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Die geheime Reise der Mariposa
  • Текст добавлен: 17 октября 2016, 01:01

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Автор книги: Antonia Michaelis



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»Bei wem?«

»Smith. Er hat mich rausgeholt. Aus Ha… aus London.«

»Ist er … ein Freund deiner Eltern?«

»Nein«, sagte Jonathan schroff. »Der Bruder meiner Mutter. Sie haben schon ein paar Jahre lang nicht miteinander geredet. Nur … früher. Meine Mutter, weißt du, sie hat immer von den Galapagosinseln gesprochen. Sie wollte so gern hierher auswandern. Es war nur ein Traum. Und dann ist sie gestorben und der Traum war zu Ende geträumt. Aber eines Tages stand ihr Bruder vor der Tür. Vor der Tür von Frau Adams Schwester, bei der ich wohnte. Und er sagte: Wir fahren. Einfach so, ganz plötzlich. Wir fahren zu den Galapagosinseln, M… Jonathan, genau so, wie deine Mutter es sich gewünscht hat. Niemand hat geglaubt, dass er es ernst meint. Es war zu verrückt. Aber hier bin ich: auf den Galapagosinseln.«

José nickte. »Hier bist du«, sagte er, »und ein Glück, sonst hätte ich niemanden, der mit mir zur Isla Maldita fährt, denn dazu ist nun wahrhaftig niemand verrückt genug. Aber hör mal, willst du wirklich mitfahren? Willst du nicht zurück zu deinem Onkel?«

»Nein«, sagte Jonathan sehr bestimmt. »Das will ich nicht.«

José zuckte die Schultern und kletterte hinunter in die Kajüte, um den dreibeinigen Gaskocher zu holen. Dann kochten sie Kaffee in einem Topf und öffneten eine Dose, deren Aufschrift man nicht mehr lesen konnte. Carmen reckte neugierig ihre winzige braune Schnauze und Oskar fischte etwas Orangefarbenes aus der Dose und verschlang es gierig. Dann streckte er den Schnabel und angelte sich ein zweites orangefarbenes Etwas …

»Eine Dose mit Pinguinfutter?«, fragte Jonathan zweifelnd.

José roch an der Dose. »Krabbensuppe«, sagte er. »Du meine Güte, der alte Juan Casaflora hat nicht schlecht gelebt. Da ist noch eine Menge solcher Dosen. Allerdings hätte er sich die Krabben auch an den Stränden der Inseln fangen können.«

So frühstückten sie Kaffee und Krabbensuppe, und José sagte, nun brauchten sie nur noch eine Flasche Sekt, um auf den Beginn ihrer gemeinsamen Reise anzustoßen.

Dann sah er zwischen den Felsen hindurch aufs Meer hinaus und wurde plötzlich ernst.

»Das nächste Stück unserer Reise ist das längste«, sagte er. »Vor der Insel Marchena gibt es kein Festland und bis dorthin sind es mehrere Tage. Das ist offener Ozean, es gibt keinen Windschutz durch die anderen Inseln, es gibt …« Er seufzte. »… nichts.«

»Wie lange werden wir nach Mar… zu dieser Insel brauchen?«

José zuckte die Schultern. »Wenn der Wind so bleibt wie jetzt – zwei Tage? Wenn er dreht … kann es eine Woche dauern. Länger.«

»Du warst noch nie dort.«

José schien zu überlegen, ob er sagen sollte, was er als Nächstes sagte. »Ich war noch nie irgendwo. Ich war immer nur auf Isabela. Und dann habe ich mich mitnehmen lassen nach Baltra, vom alten Silvio. Mein Vater kennt ihn. Er hat ein bisschen zu viel Geld und eine schöne Jacht. Die Albatros. Er hat mich schon früher manchmal mitgenommen, ist mit mir vor der Küste von Isabela herumgekreuzt und hat mir das Segeln beigebracht. Aber diese Tour … ist die längste, die ich bis jetzt allein gesegelt bin. Es … ist die erste.«

Jonathan nickte stumm.

»Na«, sagte er, »es ist auch für mich die erste Tour auf einem so kleinen Schiff. Und für Oskar.« Er schüttelte etwas Kleines, Braunes aus seinem Ärmel, das empört quiekte. »Nur bei Carmen wäre ich mir nicht so sicher.«

»Wenn ihr trotzdem mitkommen wollt …«, sagte José. Niemand widersprach. »Dann gehe ich jetzt ein letztes Mal an Land«, fuhr José fort. »Von hier aus kann man vermutlich nach Santiago schwimmen.« Er verschwand unter Deck, und als er diesmal wieder auftauchte, trug er ein Gewehr über der Schulter. Jonathan wich zurück.

