehen. Da war ein heller Fleck von Taschenlampenlicht an der Decke der Kajüte. Zwischen Tisch und Backbordbank klemmte seine Mauser. Die Klappe zu der verborgenen Koje stand offen und auf dem Boden direkt zu seinen Füßen lag die kleine schwarze Pistole. Dann sah er die beiden Körper, die ebenfalls auf dem Boden lagen, unter dem Tisch. Zwei Menschen, die vermutlich im Sturm das Gleichgewicht verloren hatten. Aber der Größere der beiden hatte das Gleichgewicht wiedergefunden, er kniete neben dem anderen und hielt ihn fest … Jonathans Kleider lagen in einem leblosen Haufen auf dem Boden. Draußen tobte der Sturm.

José hielt die Mauser in den Händen, ehe er sich überhaupt bewusst wurde, dass er sie aufgehoben und nachgeladen hatte. Er presste ihre kalte Schnauze in Casafloras Nacken.

»Lass ihn los!«, brüllte er gegen den Sturm an. »Sofort!«

Casaflora rappelte sich hoch, blickte in die Mündung des Gewehrs und hob die eine Hand. Mit der anderen klammerte er sich am Tisch fest, um nicht abermals das Gleichgewicht zu verlieren. José nahm mit der freien Hand die Pistole, ohne Casaflora aus den Augen zu lassen. Erst danach sah er Jonathan an, der ebenfalls aufgestanden war. Er hatte sein Hemd aufgehoben und drückte es an sich. Etwas stimmte mit Jonathans nacktem Körper unter dem Hemd nicht. José merkte, wie ihm schwindelig wurde.

»Du bist … du bist gar nicht … du warst nie … du bist …«, stotterte er.

»Ein Mädchen. Ja. Tut mir leid.«

José schüttelte den Kopf. Er konnte nicht klar denken. Das Großfall, dachte er. Das Messer. Der Sturm. Was auch immer seine Entdeckung bedeutete, jetzt war die Mariposa wichtiger. Er warf Jonathan – der Person, die Jonathan gewesen war – die Pistole zu und griff nach dem Messer, das die ganze Zeit stumm auf dem Regal gelegen hatte.

«Hat er dir etwas getan?«, fragte José.

Sie schüttelte den Kopf. José war rechtzeitig gekommen.

»Erschieß ihn«, sagte er ernst, »wenn es sein muss.«

Dann kletterte er zurück an Deck.

Aber niemand erschoss irgendwen in jener Nacht. Als José auf dem schwankenden Schiff zum Mast kletterte, mitten in Wellen und Gischt, mitten in Nacht und Chaos, sah er aus dem Augenwinkel, wie Casaflora ihm folgte. Er durchtrennte das Seil, das das Großsegel hielt, mit einem Schnitt, und dann waren da Hände, die ihm halfen, das Segel herunterzuzerren, Hände, die die Mariposa besser kannten als José. Hände, die das Segel am Baum festzurrten, rasch und effektiv.

»Wo ist …?«, begann José und wusste nicht, welchen Namen er Jonathan jetzt geben sollte.

»Schöpft das Wasser aus dem Boot!«, rief Casaflora.

»Der Motor!«, schrie José. »Er springt nicht an!«

Casaflora war bereits auf dem Weg zurück zum Heck und hockte gleich darauf auf den Knien im Wasser, duckte sich und kroch halb unter das Achterverdeck, um den Motor zu begutachten.

José kletterte zurück in die Kajüte und holte die Taschenlampe, damit Casaflora etwas erkennen konnte. Um sie herum tobte der Pazifik und warf die Mariposa umher wie ein Spielzeug. Ein Schiff, das nicht vorwärtsfährt, lässt sich nicht steuern, das war José klar. Wenn sie den Motor nicht anbekamen, würden die Wellen weiter von der Seite auf die Mariposa einschlagen und sie versenken. José sah sich nach einem zweiten Eimer um, doch es gab keinen. Er fand den Kochtopf in der Kajüte und half, Wasser zu schöpfen. Es stand kniehoch. Es ertränkte vermutlich auch den Motor. Er hörte Casaflora fluchen.

