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Die geheime Reise der Mariposa
  • Текст добавлен: 17 октября 2016, 01:01

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Автор книги: Antonia Michaelis



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In diesem Augenblick legte jemand eine Hand auf seine Schulter. Er schrie auf und fuhr herum. Hinter ihm stand – niemand. Aber die Berührung auf seiner Schulter war noch da. Etwas saß dort. Etwas Kleines, Braunes. Ein winziges Tier.

Es musste aus einer dunklen Ecke auf seine Schulter gesprungen sein. José stieg die Stufen hinauf an Deck und versuchte gleichzeitig, das Tier von seiner Schulter zu entfernen. Es ließ sich nicht entfernen. Es hielt sich mit seinen kleinen Krallen sehr entschlossen fest.

José verrenkte sich den Kopf, um das Tier zu sehen, und da hörte er Jonathan zum ersten Mal lachen. »Galapagos-Reisratte«, sagte Jonathan. »Endemisch.«

»Bitte was?«, fragte José verärgert. »Und was ist überhaupt so lustig?«

»Dein Gesicht«, sagte Jonathan. »Das auf deiner Schulter – es ist eine Ratte. Eine Sorte, die es nur hier auf den Inseln gibt. Das ist es, was endemisch bedeutet. Dass es sie nur hier gibt.«

»Woher weißt du das?«

Jonathan streckte die Hand aus und löste die Pfoten der Ratte vorsichtig von Josés Hemd. »Das ist eine lange Geschichte.« Er betrachtete die Ratte. Sie war kein bisschen scheu. »Du solltest ihr einen Namen geben«, meinte Jonathan.

»Einer Ratte, Jonathan? Bist du noch ganz dicht? Es gibt diese Sorte vielleicht nur auf unseren Inseln, aber dafür zu Tausenden. Sie geht über Bord, und zwar jetzt. Sie frisst die Vorräte. Gib sie her.«

Doch Jonathan drückte die Ratte an sich wie einen Schatz. »Das Leben kommt von Gott«, sagte er mit einem leisen Lächeln. »Auch das Leben einer Ratte. Lernt ihr keine Gottesfurcht, da, wo du herkommst?«

José knurrte. »Carmen«, sagte er dann.

Sie erreichten Santiago, als der Abend kam. Es war ein Tag voller Schweigen gewesen. Jonathans Schweigsamkeit war wie eine Mauer, gegen die José nicht ankam. Er wünschte, er hätte noch ein Dutzend Ratten unter Deck gefunden, damit Jonathan über sie lachen konnte, doch Carmen blieb der einzige blinde Passagier. Sie hatte sich mit etwas Brot füttern lassen und war offenbar jetzt damit beschäftigt, unter Deck aufzuräumen. Ab und zu hörte man etwas hinunterfallen.

José versuchte die Sullivan Bay anzulaufen. Er kannte die Bucht aus Erzählungen: Sie war ein einziges Feld aus dunklen, übereinandergelegten Stricken schwarzer Lava, die wirkten wie riesige Taue. Wo Gasblasen die oberste Lavaschicht zum Aufplatzen gebracht hatten, gab es Löcher in der Lava: Hornitos, längst erkaltete Gesteinsformen. Sie sahen aus wie Augen. José schüttelte sich unwillkürlich.

»Auf der anderen Seite der Insel gibt es Siedler«, sagte er. »Angeblich. Du wirst jemanden finden, der dir weiterhilft.«

Jonathan antwortete nicht. Und dann drehte der Wind und drückte die Mariposa von Santiago fort.

»Es wäre einfacher, eine der beiden Buchten da drüben anzulaufen«, sagte Jonathan und zeigte zur anderen Seite.

José schnaubte. »Das ist Bartolomé. Eine winzige Insel. Da gibt es keine Menschen. Was willst du dort?«

»Das weißt du genau«, sagte Jonathan. »Und du weißt auch, dass ich dazu keine Menschen brauche. Steure uns nach Bartolomé.«

José seufzte und wendete die Mariposa. Er war inzwischen zu müde, um zu diskutieren. Er musste sich eine Weile auf festem Boden ausstrecken und schlafen. Im Abendlicht glichen die sandigen Zwillingsbuchten von Bartolomé den Flügeln einer Möwe. In ihrer Mitte reckte sich steil eine schwarze Felsspitze in die Höhe wie ein Schnabel.