»Was willst du denn damit?«, fragte er.

»Einen Vogel schießen«, antwortete José. »Oder ein wildes Schwein. Wir sollten die Gelegenheit nutzen, frisches Fleisch an Bord zu nehmen. Vielleicht finden wir auf Marchena keins.« Er legte das Gewehr an und zielte auf einen Punkt am Horizont. »Eines Tages«, sagte er, »ziehe ich nach Europa und knalle die Deutschen alle ab.«

»Warum?«, fragte Jonathan zögernd.

José bewegte das Gewehr und auf einmal zielte sein Lauf auf Jonathan. Er spürte, wie sich alles in ihm verkrampfte. Wusste José, wer er war?

»Weil ich sie hasse«, sagte José. »Ich hasse alle Deutschen. Alle.«

Hatte er seinen Akzent erkannt? Jonathan überlegte, was er tun würde, wenn José abdrückte. Nichts vermutlich. Fallen. Vielleicht schreien.

»Sie haben den Krieg gemacht«, fuhr José fort. »Sie sind schuld, dass deine Mutter tot ist und deine Schwester. Hasst du sie nicht?«

»Ich … nein … doch.« Jonathan merkte, wie sehr seine Stimme zitterte. José wusste gar nichts. Gar nichts. Er spielte nur mit seinem dummen Gewehr. Aber wenn du jemanden abknallen willst, magst du den Krieg, wollte er sagen. Du bist ja wie sie! Er sagte es nicht. Er sagte: »Dann geh und schieß deinen Vogel. Aber beeil dich. Vielleicht kommt die Roosevelt noch einmal zurück, um nach uns zu suchen. Weshalb auch immer.«

»Ach was«, sagte José, »die ist längst weit weg. Warte hier auf mich. Lass die Mariposa nicht allein, hörst du? Auf keinen Fall. Ich bin bald wieder da.«

Kurz darauf beobachtete Jonathan, wie José, das Gewehr mit einer Hand über den Kopf haltend, ans Ufer schwamm. Als er dort ankam, winkte er. Mit dem Gewehr.

»Loco«, sagte er leise. »Ein Verrückter. Wenn auch nicht halb so verrückt wie die Idee, von Hamburg auf die Galapagosinseln auszuwandern.« Aber vielleicht, dachte er, war auch sein Onkel nicht so verrückt gewesen, wie alle geglaubt hatten. Vielleicht hatte seine Idee, auszuwandern, überhaupt nichts mit Jonathans Mutter und ihrem Traum zu tun gehabt.

Thomas Waterweg war durch und durch deutsch. Ein Nationalsozialist. Einer von jenen, die glaubten, die Welt gehörte den Deutschen, den blonden blauäugigen Deutschen und niemandem sonst. »Eine lächerlich dumme Idee«, hatte Jonathans Mutter gesagt, »so lächerlich, dass man kaum glauben kann, dass ein Weltkrieg daraus entstanden ist.«…Aber das hatte sie nur leise gesagt und auch nur zu Hause, wo niemand sie hörte. Thomas, ihr Bruder, hatte den Krieg bisher von seinem Schreibtisch aus mitverfolgt. Er hatte Kontakte. So gute Kontakte, dass er nicht eingezogen worden war.

Und hier hatten die Amerikaner also eine Militärbasis auf Baltra, von der aus sie den Panamakanal kontrollierten. Es gab sicherlich eine Menge Leute in Deutschland, die genauere Informationen über jene Militärbasis durchaus interessant gefunden hätten.

Nein, dachte Jonathan, sein Onkel hatte den sicheren Schreibtisch nicht verlassen, um aus einer Laune heraus quer über den Pazifik zu fahren. Er war gekommen, um auf Baltra für die Deutschen zu spionieren.

Jonathan streichelte gedankenverloren den Pinguin Oskar, der den Kopf vertrauensvoll in seine Hand gelegt hatte. »Und vermutlich war es praktisch, auf der Reise einen netten kleinen Jungen bei sich zu haben, zur Tarnung«, sagte er zu Oskar, auf Deutsch. Pinguine verstanden alle Sprachen der Welt, das war bekannt. »Wer verdächtigt einen Onkel, der mit einem netten kleinen Jungen und einem englischen Pass aus Europa flieht? Nun, der nette kleine Junge ist ihm abhandengekommen. Er ist unterwegs mit einem, der alle Deutschen hasst, auf dem Schiff eines Toten, in dessen Kajüte plötzlich Pistolen auftauchen.«