Sie arbeiteten wie die Irrsinnigen, doch jeden Eimer Wasser, den sie herausschöpften, spuckte der Pazifik sofort zurück.

Es hat keinen Zweck, dachte José. Wir werden sinken. Er blickte auf – und da sah er das andere Boot.

Der kleine Segler schoss durch die Wellen direkt auf sie zu. Er war jetzt so nah, dass man beinahe den Namen an der Bordwand lesen konnte, dunkelblaue Lettern auf weißem Grund. Der Name begann mit M, und die Buchstaben, die auf das M folgten, sahen dem Namen der Mariposa erstaunlich ähnlich … Wenn das Schiff weiter Kurs hielt, würde es die Mariposa in voller Fahrt rammen.

José sah, wie sich der Mast unter dem Gewicht des Windes bog. Er konnte sogar den Mann auf der Reling sehen, der sich weit, weit hinauslehnte, so nah war das Schiff schon. Der Sturm spie eine weitere Böe aus, stärker noch als die übrigen; der Mast bog sich noch stärker durch, beinahe konnte man das Ächzen und Stöhnen des Holzes hören – und dann brach er. Brach mittendurch, riss das Segel mit sich herunter und begrub das Schiff unter sich. Eine große Welle schwappte darüber und schien das Boot zu verschlingen. José hielt nach einem Kopf auf dem Wasser Ausschau. Da war keiner. Er merkte, dass er sich bekreuzigte.

Irgendwo durch Regen und Gischt näherte sich die Roosevelt. Und – bildete José sich das ein, oder war da jetzt noch ein drittes Schiff? Hier stehen wir, dachte er, in der sinkenden Mariposa, verfolgt von einer ganzen Flotte aus Schiffen, und es nützt alles nichts, denn wir werden alle zusammen sinken. Immerhin können sämtliche Tiere an Bord schwimmen. Bis auf den verletzten Pinguin.

In diesem Moment sprang der Motor an. Und auf einmal bewegte sich die Mariposa vorwärts. Jetzt wich sie der Gewalt der Wellen aus.

»Schöpfen!«, brüllte Casaflora. »Weiterschöpfen!«

José sah die Person neben sich an. Sie lächelte. Dann begannen sie die Mariposa gemeinsam leer zu schöpfen. Und schließlich saßen sie nebeneinander im Regen, schweigend, während Casaflora steuerte. José hielt seine Mauser auf dem Schoß und auch die Mauser schwieg. Solange Casaflora keine dumme Bewegung machte.

Irgendwann endete der Sturm. Irgendwann endete der Regen. Irgendwann endete die Nacht. Und da musste auch das Schweigen enden.

José seufzte. »Wie heißt du wirklich?«, fragte er.

»Marit«, sagte sie und sah auf ihre Füße.

»Hättest du das nicht gleich sagen können?«, knurrte José. » Maritist viel leichter auszusprechen als Jonathan

Da hob sie ihren Blick und Erleichterung lag darin. »Mein Onkel, weißt du, er fand, es wäre sicherer als Junge … Er hat den Pass besorgt. Frag mich nicht, woher er ihn hatte. Vielleicht gab es nie einen Jonathan Smith.«

»Aber du bist in London geboren?«

Sie nickte. »Nur an einem anderen Tag.«

José hörte, wie Casaflora sich räusperte, und er sah Marit zusammenzucken.

»Ich wollte nur etwas richtigstellen«, sagte Casaflora. »Der Kurs, den ich steuere …«

José sah auf den Kompass. »Wir fahren nicht mehr nach Isabela«, sagte er. »Wir haben gedreht.«

Casaflora nickte. »Wir fahren nach Marchena.«

»Und weiter, zur Isla Maldita«, ergänzte José. Er streichelte die Mauser.

»Du kleiner Dummkopf«, sagte Casaflora. »Nicht, weil du ein altes rostiges Gewehr auf dem Schoß hast. Weil wir die anderen abhängen müssen. Ich habe drei gezählt. Drei Schiffe, die uns folgen. Jetzt, nach dem Sturm, sind es nur noch zwei. Zwei zu viel. Wir haben sie verloren, und sie werden glauben, wir würden weiter nach Isabela segeln. Ich begleite euch also zu eurer verfluchten Insel. Es ist nicht schlecht, eine Weile zu verschwinden. Später … später laufen wir Isabela an.«

»Das alte Gewehr ist nicht rostig«, sagte José. »Und ich bin kein kleiner Dummkopf.«

Die Mauser sprang in seine Hände wie von selbst und ein Schuss zerriss den Morgen. Die Kugel blieb in der Reling knapp neben Casaflora stecken. José sah Marit zusammenzucken.