»Pinnacle Rock«, sagte José laut. Die Amerikaner hatten von diesem Felsen gesprochen, und auch seine Brüder, hinter vorgehaltener Hand. Als wäre der schwarze Stein etwas Lebendiges, etwas Unberechenbares, etwas Gefährliches. José spürte, dass die Abuelita etwas sagen wollte, und verbot ihr den Mund. Er übergab Jonathan noch einmal das Steuer, kletterte nach vorn, um den Anker auszuwerfen und die Segel einzuholen. Trotz der Müdigkeit fühlte sich jeder Handgriff leicht und eingeübt an, als hätte José sein Leben lang nichts anderes getan, als die Mariposa zu segeln. Aber der Schatten von Pinnacle Rock war tief und dunkel, und seine Spitze streifte die honiggelbe Flanke des Schiffs wie eine Drohung.

Das Wasser war hier nicht tief, es ging José nur bis zur Hüfte. Er half Jonathan beim Hinunterklettern und spürte einmal mehr, wie schmächtig er war. »Wenn du ins Meer hinausschwimmst, wie willst du je darin versinken?«, sagte José mit einem unpassenden Lächeln. »Du hast kein Gewicht, dass, dich in die Tiefe zieht.«

»Wir werden sehen«, sagte Jonathan.

Dann wateten sie an Land. Dort blieben sie stehen und sahen sich an, und schließlich streckte Jonathan seine Hand aus. Er schüttelte Josés Hand stumm zum Abschied. José wollte tausend Dinge sagen. Er wusste, dass keines der tausend Dinge Jonathan umstimmen konnte. So legte er sich in den weißen Sand, schloss für einen Moment die Augen und bemühte sich, nicht daran zu glauben, dass dieser Verrückte wirklich versuchen würde zu sterben. Er bemühte sich mit solcher Konzentration, dass er darüber einschlief.

Im Traum segelte er auf der Mariposa über das Meer bis nach London. José wusste, dass es London war, denn am Ufer stand Jonathan und winkte mit einer englischen Flagge. Auf seiner Schulter saß Carmen, die Reisratte, und mitten in der Flagge war ein Loch. »Das hat jemand mit der Pistole hineingeschossen!«, rief Jonathan in Josés Traum vom Ufer aus. »Aber wer? Wem gehört sie?«

Früher hatte Jonathan gedacht, die Inseln wären von Anfang an grün: Man setzte seinen Fuß darauf und befand sich im Urwald, wo Millionen von großen bunten Blüten an den Bäumen wuchsen und ihren süßlichen Duft verströmten. Isabela war nicht von Anfang an grün gewesen. Und auch hier lag nur vertrocknetes, sonnenverbranntes Land hinter dem Strand. Sein eigener Schatten zeichnete sich mit brutaler Schärfe auf dem Boden ab.

Er folgte einem vor langer Zeit ausgetretenen Pfad zwischen niedrigen Büschen hindurch – und trat beinahe auf das Nest eines Blaufußtölpels. Ein Stück weiter sonnte sich eine Schlange auf einem Stein, zwei Eidechsen huschten davon und ein träger gelber Landleguan beäugte Jonathan mit einem Blick voll gutmütiger Langeweile.

»Du hattest recht«, flüsterte Jonathan. »Mama, du hattest recht. Sie lassen sich von einem dummen Menschen nicht stören. Wenn du nur hier wärst und sie sehen könntest! Die Tiere, und auch die Pflanzen. Sie werden höher und grüner, je weiter man sich vom Ufer entfernt …«

Und da beschloss Jonathan, auf den schwarzen Felsen am Rand der Bucht zu steigen, um die Insel von dort aus zu betrachten: als könnte er sie seiner Mutter zeigen, indem er sie selbst sah. Vielleicht konnte er ihr davon erzählen. Er würde ihr bald begegnen, nicht wahr? Sobald er den Mut fand, noch einmal ins Wasser zu gehen.

Er kehrte zurück zum einen Ende des Strands, kletterte über spitze Lavasteine und verfluchte seine bloßen Füße. Und dann sah er hinunter zum Wasser und entdeckte die Pinguine. Sie waren kleiner und unscheinbarer als ihre schwarz-weißen Verwandten vom Südpol, sie trugen einen schlichten Anzug mit bräunlich gesprenkelter Brust und keinen schwarzen Frack. Dennoch waren es unzweifelhaft Pinguine. Sie spielten im Wasser zwischen den schwarzen Felsen wie Kinder, pfeilschnell, fischschnell. Doch die, die an Land kamen, verloren ihre Eleganz. Sie watschelten langsam und schwankend über die Steine: wie eine Reisegruppe aus älteren Herrschaften, die auf dem Kreuzfahrtschiff ein Gläschen Sekt zu viel getrunken hatten. Er merkte, wie sich ein Grinsen in sein Gesicht stahl. Mama, dachte er, hätte laut gelacht.