In diesem Moment tauchte noch etwas auf. Es tauchte in einer der Lücken zwischen den Felsen auf, durch die Jonathan hinaus aufs Meer sehen konnte, und es war ein Schiff. Ein grauer Militärsegler. Die Roosevelt war zurückgekommen. Er beobachtete mit rasendem Puls, wie sie näher kam, wie sie sich der Küste näherte – und atmete auf, als sie einige Hundert Meter entfernt vor einem anderen Felsen ihre Fahrt stoppte, einem flachen Felsen, über den man die Insel trockenen Fußes erreichen konnte. Dort machten die Männer das Schiff mit einem dicken Tau fest, das sie um ein Stück des Felsens schlangen: Sie hatten einen natürlichen Hafen gefunden. Aber sie waren nicht gekommen, weil sie einen besonders hübschen Hafen gesucht hatten. Sie waren gekommen, weil sie etwas anderes suchten. Etwas, das ihnen entkommen war.

Er sah ihre Uniformen, und er fragte sich nicht zum ersten Mal, warum Männer in amerikanischer Uniform hinter José her waren: José, der die Amerikaner vergötterte, der so gern mit ihnen in den Krieg gezogen wäre … Er sah, wie sie zielstrebig die Küste hinaufgingen. Über ihren Schultern lagen Gewehre.

Jonathan war sich jetzt sicher, dass sie die Mariposa in ihrem Versteck nicht gesehen hatten. Aber vielleicht hatten sie etwas anderes gesehen. Vielleicht hatten sie José gesehen, wie er im Unterholz verschwunden war.

Die Hitze im Inneren der Insel umgab José wie ein lebendiges Wesen. Sie waberte zwischen den niedrigen Büschen und Farnen umher, schloss ihn ein und setzte sich auf ungewohnte Weise in seine Lungen. Schon zwei Tage auf dem Wasser hatten ihn die Hitze beinahe vergessen lassen.

Während der letzten Monate hatte sich die graue Geisterlandschaft der Küsten in einen großblättrigen Streifen niedrigen Grüns verwandelt, aber es wuchsen nur wenige Bäume darin, die Schatten spendeten. Er sah zum Himmel. Der Regen blieb seit zwei Wochen aus.

Die Wolken, die in den letzten Nächten das Mondlicht gestohlen hatten, waren weitergezogen, ohne abzuregnen. José dachte an die Farm zu Hause und an Mama Carmelita, die ebenfalls auf den Regen wartete. Dann dachte er an die Wasserkanister auf der Mariposa. Wenn es nicht mehr regnete, würde das Wasser nicht ausreichen. Nicht für zwei Leute …

Es raschelte vor ihm im Gebüsch und er blieb stehen. Ein Leguan tauchte aus den Sträuchern auf, reckte den gelben Kopf und sah José erwartungsvoll an, wie ein Hund, der auf ein Stück Wurst hoffte. José lächelte erleichtert. »Ich habe nichts für dich«, sagte er. »Ich kenne euch Bettler von zu Hause. Verschwinde!«

In diesem Moment raschelte es wieder, näher diesmal, und eine panische Explosion aus bunten Federn brach neben José aus dem Unterholz. Etwas war durch den Wald unterwegs, etwas Großes, das die anderen Tiere erschreckte. José sah sich um. Er musste ein ganzes Stück gestiegen sein. Hier gab es mehr Grün, lange Bartflechten bedeckten die Guavenbäume. Zwischen den bemoosten Stämmen raschelte es noch einmal. Was da raschelte, befand sich hinter einem dichten Gestrüpp voll weißer Blüten. »Schicksalsbäume« hießen die Pflanzen bei den Leuten von den Inseln. José nahm das Gewehr von der Schulter.

Vorsichtig teilte er die Zweige und pirschte sich hindurch, das Gewehr im Anschlag. Was da vor ihm Äste brach und Blätter zertrat, besaß die ungefähre Größe und Höhe eines Menschen. War einer der Siedler von der anderen Seite der Insel hier im Wald unterwegs?

Nein, sagte sich José, vermutlich handelte es sich um ein Tier. Ein Tier, das er schießen konnte. Er schlüpfte unter den letzten weiß blühenden Zweigen hindurch und stand auf einer Lichtung. Schwarze Lavafelsen säumten sie, überwuchert von den grünen Ranken und den faustgroßen duftenden Blüten einer Passionsblume. Und mitten auf der Lichtung stand das, was geraschelt hatte, und sah José entgegen.

Jonathan wartete lange auf José.