»Wenn Sie noch einmal Hand an Jo… Marit legen, spricht mein Gewehr mit Ihnen«, sagte José, und der Stolz in seinen Worten fühlte sich warm und richtig an. »Es spricht die Sprache der Inseln, eine einfache und klare Sprache. Und es versteht keinen Spaß.«

Die Hand des Alten, die das Steuerruder hielt, zitterte jetzt, kaum merklich.

»Kümmern wir uns darum, das Großfall zu reparieren«, sagte er, »und endlich Segel zu setzen.«

Der Wind trug die Mariposa stetig nach Nordosten, und jetzt, da Casaflora sich um Segel und Steuer kümmerte, kamen sie rascher voran. Er kannte die Mariposa wie sich selbst, sagte er. In der Abendflaute angelten sie, Oskars Flügel heilte, und Kurt der Albatros startete jeden Tag mehrere vergebliche Versuche, von Deck aus loszufliegen. Manchmal sah es aus, als lachten die anderen Tiere über ihn.

Alles hätte heiter und hell und sonnig sein können wie die Farbe der Decksplanken, honiggolden. Aber die Luft an Deck war gespannt wie vor einem weiteren Sturm. Es kam Marit vor, als könnte sie es darin knistern hören. Alles war unendlich kompliziert geworden. José sprach kaum noch mit ihr. Es war, als schämte er sich plötzlich. Und dann waren da die Blicke des Alten. Sie fühlte sie auf der Haut unter ihren Kleidern und die Röte stieg ihr ins Gesicht.

José hatte versprochen, sie nicht allein zu lassen. Er teilte die Wachen so ein, dass er stets wach war, wenn Marit schlief, und sie war ihm dankbar dafür. Aber gleichzeitig hatte sie das Gefühl, eine Bürde zu sein. Eine Last.

Wo war Jonathan, den José so dringend gebraucht hatte? War er in jener stürmischen Nacht gestorben? Marit ertappte sich dabei, wie sie um ihn trauerte, wenn sie allein unter Deck lag und zu schlafen versuchte. Er war gestorben wie alle anderen auch. Wie Papa und Mama und Julia, an die ihre Träume sie ständig erinnerten. Sie schloss die Augen und stand im Hinterhof in Hamburg.

»Im Holzschuppen?«, hörte sie sich fragen. »Sicher?«

»Ja«, sagte Julia und zog ungeduldig an Marits Hand. »Ich war mit dir zusammen Holz holen, weißt du nicht mehr? Und da hab ich ihn liegen lassen.«

»Das war vor zwei Monaten!«, sagte Marit. »Als es noch kalt war! Seitdem waren alle möglichen Leute im Holzschuppen. Meinst du nicht, jemand hätte ihn gefunden?«

Julia zuckte die Schultern. »Jetzt heizt doch keiner mehr seinen Ofen ein«, sagte sie. »Niemand geht in den Holzschuppen. Vielleicht waren wir damals die Letzten. Komm. Mein Bär friert. Es ist zu windig heute.«

Marit seufzte. Dass Julias Teddybär einen Strickpullover brauchte, war ja schon kompliziert genug. Dass dieser Strickpullover im Holzschuppen vergessen worden war und gerade jetzt dringend gesucht werden musste, war etwas zu viel. Aber als reichte das nicht, war auch noch ihr Schlüssel zum Schuppen verschwunden.

Sie klingelten zusammen bei Frau Adam, weil Julia sich angeblich allein nicht traute.

Frau Adam schüttelte den Kopf. »Nee«, sagte sie. »Den Schuppenschlüssel? Den kann ich auch seit ’ner Zeit nicht finden. Meinst du, kleine Julia, dein Teddybär kann vielleicht seinen Pullover gar nicht leiden und hat deshalb alle Schlüssel versteckt?«

Julia hob ihren Bären hoch und musterte ihn misstrauisch.