Ein paar der Pinguine schienen die Köpfe zusammenzustecken, um über etwas zu tuscheln. Nein, sie hatten sich über etwas gebeugt, das am Boden lag. Einen weiteren Pinguin. Jonathan schluckte. War er tot? Oh, wie satt er den Tod hatte! Er schlich sich überall ein, selbst in den Momenten, in denen man lachen wollte … Dann sah er, wie der Pinguin einen Flügel bewegte, hilflos, schwach, aber lebendig. Jonathan kletterte schneller über die spitzen Steine hinunter, als er es für möglich gehalten hatte.

Als er sich neben den Vogel kniete, wichen die anderen zurück und sahen ihn aus verwunderten Knopfaugen an. Blut hatte das helle Gefieder des Pinguins dunkel verfärbt. Er hatte eine große Wunde an der einen Flanke und offenbar konnte er den Flügel auf dieser Seite nicht bewegen. Es sah aus, als hätte jemand etwas nach ihm geworfen. Einen der scharfkantigen Steine, die hier herumlagen.

»Aber wer?«, wisperte Jonathan. »Wer hat das getan? Weshalb?«

Behutsam hob er den Pinguin hoch und hielt ihn im Arm wie ein Kind. Die blanken Augen des Vogels fanden seine und er las eine Bitte darin: Hilf mir, bat der Pinguin. Es war ein höflicher Pinguin. Wenn du mich hier liegen lässt, werde ich sterben. Es macht nichts aus, denn überall sterben Tiere, jeden Tag, es gehört dazu. Aber mir persönlich würde es doch etwas ausmachen.

»Natürlich«, flüsterte Jonathan. »Natürlich helfe ich dir. Vielleicht gibt es auf der Mariposa etwas, um die Wunde zu säubern. Alkohol. Und Verbandszeug. Ich werde José fragen. Ich …«

Der Pinguin drehte den Kopf und sah aufs Meer hinaus, und Jonathan folgte seinem Blick.

Dort näherte sich vor der sinkenden Sonne von Westen her ein Schiff. Es war größer als die Mariposa, und obwohl er die Farbe nicht genau erkennen konnte, schien es ihm grau. Militärgrau. Jonathan duckte sich instinktiv hinter einen Felsbrocken.

Der Militärsegler glitt jetzt elegant und lautlos in die Bucht hinein, die Segel wurden eines nach dem anderen heruntergenommen und ein Motor sprang an. Das Schiff steuerte direkt auf die ankernde Mariposa zu. Im letzten Moment riss jemand auf dem großen Schiff das Steuer herum und es legte sich längs, Flanke an Flanke mit dem kleinen honiggelben Boot.

War José dort? War er wieder an Bord?

Jonathan sah, wie ein Mann von dem großen Schiff auf die Mariposa hinüberstieg. Er hörte Stimmen, sah den Mann in der Kajüte verschwinden und nach einer Weile wieder auftauchen, um zurück auf den großen Segler zu klettern. Gleich darauf ankerte das Schiff wenige Meter von der Mariposa entfernt. Zwei Männer wateten an Land. Sie gingen über den Strand hinauf, dorthin, wo die ersten, niedrigen Büsche standen.

»Sie suchen etwas«, flüsterte Jonathan. »Sie suchen jemanden. Jemanden, den sie auf der Mariposa nicht gefunden haben. Sie suchen José.«

Aber wo war José? Jonathan konnte ihn am Strand nirgends entdecken. Versteckte er sich zwischen den duftenden Balsambäumen, irgendwo im Schatten, unsichtbar geworden, eins mit der Dämmerung? Wusste er, dass jemand ihm folgte? Jonathan schloss die Augen, um besser nachdenken zu können. Und er merkte, dass er Angst hatte. Angst, dass die Männer José fanden.

Er wartete lange mit geschlossenen Augen und klopfendem Herzen, und schließlich hörte er die Stimmen der Männer ganz nah, hörte ihre Schritte vor seinem Felsen über den Strand gehen. Sie sprachen englisch, aber einer, der so weit gereist ist, versteht auch Englisch. Einer, in dessen Pass steht, dass er in London geboren wurde, sollte Englisch verstehen.