Er fand einen Eimer unter Deck und füllte ihn mit Meerwasser, um den Kaffeetopf und die beiden Suppenlöffel zu waschen. Und wartete. Er ordnete die Dosen auf den Regalen der Größe nach. Und wartete. Er wechselte Oskars Verband. Und wartete. Ab und zu warf er einen nervösen Blick zur Roosevelt hinüber, doch auch sie wartete vergeblich darauf, dass ihre Besatzung zurückkam. Die Sonne schien warm auf das Deck der Mariposa. Irgendwann döste Jonathan ein, und die Träume von der Vergangenheit, die ihn nicht losließen, hatten ihn wieder.

Er träumte von seiner Mutter. Sie saß zu Hause, in Hamburg, in dem großen alten Ohrensessel, und draußen schneite es deutschen Schnee. Es roch nach Zimt. Er und Julia saßen auf dem Sofa und lauschten den Wörtern, die Mama vorlas: langen komplizierten Wörtern – den Namen von Tieren und Pflanzen, die es nur auf den Galapagosinseln gab. Ihre Augen leuchteten bei jedem dieser Namen. Schließlich klappte sie das Buch zu. »Die Zimtsterne brennen an«, sagte sie. »Aber eines Tages, das versprech ich euch, backen wir Zimtsterne auf den Galapagosinseln. Eines Tages fahren wir dorthin und bauen uns dort ein Haus und vor der Tür blühen die Orangenbäume …«

Ehe Jonathan geboren worden war, hatte Mama Biologie studiert. Es gab nicht viele Frauen, die studierten, und die wenigen heirateten gewöhnlich irgendwann und hörten dann damit auf. Aber eigentlich hatte Mama nie aufgehört zu studieren. Sie hatte Bücher gelesen, Bücher und Bücher und Bücher, und am meisten liebte sie jene Bücher über die Galapagosinseln. Ihr alter Dozent war dort gewesen, Professor Blumenhaus. Jonathan kannte ihn nicht. Irgendwann war er aus Hamburg verschwunden, und Mama stellte sich gern vor, er wäre auf die Inseln ausgewandert.

»Wisst ihr noch, Blumenhaus’ Schmetterling?«, fragte sie, während sie das Blech mit den Zimtsternen aus dem Ofen zog. »Der Schmetterling, den er immer finden wollte?«

»Ja!«, rief Julia und hopste in der Küche auf und ab. »Er ist blau mit goldenen Punkten!«

»Richtig.« Mama nickte. »Professor Blumenhaus hat immer gesagt: Alle reden von den Echsen und den Seehunden auf den Galapagosinseln, aber niemand hat sich je mit den Schmetterlingen befasst. Er wollte der Erste sein. Er wollte den blauen Schmetterling mit den goldenen Flecken fangen, den er dort gesehen hatte. Er ist in keinem Buch erwähnt. Stellt euch vor, eines Tages stelle ich ein Blech mit Zimtsternen vor unsere Inselhütte und der blaue Schmetterling kommt angeflogen und setzt sich darauf …«

»Kann mein Bär mit auswandern?«, fragte Julia. »Er mag Schmetterlinge.«

»Sicher«, sagte Jonathan. »Wir wandern alle zusammen aus. Du und dein Bär und Mama und Papa und ich.«

Als Jonathan aufwachte, sah er noch eine Weile Mamas Inselhütte vor sich, zwischen den Orangenbäumen, und er musste lächeln. Natürlich war es nur ein dummer Traum gewesen, eine Seifenblase, und dann war der Krieg gekommen. Und Papa war eingezogen worden, er war in ein Flugzeug gestiegen und aus Frankreich nicht zurückgekehrt. »Vermisst«, sagten sie. »Er wird vermisst.« Und natürlich vermissten sie ihn. Aber eigentlich bedeutete es, dass er tot war, mausetot und kalt lag er irgendwo in Frankreich in der Erde, und das wusste sogar Julia.

Jonathan schüttelte die Gedanken an seine Familie ab. Die Sonne war ein gutes Stück weitergerückt. Wo war José?

Auch das große Schiff der Amerikaner lag nach wie vor verlassen an seinem Felsen. Aber der Felsen lag nicht mehr verlassen. Darauf hatte sich eine Gruppe Flamingos versammelt, die Hälse hinabgereckt, als wollten sie mit ihren gebogenen Schnäbeln den Stein glatt schleifen. Dann wurde ihm klar, dass sich Salzwasser in großen Pfützen auf dem Felsen gesammelt haben musste. Mama hatte ihm erzählt, dass Flamingos von winzigen Krebsen lebten, die sie aus dem Wasser filterten. »Wenn du sie sehen könntest!«, flüsterte er. »Wenn du sie nur …«

In diesem Moment hallte ein Schuss von der Insel her.

Jonathan lag auf dem Boden der Mariposa, ehe er überhaupt begriff, dass er sich hingeworfen hatte. Ein zweiter Schuss folgte. Ein dritter. Dann war es still.