»Wir fragen den alten Herrn Meier«, entschied sie.

Aber auch der alte Herr Meier vermisste seinen Schuppenschlüssel.

»Ist ein Glück, was«, sagte er, »dass man zurzeit kein Holz zum Heizen braucht. So ein mildes Frühjahr …«

»Vielleicht kann man durchs Schuppenfenster reinklettern«, meinte Julia.

Marit seufzte. Sie wollte Julia gerade zum Fenster hochheben, damit sie nachsehen konnte, ob es sich öffnen ließ, da kam Mama durch den Hinterhof gerannt.

»Was wird das?«, rief sie außer Atem. »Ich gucke oben aus dem Fenster und frage mich, was meine Kinder da tun.«

»Der Pullover!«, rief Julia anklagend. »Von meinem Bären! Der liegt im Schuppen!«

»Unsinn«, sagte Mama. »Er liegt oben in unserer Wohnung schön ordentlich im Schrank.«

Aber als sie oben im Schrank nachsahen, war kein Bärenpullover da. Mama fiel plötzlich ein, dass sie ihn wohl in die Wäsche getan hatte, und sie las ihnen weiter aus dem großen Buch über die Galapagosinseln vor, damit der Teddybär vergaß, dass er an diesem speziellen Frühlingstag fror.

»Wusstet ihr überhaupt«, sagte sie, »dass mein Professor Blumenhaus dieses Buch geschrieben hat? Ich wette, er ist jetzt dort und sucht nach seinem Schmetterling.«

Am nächsten Tag hing der Teddybärenpullover im Hof auf der Leine, aber Marit kam die ganze Sache komisch vor. Sie ließ sich von Geschichten über Professoren auf Schmetterlingsjagd nicht so leicht ablenken wie Julia. Als Mama einkaufen war, versuchte sie noch einmal allein, durch das Fenster zu klettern. Doch Richard aus dem Nachbarhaus erwischte sie dabei und pflückte sie vom Fenster.

»Hey, Kleine«, sagte er und setzte sie auf den Boden. »Es ist verboten, durch die Fenster von irgendwelchen Schuppen zu klettern.«

Sie sah in sein grinsendes Gesicht und schwieg.

»Ich bin der Blockwart«, sagte Richard. »Ich passe hier auf, schon vergessen?« Er beugte sich zu ihr, sodass seine Lippen ihre Wange berührten. »Und auf dich passe ich ganz besonders auf«, flüsterte er.

Der Traum verfolgte Marit den ganzen Tag, und vor allem waren es Richards Lippen, die sie verfolgten. Es schüttelte sie, an Richard zu denken. Dennoch hätte José mit einem wie Richard sicher mehr gesprochen als mit ihr.

An diesem Abend saß der Alte am Steuer. José saß im Bug und rauchte eine von Casafloras Zigaretten. Sie hockte sich neben José, nahm ihm die Zigarette weg, um daran zu ziehen – und musste zu ihrem eigenen Ärger wieder husten.

»Was soll denn das?«, sagte José gereizt und griff nach der Zigarette. »Das ist nicht gut für dich.«

»Ach nein? Neulich wolltest du es mir beibringen. Das Rauchen.«

Er erwischte die Zigarette und nahm sie ihr ab, mit etwas mehr Gewalt als nötig. »Zigaretten sind nichts für Mädchen.«

»Ach so«, sagte Marit. »Aber Leute vor einer Rakete retten, die in einen Felsen einschlägt, das ist was für Mädchen, ja? Und Leute im Wald aufsammeln, wo sie sich bewusstlos schlagen lassen? Und nachts allein ein Schiff steuern, während Leute unter Deck liegen und ihre Beinahe-Gehirnerschütterung ausschlafen? Das ist wohl alles etwas für Mädchen?«

Carmen kroch aus ihrem Ärmel, wo sie in letzter Zeit fest zu wohnen schien, und blitzte José aus ihren Knopfaugen an, als wollte sie Marit unterstützen.

José seufzte.