»… machen, dass wir hier wegkommen«, sagte der eine. »Das Schiff aus der Bucht schaffen. Es ist gleich dunkel. Du weißt, was bei Einbruch der Dunkelheit passiert.«

»Wir hätten ihnen sagen sollen, dass wir hier sind … Wir sind zu überstürzt aufgebrochen … Über Funk kriege ich keinen rein. Wer konnte auch ahnen, dass er ausgerechnet nach Bartolomé fährt?«

»Wir. Wir hätten es ahnen können. Es ergibt Sinn.«

»Ja. Eine Menge ergibt jetzt Sinn. Lass uns irgendwo draußen auf ihn warten, vor der Bucht. Er sitzt in der Falle hier. Spätestens morgen früh haben wir die Karte in der Hand. Und dann hat es ein Ende mit der Reise der Mariposa. Mariposa! Was für ein harmloser Name, verglichen mit …«

Die Stimmen entfernten sich, und als Jonathan wieder wagte, seinen Kopf hinter dem Felsen hervorzustrecken, wateten die Männer bereits ins Wasser zurück. Sie trugen die Uniformen der US-Marine. Er hatte noch nie jemanden so rasch waten sehen.

Etwas würde auf Bartolomé geschehen, wenn die Sonne unterging, etwas, das man besser nicht miterlebte. Kurz darauf legte das Schiff der Amerikaner ab, ohne Segel zu setzen. Als das Dröhnen des Motors die Bucht verließ, wurde es sehr, sehr still. Die schwarze Nadel des Pinnacle Rock ragte in die Stille wie eine stumme Warnung.

Jonathan stand auf, den Pinguin noch immer auf dem Arm. Mit einem Mal verstand er, warum die Stille so still war. Die Pinguine waren nicht mehr da. Sie mussten allesamt ins Wasser getaucht und geflohen sein. Wovor geflohen?

Es war etwas, das schon häufiger passiert war, immer zur gleichen Zeit, etwas, an das sie sich hatten gewöhnen können.

Jonathan ließ seinen Blick über die Insel schweifen, suchend. Und er entdeckte eine kleine Gestalt, die über den Strand auf ihn zukam. José. Er winkte, aber er sah nicht aus, als hätte er es eilig. Er hatte das Gespräch der Amerikaner nicht gehört.

Denk!, befahl Jonathan sich selbst. Denk, denk, denk! Rascher!

Er sah den verletzten Pinguin an, dachte an den Stein und plötzlich sah er noch etwas. Mehr Steine. Überall verstreut lagen Stücke von Felsen, harte, kantige Stücke, die das Wasser nicht glatt geschliffen hatte. Diese Felsbrocken waren neu. Sie wirkten wie … abgesprengt.

In seinem Kopf tauchten Worte auf: Baltra. Die Amerikaner. Die Militärbasis.

Dann formte sich in der Stille ein hoher Ton, weit, weit fort – mehr die Ahnung eines Tons. Er schmerzte in den Ohren und schwoll langsam an. José war jetzt ganz nah.

Er winkte noch einmal.

Und in diesem Moment begriff Jonathan etwas.

Er hielt den Pinguin ganz fest und rannte los. Nie war er schneller gerannt. Er flog über die spitzen Steine, er spürte nicht, wie ihre Kanten seine bloßen Füße ritzten. Der Ton wurde lauter und lauter und lauter und LAUTER, eine Art seltsames Heulen in der Luft, näher und näher … Jonathan erreichte José mit einem letzten Satz, dort, wo der Felsen in Strand überging. Er riss ihn mit sich zu Boden, und als sie nebeneinander im Sand lagen, drückte er Josés Kopf in den Sand und schützte mit seinem Körper den Pinguin.

Hinter ihnen explodierte die Welt.

Lied der Landleguane

Ich weiß es ja, es ist nicht galant,

so aus dem Busch aufzutauchen.

Aber hätten Sie wohl etwas Proviant,

den Sie nicht mehr brauchen?

Ich weiß, Sie haben aus Büchern erfahren,

ich fräße die Blüten der Baumkakteen.

Mag sein, doch ich frage mich seit Jahren:

Muss denn das in den Büchern stehn?

Ich nehme jede Art von Essen:

ein Butterbrot, falls es genehm ist?

Weil auf Bäume zu klettern, um Blüten zu fressen,

auf Dauer doch unbequem ist.

Sie finden mich faul? Dann besteh ich drauf,

dass Sie mehr Fleiß beweisen.

Klettern Sie doch einen Kaktus hinauf,

um zu Abend zu speisen!

Ich denke praktisch, zählt das nicht?

Ich lege mein Gelege

zum Bebrüten ins Sonnenlicht

und gehe meiner Wege.

Ihre Ahnen, das ist lange her,

haben die meinen gegessen!

Da wäre es doch jetzt nur fair,

Sie gäben mir Ihr Essen …

El fin del paraiso
Das Ende des Paradieses

Es regnete Felssplitter. Irgendwo fiel etwas ins Wasser.