So still wie auf Bartolomé, ehe die Rakete einschlug.

Er spürte Oskars weichen Körper, der sich Schutz suchend an ihn drückte.

»Ein Paradies«, wisperte er. »Waterweg hat gesagt, die Galapagosinseln sind ein Paradies, weit weg vom Krieg. Aber er hat sich getäuscht.«

Lied der Flamingos

Hälse biegen, Federn schütteln,

Köpfe wiegen, Flügel rütteln,

Zehen treten, Schlamm aufwirbeln,

Hälse jetzt zu Knoten zwirbeln,

rosa rosa rosa rosa

rosa rosa rot.

Köpfe strecken, Schnäbel senken,

Flügel recken, Hals verrenken,

Wasser filtern, Algen finden,

Zunge rollen, Zunge winden,

rosa rosa rosa rosa

wie ein Wolkenboot.

Zungen klicken, Zehen spreizen,

Beine knicken, nur nicht geizen

mit den tausend Positionen

im Ballett der Klimazonen,

rosa rosa rosa rosa,

sonst herrscht Farbverbot.

Und jetzt alle: Hälse biegen!

Und jetzt alle: Köpfe wiegen!

Und jetzt alle: Losmarschieren!

Und jetzt alle: Kopf verlieren!

Und jetzt alle: Massenpanik!

Wie auf sinkender Titanic.

Ach, wir glaubten uns versteckt,

doch der Mensch hat uns entdeckt.

In die Luft! Nur noch ein Wort:

Fort und fort und fort und fort!

Wer nicht schnell genug ist heute,

bleibt und wird zur leichten Beute,

rosa rosa rosa rosa rosa rosa rot

rosa rosa rosa rosa

rosa rosa tot.

Que pasó en el bosque
Was im Wald geschah

Als Jonathan schließlich wagte aufzusehen, standen die Flamingos nicht mehr auf dem flachen Felsen. Sie würden wiederkommen. Auch die anderen Vögel, die ins Unterholz geflohen waren, würden wiederkommen. Nur einer, der käme vielleicht nicht wieder. José.

»Lass die Mariposa nicht allein«, hatte er gesagt.

»Aber dich, dich soll ich allein lassen?«, murmelte Jonathan. »Oskar«, sagte er dann. »Ich fürchte, du wirst eine Weile auf die Mariposa aufpassen müssen. Segle nicht ohne uns weg, ja?« Er versuchte zu lachen, doch das Lachen kratzte in der Kehle. Er betrachtete einen Moment lang die Roosevelt, die ebenfalls allein gelassen im Wasser lag. Und auf einmal wusste er, was er zu tun hatte. Er steckte das Brotmesser ein. Es würde scharf genug sein, um ein Tau zu durchtrennen.

Etwas bewegte sich auf seinem Kopf. Carmen, die Ratte. Sie schien entschlossen, ihn zu begleiten. Beinahe war er erleichtert darüber, nicht allein gehen zu müssen. Er schwamm ans Ufer und war kurz darauf über den flachen Felsen unterwegs, zu dem die Flamingos tatsächlich zurückgekehrt waren. Doch als sie ihn kommen sahen, stiegen sie direkt wieder auf, panisch, als wäre er der gefährlichste Feind, den sie sich vorstellen konnten.

Eine merkwürdige Sorte Feind, dachte Jonathan, ein Brotmesser in der Hand, eine Ratte auf dem Kopf.

Minuten nachdem er das Tau durchgesäbelt und das Militärschiff befreit hatte, trat er zwischen die ersten dornigen Büsche der Insel. Er folgte einer Spur aus umgeknickten Ästen.

»Ist das nicht seltsam?«, sagte er leise zu Carmen. »Hier wandere ich durch die Hitze, um einen zu retten, der alle Deutschen abknallen will. Aber er weiß natürlich nicht, wer ich bin. Manchmal glaube ich selbst beinahe, mein Name wäre Jonathan.«

Er ging auf den Ort zu, von wo die Schüsse gekommen waren, ins Inselinnere. Aber irgendwann war er sich nicht mehr sicher. Außer niedrigem Farn und Büschen war nichts zu sehen. Auf den Lavafelsen wanden sich die Ranken von verschwenderisch bunten Passiflorablüten, tausend kleine Vögel waren dort unterwegs, und große, träge Landleguane saßen sonnentrunken zwischen den Steinen. Manche von ihnen kamen näher, als sie Jonathan entdeckten.