»Ich fürchte, es gibt nur zwei Möglichkeiten«, sagte Marit. »Entweder fahren wir zusammen zu dieser Insel und bekommen heraus, was die Karte bedeutet. Oder … du fährst allein. Aber wenn wir zusammen fahren, musst du wieder mit mir reden! Ich meine: mehr als ein paar Worte. Du musst vergessen, dass ich ein Mädchen bin.«

Er sah sie an. Schüttelte den Kopf. »Nein. Das kann ich nicht.«

»Dann musst du allein weiterfahren. Und ich bleibe hier.«

»Wo hier

Sie wies auf den Ozean hinaus. »Irgendwo hier. Das war es, was ich von Anfang an wollte, erinnerst du dich? Ich muss dir nicht helfen, deine verfluchte Insel zu erreichen.«

»Du bist ja verrückt«, sagte José. »Willst du jetzt schon wieder ins Wasser springen? Ist das eine Erpressung?«

»Nein«, sagte Marit und stand auf. »Eine Entscheidung. Deine Entscheidung.«

Sie wusste, dass José recht hatte. Es war eine Erpressung. Sie hatte nicht mehr vor zu sterben. Aber irgendetwas musste sie tun, irgendetwas musste sie sagen! Sie machte einen Schritt auf die Reling zu und José riss sie zu Boden. Eine Weile rangen sie miteinander, wie sie es schon einmal getan hatten, vor ein paar Tagen erst. Damals, als José gedacht hatte, Marit hätte sein Gewehr verschwinden lassen. Damals, als Juan Casaflora noch ein Toter gewesen war.

»Beiß und kratz ruhig«, sagte José. »Jetzt weiß ich ja Bescheid.«

Und das machte Marit wütender, als sie es für möglich gehalten hätte. Sie spürte, wie ihre Faust in Josés Gesicht landete, und erschrak. Diesmal dauerte es eine Weile, bis er sie auf die Decksplanken drückte.

»Du bist … du bist stärker geworden«, keuchte er.

Marit grinste. »Ja. Ich glaube.«

»Das wird ein blaues Auge.« José setzte sich auf, hob die halb gerauchte Zigarette auf und zündete sie wieder an. Dann gab er sie Marit. Marit sah die Zigarette an.

»Danke«, sagte sie. »Die sind scheußlich. Meinst du nicht, es kommt auf andere Dinge an?«

»Es kommt darauf an, dass du bleibst«, sagte José ernst. »Und dass du mit mir zur Isla Maldita fährst. Allein werde ich es nicht schaffen. Ich kann nicht vergessen, dass du ein Mädchen bist. Aber wenn du willst, kannst du meine Schwester sein. Eine ziemlich verrückte und ganz und gar dickköpfige Schwester. Aber eine Schwester. Mit einer Schwester kann man vielleicht reden wie mit einem anderen Mann.«

»Gut«, sagte Marit. »Ich werde einen ziemlich verrückten und ganz und gar dickköpfigen Bruder haben. Aber einen Bruder.«

Als Marit José gegen Ende der nächsten Nacht am Steuer ablöste, saß Casaflora an Deck und streichelte den schlafenden Albatros. »Ich kann nicht schlafen«, sagte er auf Deutsch.

»Ich habe Ihre Pistole in der Tasche«, antwortete Marit auf Spanisch.

Casaflora nickte. »Natürlich. Und du denkst, du könntest damit umgehen.«

Marit antwortete nicht. Sie spürte die warme Lebendigkeit von Carmen in ihrem Ärmel und auf eine seltsame Weise beruhigte sie das. Mehr als die Pistole.

»Wir sind nicht mehr weit von Marchena«, sagte Casaflora schließlich. »Was wirst du dann tun?«

»José helfen«, antwortete sie. »Ich fahre mit ihm weiter.«

»Ja«, sagte Casaflora. »Das werden wir alle tun. Denn auf Marchena gibt es kein Wasser.«

»Es wird wieder regnen.«

Casaflora seufzte. »Vielleicht.« Er legte seine Hand auf ihre, auf die Hand, mit der sie steuerte. Die rechte. Marit wurde kalt. Die Pistole steckte in ihrer rechten Tasche. Sie würde sie nie mit der linken Hand hervorziehen können. Idiotin!

»Au, verdammt!«, zischte Casaflora und zog seine Hand zurück. »Was war das?« Ein paar feine Schnurrhaare kitzelten Marits Unterarm.