Schließlich richtete Jonathan sich wieder auf und zog José hoch.

Der Pinnacle Rock wies stumm in den Himmel: Er wies in die Richtung, aus der die Rakete gekommen war. An seiner Spitze fehlte ein winziges Stück. Kurz hinter Jonathan und José lag ein großer Felsbrocken im Sand.

»Was …?«, fragte José.

»Raketen«, sagte Jonathan. »Die Amis. Sie schießen von Baltra aus.«

Er sah die Verblüffung in Josés Augen. »Woher weißt …«

»Ich weiß es nicht. Aber es wäre eine gute Erklärung. Sie üben. Der Fels ist ein hervorragendes Ziel.«

Er streichelte den verletzten Pinguin. Er hatte Angst gehabt, er hätte ihn bei seinem Sturz gequetscht, aber dem Vogel schien nichts geschehen zu sein.

»Danke«, sagte José leise. »Ich glaube, wir sind quitt. Du hast mich gerettet.«

»Hm«, sagte Jonathan. »Sieht so aus.«

»Warum?«, fragte José. »Und warum bist du gerannt? Ich dachte, du wolltest sterben?«

Jonathan zuckte die Schultern und streichelte weiter den Pinguin. »Oskar«, sagte er. »Ich werde ihn Oskar nennen. Er sieht so aus.« Dann sah er auf und lächelte. Seine blauen Augen lächelten mit. »Vorerst … sterbe ich nicht. Vorerst halte ich andere davon ab, es zu tun. José, wir können ihn doch mitnehmen, oder? Oskar.«

»Wohin?«, fragte José.

»Das wollte ich dich auch fragen«, antwortete Jonathan ernst. »Wohin segeln wir?«

Keiner von ihnen hatte Lust, die Nacht auf Bartolomé zu verbringen. Die Luft um sie schien zu zittern, als sie zurück zur Mariposa wateten – zu zittern in Erwartung eines weiteren hohen Tons, einer weiteren Explosion.

Es war ganz dunkel, als José den Anker aus dem Schlick zog. Und dann segelten sie hinaus in eine weitere pazifische Nacht, eine Nacht voller Wolken, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie regnen sollten. Carmen hatte auf Jonathans Schulter Platz genommen, und auf seinem Schoß hielt er Oskar, den Pinguin, der ab und zu kleine besorgte Laute von sich gab.

»So«, sagte José. »Wenn du wirklich mit mir fährst, wird es Zeit zu erzählen. Tausend Geschichten zu erzählen. Du kannst darüber nachdenken, welche du zuerst erzählst, während ich noch eben die Positionslichter …«

»Warte«, unterbrach Jonathan ihn. »Tausend Geschichten können warten. Nur die tausendunderste ist jetzt wichtig. Es ist die Geschichte von einem amerikanischen Schiff, das irgendwo da draußen in der Nacht liegt und lauert. Und dieses Schiff hat keine Lichter gesetzt, da möchte ich wetten. Es wartet auf uns.«

»Das Schiff, das vorhin neben der Mariposa lag und sofort wieder abgefahren ist? Ich habe es gesehen. Und ich glaube, ich kenne es. Das ist die Roosevelt. Ein etwas zu groß geratener Name für so ein kleines Schiff. Sie kommt von Baltra. Meine Brüder haben erzählt, bis vor Kurzem sei sie ein privater Segler gewesen. Die Amis haben sie zu einem Militärschiff gemacht. Sie haben dem Besitzer eine Menge Geld gezahlt. Die Roosevelt ist nicht das einzige Schiff, das seine Farbe gewechselt hat, um in den Krieg zu ziehen.«

Jonathan lächelte über seine Worte. Es war nicht wirklich so, dass dieses Schiff heroisch beflaggt in den Krieg zog. Die Roosevelt war also eines der vielen Kontrollschiffe, die die Inseln patrouillierten. Aber jetzt war sie auf der Suche.

»Sie suchen«, sagte Jonathan langsam. »Sie suchen … dich.«

Keiner der Männer hatte Josés Namen erwähnt – doch nach wem sollten sie sonst suchen?

»Ich habe sie reden hören«, fuhr Jonathan fort. »Sie sind hinter einer Karte her. Das ist eine der tausend Geschichten, die erzählt werden müssen, nehme ich an.«

José nickte. »Keine Positionslichter also«, sagte er.

So verließ die Mariposa Bartolomé genauso unsichtbar, wie sie Baltra verlassen hatte. Ein Geisterschiff.