»Habt ihr gesehen, wohin er gegangen ist?«, fragte Jonathan, erst auf Deutsch, dann auf Spanisch und schließlich auf Englisch. Die Leguane folgten ihm ein Stück, die hungrigen Augen auf seine Hosentaschen gerichtet. Schweigend.

»Ich suche einen Freund!«, rief Jonathan verzweifelt. »Meinen einzigen Freund! Alle anderen Freunde, die ich hatte, hat der Krieg verschluckt!«

Er dachte erst über seine Worte nach, als er sie hörte. Einen Freund. War José ein Freund? José, der nichts mit ihm gemein hatte? Der Tiere schoss und über den Pazifik segelte und alle Deutschen hasste? Er kannte ihn kaum. Aber es war die Wahrheit: Er war der Einzige, der ihm blieb. Den Einzigen durfte man nicht verlieren.

Die Bäume um Jonathan wurden höher, behängten sich mit dichten Flechten und schlossen sich zu einem Wald voll raschelnder grüner Schatten. Jonathan blieb stehen. Er hatte keine Chance, José zu finden.

Und genau da fand er ihn. Oder eigentlich fand Carmen ihn. Sie gab eine Serie aufgeregter Fieplaute von sich, kletterte an Jonathan hinab und wuselte davon, mitten hinein in ein dichtes Gebüsch. Jonathan folgte ihr. Als er die Zweige teilte, rieselten Millionen weißer Blütenblätter zu Boden. Sie rieselten auf das Gras einer felsigen Lichtung. Und dort lag José. Er lag auf der Seite, reglos, sein schwarzes Haar verklebt von Blut.

Jonathan schluckte. Dann sah er im beißenden senkrechten Sonnenschein, dass sich Josés Brust hob und senkte. Er atmete. Carmens kleiner brauner Körper schlängelte sich durch das hohe Gras und schmiegte sich gleich darauf in Josés reglose Hand. Jonathan wollte ihr folgen – da trat jemand auf der anderen Seite der Lichtung aus dem Unterholz.

Es waren zwei Männer. Zwei Männer in Uniform. Er machte einen Schritt zurück in den Schutz der weiß blühenden Zweige. Die Amis von der Roosevelt.

Sein erster Gedanke war: die Schüsse. Die Amis haben auf ihn geschossen. Aber wie viel Zeit war vergangen, seit er die Schüsse gehört hatte? Sicher mehr als eine Stunde. Niemand brauchte eine Stunde, um jemanden zu finden, auf den er eben noch geschossen hatte. Es ergab keinen Sinn. Jonathan fühlte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. War noch jemand in diesem Wald unterwegs, noch jemand mit einem Gewehr? Jemand, der ganz nah war? Der ihn vielleicht die ganze Zeit beobachtet hatte?

Er sah, wie die Amis sich über José beugten und seine Taschen durchsuchten. Sie fanden darin nichts als Ersatzpatronen für Josés Gewehr. Keine Karte. José musste sie an Bord der Mariposa gelassen haben, zusammen mit der Pistole.

Schließlich hob einer der Männer José hoch und legte ihn sich über die Schulter wie einen Sack. Jonathan sah, wie Carmen sich an Josés Ärmel festkrallte. Tapfere kleine Reisratte, dachte er, aber was hast du vor?

Er dachte, die beiden würden zurück zur Küste gehen, doch sie schlugen die entgegengesetzte Richtung ein. Jonathan folgte ihnen leise durchs Dickicht. Sein Kopf arbeitete unaufhörlich, während er durch die grünen Schatten schlich. Was sollte er tun? Was konnte er tun? Es war schrecklich zu sehen, wie sie José mit sich fortschleppten. Ehe Jonathan daraufkam, was er tun konnte, sah er, wie José die Augen aufschlug. Zuerst bemerkte es nur Jonathan, doch dann bewegte sich José und die Männer blieben stehen.

»Sieh mal einer an, wer da zu sich kommt«, sagte der, der José trug. Er setzte ihn ab, lehnte ihn mit dem Rücken an einen Baumstamm und kniete sich neben ihn. Josés Blick war verschwommen, vernebelt, verwirrt.

»Wir haben dich vom Boden aufgesammelt«, sagte der andere Ami. »Was ist passiert?«

Jonathan sah aus seinem Versteck, wie José langsam den Kopf schüttelte. »Ich … ich weiß nicht«, sagte er in seinem gebrochenen Englisch.

»Du hast jedenfalls eins auf den Kopf gekriegt«, stellte der erste Mann fest. »Du bist von der Insel? Ich wusste nicht, dass es Einheimische gibt auf Santiago.«

José nickte schwach.