»Das«, erwiderte sie lächelnd, »war eine endemische Galapagos-Reisratte. Sie hat einen unfehlbaren Sinn dafür, im richtigen Moment einzugreifen.«

»Ich wollte dich nur etwas fragen«, knurrte Casaflora.

»Ja?«

»Weshalb bist du hier? Erzähl mir nicht, du bist zufällig von einem Schiff gefallen und hast dich vor dem Bug der Mariposa wiedergefunden.«

Marit unterdrückte ein Lachen. »Und wenn ich Ihnen sage, dass es genau so war?«

»Das kannst du deinem kleinen Freund erzählen.«

»Er ist nicht mein Freund.«

»Nicht?«, fragte Casaflora.

»Er ist mein Bruder«, sagte Marit.

»Dein Bruder?« Sie sah ihn im Dunkeln den Kopf schütteln. »Du erzählst nur Unsinn.«

Marit seufzte. »Unsinn ist manchmal ganz hilfreich«, sagte sie. »Aber bitte. In Wahrheit ist ein alter Professor daran schuld, dass ich hier bin. Ein Professor für Zoologie, den ich nie gesehen habe. Blumenhaus. Meine Mutter hat bei ihm studiert, ehe sie mich bekam. Blumenhaus war auf den Inseln gewesen. Er hat seinen Studenten damals so viel davon erzählt, dass meine Mutter anfing, sich selbst dorthin zu wünschen. Professor Blumenhaus wollte auch wieder zurück, hat sie gesagt. Er war einem seltenen Schmetterling auf der Spur, den es vielleicht nur auf den Galapagosinseln gibt.«

Casaflora lachte trocken. »Muss lange her sein«, sagte er. »Als sich die Leute noch Gedanken über Schmetterlinge machten.«

»Ja«, sagte Marit leise. »Es ist wohl lange her.« Sie sprach noch immer spanisch. Sie wusste nicht, ob José zuhörte. Und überhaupt wollte sie auch gar nicht deutsch sprechen. Am besten nie wieder, bis zu ihrem Tod. Der Tod war natürlich durch und durch deutsch, mit ihm würde sie nicht spanisch sprechen. Aber sie hatte nicht vor, ihm so rasch zu begegnen. Nicht mehr. »Der Professor … er ist irgendwann aus der Stadt verschwunden«, fuhr sie fort. »Und meine Mutter stellte sich gern vor, er wäre wirklich zurückgekehrt zu den Inseln. Er war ihr einziges Vorbild. Das ist doch seltsam, nicht wahr, wo er ein Mann war und viel älter? Sie hätte so gern zu Ende studiert. Sie wäre so gern auch ein Forscher geworden. Sie wollte zu den Inseln fahren und den Schmetterling finden, zusammen mit dem Professor. Es war ein Traum. Sie hatte so viele Träume …« Ihre Stimme verlor sich in der Dunkelheit.

»Wo ist sie jetzt?«, fragte Casaflora leise.

»Tot«, antwortete Marit. »Sie sind alle tot. Alle, die ich in Deutschland kannte.« Sie flüsterte jetzt, damit José sie unter Deck nicht hörte. »Sie sind Deutscher. Warum sind Sie nicht tot?« Es war ein eindeutiger Vorwurf. Er lachte nicht darüber.

»Weil ich hier bin«, erwiderte er ernst. »Genau wie du.«

Marit streichelte den Albatros, der seinen großen weißen Kopf auf ihr Knie gebettet hatte. »Hier ist niemand tot. Hier sind alle lebendig. All die Tiere. So wie Kurt.«

»Warum heißt er eigentlich Kurt?«

»Kurt war der Name meines Vaters. Er ist auch geflogen. Sie haben gesagt, man habe seine Maschine bei der Landung abgeschossen. Albatrosse haben manchmal auch Unfälle beim Landen …«

Casaflora schwieg. Er schwieg so lange, dass die Nacht zu schwer für Marits Augenlider wurde.

»Ich kannte einmal ein junges Mädchen, das einen Kurt heiratete«, sagte Casaflora. »Und aufhörte zu studieren. Damals in …«, er lächelte auf einmal, doch es war ein trauriges Lächeln, »… London.« Aber das hörte Marit schon nicht mehr, denn sie war eingeschlafen.