Jonathan tastete sich unter Deck und fand nach langem Suchen auf einem der Regale eine Kerze und Streichhölzer. »Die eine Kerze unter Deck wird niemand sehen«, flüsterte er zu José hinauf. »Es ist wegen Oskar. Ich muss mich endlich um seine Wunde kümmern. José? Rauchst du?«

»Manchmal. Warum?«

»Es ist nur … es riecht hier so nach Tabak«, sagte Jonathan. »Vorhin roch es noch nicht nach Tabak.« Dann fiel ihm ein, dass José an Land gewesen war, genau wie er selbst. Carmen kletterte von seiner Schulter und setzte sich auf den Kajütentisch, um sich im Licht der Kerze zu putzen. Ihre Augen glitzerten schlau. Sie wusste mehr als er.

»Wenn du es bist, die raucht«, sagte Jonathan streng, »tu das bloß nicht dort hinten bei den Benzinkanistern. Die Dinger explodieren, verstehst du?«

Er würde später über die Sache mit dem Tabak nachdenken. Zunächst brauchte er etwas, um Oskars Wunde zu desinfizieren. Er fand eine Flasche Rum zwischen den Dosen mit dem eingemachten Fleisch und ein paar alte Kleider neben den Kanistern. Der Stoff war brüchig, es war leicht, einen Streifen davon abzureißen. Oskar beobachtete ihn ängstlich, als er sein Gefieder mit dem rumdurchtränkten Hemdstoff säuberte. Aber er hielt brav still und ließ sich verbinden. Jonathan arbeitete sorgfältig und konzentriert – und dann wurde ihm klar, dass es nicht Oskar war, den er verband. Im Geiste verband er andere Leute: seine Schwester Julia. Seine Mutter. Seinen Vater.

Er verbarg sein Gesicht in Oskars weichem Gefieder und atmete den tranigen, salzigen Fischgeruch. So saß er lange auf der schmalen, harten Bank, den Pinguin im Arm, bis er merkte, dass der Vogel eingeschlafen war. Er legte die Wolldecke auf den Boden und bettete den Vogel darauf. Dann nahm er eine Dose mit eingemachten Erbsen vom Regal und stieg zurück an Deck. »Zwei Fragen«, sagte er. »Erstens: Hast du etwas, um diese Dose zu öffnen? Zweitens: Willst du mir nicht endlich erzählen, wohin wir fahren und weshalb?«

So erzählte José die Mariposa durch die Nacht und durch die Angst, von dem anderen Schiff entdeckt zu werden. Er erzählte von Baltra und von der Farm zu Hause auf Isabela und von seinen erwachsenen Brüdern. Vom Fliegen erzählte er und von seinem Traum, ein Held zu sein. Und zum Schluss davon, was der junge Amerikaner am Hafen gesagt hatte.

»Wir werden herausfinden, wer auf der Isla Maldita lebt«, sagte er. »Falls jemand dort lebt. Und dann werden wir fliegen. Wir beide. Wie die Fregattvögel.«

Jonathan schwieg lange.

»Und die Karte?«, fragte er schließlich. »Sie haben gesagt, sie suchen eine Karte.«

»Ja, das … das ist seltsam«, sagte José. »Ich habe eine Karte. Die Kopie einer Karte. Angeblich liegt ein alter Piratenschatz auf der Isla Maldita. Aber wer glaubt schon an Piratenschätze? Der Letzte, der daran glaubte, war mein Urgroßvater. Und der ist nicht zurückgekommen von der Insel.«

»Vielleicht finden wir ihn dort«, sagte Jonathan. »Er sitzt mit dem Schatz ganz allein auf der Insel und ärgert die Amerikaner, wenn sie vorbeifahren.«

»Hm«, sagte José und überlegte. »Hundertundzwei. Er wäre jetzt hundertundzwei. Irgendwie unwahrscheinlich. Aber eine hübsche Vorstellung: wie der zahnlose Alte dasitzt und einen Berg Diamanten lutscht wie Bonbons …«

In diesem Moment rissen die Wolken auf, genau wie in der Nacht zuvor, und das Mondlicht fing sich gleißend hell in den Segeln der Mariposa.

Jonathan sah sich um. »José«, flüsterte er. »Sieh nur.«

Hinter ihnen fing sich das Mondlicht in den Segeln eines zweiten Schiffs. Eines größeren, stolzeren Schiffs. Die Roosevelt. Sie hatte wirklich keine Lichter gesetzt. José fluchte. Das andere Schiff war ein gutes Stück entfernt – weit genug, um zu hoffen, dass die Männer darauf die Mariposa noch nicht entdeckt hatten. Links von ihnen erstreckte sich die Küste von Santiago. An manchen Stellen lagen große, zerklüftete Felsen vor der Küste.