»Dein Gewehr«, sagte der zweite Mann, und zu Jonathans Erstaunen händigte er José tatsächlich sein Gewehr aus. »Lag neben dir. Warst auf der Jagd, was? Hast du dir selbst ein Loch in den Kopf geschossen?« Er lachte.

»Hör mal«, sagte der andere Mann, und jetzt war seine Stimme leiser und dringlicher. »Wir suchen jemanden. Jemanden, der mit einem Boot unterwegs ist. Wir haben ihn hier aus den Augen verloren, ganz in der Nähe, gestern Nacht. Hast du eine kleine Jacht gesehen, honigfarben, mit weißen Segeln?«

»Ja«, sagte José. Seine Augen waren jetzt nicht mehr vernebelt und sein Kopf schien wieder zu funktionieren. »Drüben in der Bucht, wo ich wohne. In der Buccaneer Cove. Sie hat heute Morgen da geankert.«

Die beiden pfiffen gleichzeitig durch die Zähne. »Und ist jemand an Land gegangen?«

»Gesehen hab ich keinen«, sagte José. »Sie hat weiter draußen geankert. Ich bin früh los, wollte was schießen … Das ist das Letzte, was ich weiß. Irgendwie ist da eine Lücke … in meiner Erinnerung.«

»Gehirnerschütterung«, sagte der eine Mann und nickte. »Das nächste Mal pass besser auf dich auf. Der, den wir suchen – womöglich schleicht er hier im Wald herum. Vielleicht war er es, der dir eine übergebraten hat. Obwohl ich nicht wüsste, warum.«

»Wer … wer ist das, den Sie suchen?«, fragte José.

Die beiden sahen sich an. »Jemand, der eine Karte besitzt«, sagte der eine. »Eine wichtige Karte.«

»Wichtig wofür?«, fragte José.

Für den, der einen alten Schatz finden will, dachte Jonathan.

»Wichtig für … den Krieg«, sagte der Ami. »Verstehst du?«

»Nein«, sagte José.

»Das brauchst du auch nicht. Wir bringen dich zurück nach drüben, zur Buccaneer Cove, und da schläfst du dir schön deine Gehirnerschütterung aus dem Kopf. Wir finden unseren Mann schon. Diesmal warten wir an Bord seines Honigbootes.«

»Ich habe so das Gefühl«, murmelte der andere, »dass das Schiff nicht mehr da sein wird, wenn wir die Bucht erreichen.«

Und damit, dachte Jonathan, hatte er recht. Es war nie da gewesen. Nicht in der Buccaneer Cove. Aber wenn sie José dorthin brachten, auf die andere Seite der Insel, würden sie merken, dass er nicht dort wohnte. Dass alles gelogen war.

Jonathan sah sich blitzschnell um. Vor ihnen stieg der Berg steil an. Der Wald wich zur Linken an einigen Stellen zurück und gab den Blick auf ein paar Felsen frei. Es sah nicht so aus, als wäre es schwer, hinaufzuklettern. Vielleicht war das seine Chance.

»Kannst du jetzt selbst gehen?«, hörte er einen der Amis fragen. Doch da saß Jonathan schon nicht mehr in seinem Versteck. Er tauchte im Dickicht an den dreien vorbei wie ein Schwimmer unter Wasser, und die Galapagosfinken beäugten voller Verwunderung das seltsame Tier, das da unter ihnen entlanghuschte. Warum hatte dieses Tier es so eilig?

Als der größere der beiden Männer José aufhalf, formten seine Lippen lautlos einen Fluch. Mierda! Was würde geschehen, wenn sie auf der anderen Seite der Insel ankamen? Er wusste nicht einmal, ob es wirklich Siedler auf Santiago gab.

Was würden die Amis mit ihm anstellen, wenn sie herausfanden, dass er gelogen hatte? Dass er es war, der das Honigboot gesegelt hatte, auf dem sich die Karte befand? Er begriff nicht, weshalb die Karte etwas mit dem Krieg zu tun hatte. Aber wenn sie das hatte, dann stimmte etwas mit diesen beiden Amerikanern nicht. Wenn sie ganz offiziell nach dieser Karte gesucht hätten, der Karte seines Vaters, dann hätten sie seinen Vater fragen können, damals schon, auf Baltra. Nein, diese beiden verfolgten ihr eigenes Ziel. Vielleicht waren sie überhaupt keine Amerikaner. Vielleicht … Sein Kopf dröhnte.

Wenn er sich nur nicht so elend fühlen würde! Jeder Schritt zuckte als Schmerzsignal durch sein Gehirn. Er würde es nicht schaffen, ihnen davonzulaufen. Auf der Mariposa wartete Jonathan, und vielleicht würde er für immer warten, vergeblich.