Und erst später, viel, viel später, übersetzte sie seinen Namen ins Deutsche.

José wachte gegen Morgen auf und spürte sofort, dass er allein in der Kajüte lag. Casaflora hätte auf der zweiten Bank liegen sollen. Marit saß draußen am Steuer. Er packte die Mauser und öffnete leise die Tür der Kajüte.

Im grauen, verschlafenen Morgenlicht saß Casaflora am Steuer.

Er hatte ihn noch nicht bemerkt. Er war über eine Gestalt gebeugt, die auf der anderen Bank lag, schlafend. Hilflos. In ihrem Arm lag Kurt der Albatros, der ebenfalls schlief. Casaflora knöpfte seine Jacke auf und zog sie aus. José packte sein Gewehr fester. Da sah er, wie Casaflora die Jacke behutsam über Marit legte: eine Decke gegen die Kälte des zu jungen Morgens. Er blickte auf und nickte José zu. Sein Gesicht sah aus, als wären in Minuten Jahrzehnte daran vorbeigestrichen. Er war nichts als ein müder alter Mann.

»Sie ist tot«, sagte er.

»Was? Wer?«, fragte José alarmiert.

»Ihre Mutter«, sagte Casaflora. »Sie war so jung und sie wollte so viel. Sie wollte ihre Familie ins Paradies führen. Sie wollte einen blauen Schmetterling fangen, mit goldenen Flecken auf den Flügeln. Für jemanden, der ihr Vorbild war und der vielleicht auch nicht mehr am Leben ist. Ist das nicht unbeschreiblich traurig?«

José nickte. »Ja«, sagte er, »das ist unbeschreiblich traurig. Aber wir, wir sind alle hier und wir sind am Leben.«

»Noch«, sagte Casaflora. »Noch, mein Junge, noch. Wart ab, bis uns die wiederfinden, die uns im Sturm verloren haben.«

»Wer sind Sie?«, fragte José. »Wozu wollen Sie meine Karte?«

Casaflora griff in seine Jackentasche und holte ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus. »Deine Karte, ja«, sagte er. »Du kannst sie wiederhaben, deine Karte. Ich werde nicht schlau daraus. Vielleicht ist sie wirklich alt. Aber die, die hinter uns her sind – sie wollen deine Karte nicht.«

»Nein?«, fragte José erstaunt.

»Nein, mein Junge. Ich habe auch eine Karte. Sie wollen meine. Besser gesagt: Sie wollen, dass sie nicht in die Hände von bestimmten anderen Leuten gerät.«

José öffnete den Mund.

»Und jetzt hör auf, Fragen zu stellen«, sagte Casaflora sehr bestimmt. »Schieß mir ein Loch in den Kopf, aber ich schweige. Manche Antworten sind zu gefährlich.«

In diesem Moment lief ein Ruck durch die Mariposa, und José hielt sich an der Kajütentür fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Marit rollte von der Bank und Casaflora krallte sich ans Steuer. Die Mariposa bewegte sich nicht mehr. Doch der Wind füllte die Segel noch immer und das Schiff neigte sich bedenklich zur Seite.

»Wir sitzen fest!«, schrie Casaflora und sprang auf. »Wir sitzen auf einem verfluchten Felsen fest! Los! Die Segel runter! Schnell!«

José war bereits am Mast und löste das reparierte Großfall. Direkt vor ihnen lag im Morgendunst Marchena, als flach ansteigender Krater erhob sich die Insel aus dem Pazifik und wartete in majestätischem Schweigen auf die Neuankömmlinge. Aber nein, sie schwieg gar nicht: Jetzt hörte José die Vögel, die schon mit dem ersten Tageslicht erwacht waren. Jetzt hörte er den Wind im Geäst der Büsche. Er schüttelte den Kopf. All das hätten sie vorher hören können. Sie hatten so lange darauf gewartet, Marchena zu erreichen, und nun hatten sie es zu spät bemerkt. Casaflora, der am Steuer gesessen hatte – er musste die Insel doch gesehen haben! Aber er hatte nicht so gewirkt, als würde er irgendetwas sehen, dachte José.