»Kopf runter!«, zischte José. Jonathan gehorchte, und der Mastbaum schwang zur anderen Seite, als José die Mariposa abrupt wendete. Dann drückte José Jonathan das Steuer in die Hand.

»Zwischen die Felsen!«, sagte er. »Steure sie zwischen die Felsen!«

Jonathans Hand zitterte, als er das Steuer übernahm. Es war wahrscheinlicher, dass er das Schiff gegen die Felsen steuerte. Doch José war schon nach vorn geklettert, um die Taue der Segel zu lösen. Als sie am ersten der Felsen vorüber waren, ließ er das Großsegel herunter und rief etwas, das Jonathan nicht verstand, aber er riss das Ruder herum. So glitt die Mariposa mitten zwischen die Felsen. Sie streifte einen von ihnen, ein hässliches Schaben ertönte, einen Moment später hatte José das Vorsegel eingerollt und den Anker geworfen. Die Mariposa ruckte einmal an der Ankertrosse und stand, zitternd wie ein Pferd nach einem Wettlauf.

José kletterte zurück nach hinten und eine Weile saßen er und Jonathan ganz still nebeneinander. Sie sahen die Roosevelt nicht mehr, zwei der hohen Felsen lagen jetzt zwischen ihnen und dem offenen Wasser.

Es wird nichts nützen, dachte Jonathan. Es ist ein schlechtes Versteck. Es gibt keine guten Verstecke für eine ganze Jacht, nicht einmal für eine so kleine Jacht wie die Mariposa …

»Jonathan!«, flüsterte José und zeigte auf eine Lücke zwischen den Felsen. »Sie … sie fahren vorüber! Sie fahren einfach weiter!«

Josés Augen glänzten in der Dunkelheit. Es schien ihm direkt Spaß zu machen, verfolgt zu werden. In der Ferne wurde die Roosevelt kleiner und kleiner und schließlich verschluckte die Nacht sie ganz.

In dieser Nacht träumte Jonathan wieder von Hamburg. Die Träume ließen ihn nicht los, sie brachten die Vergangenheit zurück, sobald er schlief.

Im Traum blickte er in Frau Adams Gesicht. Sie hatte sich über ihn gebeugt und er hörte sie Worte flüstern. »Armes, armes Kleines«, flüsterte sie. »Mein armes Kleines!«

Ihr Haar war bedeckt mit weißem Staub. Er fuhr mit der Hand durch sein Gesicht und auch in seinem Gesicht war Staub. Staub und Blut. Da war eine Wunde an seiner Stirn. Sie brannte und ein dumpfer Schmerz pochte hinter seinen Schläfen.

»Mein armes Kleines!«, wiederholte Frau Adam. »Gut, dass du wieder zu dir kommst. Das mit der Lampe tut mir leid. Ich musste dich … außer Gefecht setzen. Du warst drauf und dran, die Tür zu öffnen und uns alle in den Tod zu reißen. Drauf und dran …«

Er drehte den Kopf. Er befand sich nicht mehr im Luftschutzkeller. Er befand sich in einer fremden Wohnung. Stimmen schwirrten ziellos umher. Jemand weinte. Die Luft roch verbrannt. Jonathan kam auf die Beine und fand ein Fenster, dessen Verdunkelung bereits entfernt worden war, um den Morgen einzulassen. Er kannte die Straße, die er sah. Sie befand sich nicht weit von seiner eigenen Straße entfernt.

»Wir sind bei meiner Schwester«, sagte Frau Adam. »Richard hat geholfen, dich herzutragen. Obwohl es überall noch gebrannt hat. Du hast dich ja nicht gerührt, nicht wahr … Das Haus – unser Haus –, es steht nicht mehr. Es ist ausgebrannt. Wir hatten Glück.«

Jonathan drehte sich um und sah, dass sie mit einer Hand ihre Stehlampe umklammerte. Sie hatte sie also mitgenommen. Die Stehlampe war alles, was vom Haus Nummer 19 geblieben war. Und dann erinnerte er sich wieder an seinen Kampf mit Richard, an die Tür des Luftschutzkellers, an das Beben des Bodens; an alles.

Vor allem an ein Lächeln in der Nacht, Mamas Lächeln.