Da zischte etwas durch die Luft, und zuerst hielt José es für einen winzigen Vogel, doch dann hielt sich der, der voraus-ging, die Stirn und fluchte. Noch ein Nichtvogel kam geflogen. Steine. Jemand warf Steine. José duckte sich instinktiv, aber der dritte Stein traf nicht ihn, sondern wieder einen der Männer.

»Da oben!«, rief der Mann. »Auf den Felsen! Jemand ist auf den Felsen!«

»Und wirft Kiesel auf uns?«, fragte der andere. »Was soll das?«

»Er macht sich lustig über uns. Vielleicht ist es nur ein einheimisches Kind. Eines wie das, das wir auf der Lichtung aufgelesen haben.«

»Und wenn nicht?«

Die Frage blieb in der Luft stehen.

»Warte hier«, sagte einer der Männer. Ehe José ganz begriffen hatte, hatten sie ihn stehen lassen und waren auf dem Weg in die Felsen hinauf. Da bewegte sich etwas in Josés Hosentasche. Er machte einen Satz vor Schreck. Das, was sich bewegt hatte, war jetzt aus der Tasche geklettert, und kurz darauf rannte es als brauner Blitz über den Boden. Eine Ratte.

»Carmen«, flüsterte José erstaunt. Wieso war sie hier? Er wusste, dass er sie auf der Mariposa gelassen hatte, zusammen mit Oskar, dem Pinguin, und Jonathan … Carmen führte ihn ein Stück zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Dann schlüpfte sie ins Unterholz, dort, wo es am dichtesten war. José folgte ihr. Einen Moment saß er ganz still in dem grünen, modrigen Versteck und auch Carmen saß still. Sie wartete auf jemanden.

Und der Jemand kam.

»Hallo, José«, flüsterte Jonathan und kroch neben ihm ins Gebüsch. José wollte etwas sagen, doch da hörte er die Stimmen der Männer in der Ferne.

»… nicht mehr hier«, sagte einer von ihnen. »… stimmt etwas nicht.«

»Hier stimmt überhaupt nichts«, sagte der andere, näher jetzt. »Lass uns hinübergehen, zur Buccaneer Cove. Ich könnte wetten, der Kleine ist vor uns dort. Ist losgerannt, um jemanden zu warnen. Obwohl ich nicht begreife …«

Die Stimmen entfernten sich.

José atmete ein paarmal tief durch. »Frag mich jetzt bloß nicht, was passiert ist«, sagte er schließlich.

»Was ist passiert?«, fragte Jonathan.

Als sie den Strand erreichten, war es bereits Nachmittag. Auf Josés Stirn standen Schweißperlen, obwohl ein kühler Wind über den Pazifik strich.

»Du bist weiß wie ein Segel«, sagte Jonathan. »Lass mich das Gewehr hinüberbringen.«

José nickte stumm. Er schaffte es kaum, bis zu den Felsen zu schwimmen, zwischen denen die Mariposa gut verborgen vor Anker lag.

Gelegen hatte.

Der Platz zwischen den Felsen war leer.

José schloss einen Moment die Augen. »Jonathan«, sagte er, wassertretend. »Ich kann nicht mehr. Mir ist schlecht. Das ist alles falsch.«

»Ja«, sagte Jonathan. »Ich habe Oskar gesagt, er soll nicht allein wegsegeln, aber er hat sich wohl nicht daran gehalten.«

»Wer ist Oskar?«, fragte José erschöpft.

»Unser Pinguin.«

»Hör mal, das ist ein ziemlich schlechter Zeitpunkt für Witze.«

»Ich weiß«, sagte Jonathan. »Aber manchmal ist alles so … dumm, dass man nur noch Witze machen kann. Ich meine, hier trete ich mitten im Pazifik Wasser und halte ein Gewehr über dem Kopf und habe keine Ahnung, was ich tun soll.«

In diesem Moment pfiff jemand leise. José öffnete die Augen. »Carmen«, sagte Jonathan. »Hey! Musst du … über mein Gesicht …? Au!« Die Ratte hatte bis eben auf Jonathans Kopf gesessen, um nicht nass zu werden. Jetzt kletterte sie über seine Nase hinunter Richtung Wasser und sprang freiwillig hinein. Und dann schwamm sie los. Sie schwamm sehr zielstrebig. Nicht in Richtung Land, sondern um den äußersten der Felsen herum, in Richtung des offenen Meers. Jonathan und José folgten ihr verwundert. Und als sie die Ecke des Felsens erreichten, sahen sie etwas, das er bisher verborgen hatte: Da schaukelte ein Schiff auf den Wellen, ein honigfarbenes Schiff mit einer kleinen Kajüte.


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