Sein Blick war seltsam weit fort gewesen, als er »Sie ist tot« gesagt hatte.

Der Motor sprang knatternd an und die Mariposa bewegte sich langsam rückwärts. Dann gab es einen erneuten Ruck und er landete unsanft auf dem Deck. Casaflora fluchte.

»Der Motor!«, schrie er. »Die Schraube ist gegen einen Felsen … Verdammtnoch mal! Roll die Fock wieder aus!«

José gehorchte. Der Motor gab ein seltsames Jaulen von sich, und er begriff, dass die Schraube sich nicht mehr richtig drehte. Casaflora steuerte die Mariposa nur unter Vorsegel ein Stück näher an die Insel heran, unaufhörlich fluchend.

»Hier sind überall Felsen unter Wasser«, hörte José ihn sagen. »Ich kann sie jetzt sehen, aber nicht gut genug … Wenn wir gleich wieder aufsitzen …« Dann fluchte er wieder, diesmal nicht auf Spanisch, sondern in einer Sprache, die José nicht verstand. Sie klang hart und kantig, abgehackt und rau. José hatte diese Sprache schon gehört. Und schließlich fiel ihm auch ein, wo. Im amerikanischen Radio auf Baltra. Es war die Sprache des Krieges. Deutsch. Und die Sprache, in der einer flucht, dachte José, ist seine Muttersprache.

Casaflora war trotz seines Namens, trotz seiner sonnenverbrannten Haut und seines perfekten Spanisch kein Ecuadorianer. Er war ein Deutscher.

Marit erwachte davon, dass sie auf den harten Planken des Decks landete. Auf der Mariposa war wieder einmal Chaos ausgebrochen, aber sie verstand nicht, weshalb. Der Himmel über ihr war blau und wolkenlos. Sie kam auf die Füße und blickte sich um.

Und da sah sie die Insel. Marchena. Es war nur ein Umriss im Morgen, ein klobiger Berg aus Steinen im Meer, aber Marit erschien Marchena als das Schönste, was sie je gesehen hatte. Endlich wieder Land, nach so vielen Tagen auf See! Die Insel war aus einem Vulkan entstanden wie alle Galapagosinseln, doch der Vulkan schlief seit Langem.

Sie merkte, dass José mit ihr redete. »… sind aufgelaufen«, erklärte er mit gequältem Gesicht. »Und die Schiffsschraube ist hinüber. Es gibt eine Menge Felsen unter Wasser. Wir ankern hier, und Casaflora baut den Motor aus und … Du hörst überhaupt nicht zu.«

Marit lächelte ihn an. Dann zeigte sie ins Meer.

»Sieh nur, José«, sagte sie, »wer von Marchena gekommen ist, um uns zu begrüßen.«

Das Wasser zwischen dem Strand und der Insel war voll von Köpfen – nassen schwarzen Köpfen mit winzigen Ohren, glänzenden Knopfaugen und langen, zitternden Schnurrhaaren. Sie kamen näher, neugierig wie die Delfine, und Marit sah, wie ein rotes Maul spielerisch nach einem blauen Schmetterling schnappte, der dicht über der Wasseroberfläche dahingaukelte. Hatte der Schmetterling goldene Flecken auf den Flügeln gehabt?

»Seelöwen«, sagte José und lächelte.

»Ein schönes Empfangskomitee für die Mannschaft eines funktionsuntüchtigen Schiffs«, knurrte Casaflora, halb über den Motor gebeugt. »Ich wünschte, ich könnte einen von ihnen überreden, den Motor an den Strand zu schleppen. Ich weiß nicht, ob ich das Werkzeug dazu habe, die Schraube auszubauen …« Er sah auf. »Was ist? Wollt ihr nicht an Land gehen?«

»Damit Sie mit der Mariposa abhauen und uns hier verdursten lassen?«, fragte José.

Casaflora seufzte. »Ich kann nicht mit der Mariposa abhauen, mein Junge. Der Motor ist hinüber. Begreifst du das nicht?«

»Doch«, sagte José, »das begreife ich sehr gut. Aber Sie könnten segeln. Zurück nach Isabela.«


    Ваша оценка произведения:

Популярные книги за неделю