»Halt deinen Bären gut fest«, hörte er sie wieder zu Julia sagen. »Denn jetzt rennen wir.«

Er war mit drei Schritten bei der Tür, durchquerte einen fremden Flur, hörte Frau Adam hinter sich rufen – rannte durch eine fremde Haustür in einen fremden, verbrannten Morgen hinaus und bog kurz darauf in seine eigene Straße ein. Doch es war nicht mehr seine Straße. Er blieb stehen. Die Häuser hatten sich in schwarze Gerippe verwandelt. Manche besaßen noch Mauern. Bei einem konnte man in die Zimmer hineinsehen, weil die Vorderwand fehlte. Schließlich stand er vor den schwelenden Resten des Hauses Nummer 19. Der Eingang zum Luftschutzkeller von Nummer 21 war halb von Steinbrocken zugeschüttet. Und mitten zwischen den Steinen lag etwas. Etwas Rotes. Ein rotes Band. Jonathan bückte sich und zog daran. Dann hielt er einen Teddybären in den Händen, einen staubigen, dreckigen Teddybären mit einer roten Schleife um den Hals. Da war noch etwas, etwas aus kariertem Stoff. Eine alte Schiebermütze.

Aber niemand mehr, der sie aufsetzen konnte. Und niemand, der den Bären an sich drückte.

Er hielt ihn fest und ging langsam hinüber zu Nummer 19. Stieg über Mauerreste in die Ruine, die kein Haus mehr war. Der beißende Rauch, der noch immer von den verkohlten Balken aufstieg, ließ seine Augen brennen. Doch er weinte nicht.

Jemand sagte seinen Namen. Er drehte sich um. Mitten in der Ruine stand Richard, groß, blond, noch immer in Uniform. Rußverschmiert.

»Es ist gefährlich, die Häuser zu betreten«, sagte er. »Alles, was hier noch steht, kann jederzeit einstürzen. Wir haben Anweisung, Frauen und Kinder davon abzuhalten, die Ruinen zu durchsuchen.« Richard trat einen Schritt auf ihn zu und nahm ihn am Arm, sanft diesmal, als müsste er ihn festhalten. Ihn beschützen. Er war Jonathan zu nah. Sein Atem war warm. »Es tut mir leid«, wisperte er. »Das mit deiner Mutter und deiner Schwester.«

Das war der Moment, in dem Jonathan verschwand.

Die Person, die eine kleine Schwester namens Julia und eine Mutter im Haus Nummer 19 gehabt hatte, machte sich ganz klein und verkroch sich, weit, weit fort vom Licht des Morgens und von Frau Adams Mitleid und Richards Atem. An einem Ort, wo niemand sie finden konnte, tief im Inneren einer Hülle.

Die Hülle hatte die Form einer Person mit einem Teddybären und einer alten Mütze in der Hand. Aber wirklich nur die Form. Richard half dem, was er für jene Person hielt, über die halb eingestürzte Mauer, und als Jonathan stolperte, streiften Richards Lippen wie zufällig seine Wange. Aber für einen Zufall verharrten sie etwas zu lange dort, pressten sich an ihn …

»Jonathan!«

Er öffnete die Augen. Es waren nicht Richards Lippen, die sich an seine Wange pressten. Es war ein Pinguin. Jonathan lag zusammengerollt auf dem Kajütendach der Mariposa, und Oskar war ihm offenbar gefolgt, um in seiner Halskuhle zu schlafen. Über ihnen stand José und schüttelte den Kopf. »Was tust du hier?«

»Ich … habe geträumt«, sagte Jonathan und setzte sich auf. »Manchmal gehe ich im Traum irgendwohin. Wie in der Nacht, als du mich aus dem Wasser gezogen hast. Da bin ich im Traum über Bord geklettert.«

José nickte langsam. »Jetzt habe ich wenigstens eineAntwort auf meine tausend Fragen.«

»Wenn wir gerade dabei sind, kann ich die anderen auch beantworten«, sagte Jonathan und streichelte Oskar. »Sie sind tot.«

»Wie bitte?«, fragte José.

»Das wolltest du doch wissen. Wo meine Eltern sind. Es war ein Bombenangriff, nachts. Die Stadt hat gebrannt …«

»London«, sagte José.

»Ja«, sagte Jonathan. War es nicht egal, ob es London oder Hamburg gewesen war? Wo lag der Unterschied? »Sie haben es nicht mehr in den Keller hinuntergeschafft. Nur ich war dort unten. Sie waren draußen. Meine Mutter und meine kleine Schwester. Julia.« Er griff in seine Tasche und legte eine alte Mütze und ein Stück rotes Band vor José aufs Kajütendach. »Das ist alles, was von ihnen übrig geblieben ist. Die Mütze … gehörte meinem Vater. Aber meine Mutter hatte sie in der Nacht auf. Und das rote Band gehörte Julias Teddybären. Später, auf unserer Reise, ist es abgegangen, deshalb habe ich es in der Tasche. Der Teddybär ist vermutlich noch bei Wa… bei Smith.«


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