355 500 произведений, 25 200 авторов.

Электронная библиотека книг » Antonia Michaelis » Die geheime Reise der Mariposa » Текст книги (страница 11)
Die geheime Reise der Mariposa
  • Текст добавлен: 17 октября 2016, 01:01

Текст книги "Die geheime Reise der Mariposa"


Автор книги: Antonia Michaelis



сообщить о нарушении

Текущая страница: 11 (всего у книги 17 страниц)

Lied der roten Strandkrabbe

Bin nur ein Farbklecks auf dem Stein,

rot, orange und blau.

Bin nur ein Farbklecks auf dem Stein

und würd so gern was andres sein,

bedeutend, groß und schlau.

Ich recke meine Fühler

und bestieläuge die Welt.

Ich recke meine Fühler

und fühle, wann das Wasser kühler

wird und Regen fällt.

Mehr hat man mir nicht beigebracht,

nicht einmal, geradeaus zu gehn.

Mehr hat man mir nicht beigebracht,

ich laufe seitwärts, Tag und Nacht,

auf zu viel Beinen ohne Zeh’n.

Du, Mensch, nennst nur zwei Beine dein,

bist kaum ein Klecks in dieser Welt.

Du, Mensch, nennst nur zwei Beine dein

und würdest gern bedeutend sein

und wärst so gern ein Held.

Cautivos del fuego
Gefangene des Feuers

In dieser Nacht schlief Marit in der winzigsten aller Kajüten auf einer Matratze aus Segeltuch. Nein. Sie schlief nicht. Sie blieb wach.

Durch das Steuerbordfenster konnte sie die helle Linie des Strands sehen und darauf die plumpen, dunklen Körper der schlafenden Seelöwen. Kleine Schatten huschten vorbei – Strandkrabben. Sie wusste, dass ihre Scheren und Panzer rot waren wie das Feuer der erloschenen Vulkane. Das Fenster war breit und flach, das Glas eingepasst in den schwarzen Rahmen einer schützenden Gummilasche, die dem Bild des Strands etwas wie einen Trauerrand verlieh. Der Rahmen rückte den Strand dort draußen weit weg, als wäre das Fenster gar kein Fenster, sondern nur ein Bild … ein Bild, dessen Teil Marit nie wieder werden konnte.

Von draußen hörte sie Waterwegs ruhige Atemzüge, nur durch das dünne Holz einer kleinen Tür von ihr getrennt. Er hatte sich dort auf den Boden gelegt, ohne Matratze, ohne Schutz vor dem kühlen Wind, der jetzt übers Wasser strich. Er hatte eine Flasche Wasser und einen Teller mit zwei belegten Broten auf das winzige Regalbrett unter dem Steuerbordfenster gestellt. Er hatte ihr eine Wolldecke gegeben. Er hatte alles getan, damit sie es bequem hatte.

Marit saß aufrecht in der Nacht, die Arme um die Knie geschlungen, und hasste all diese Bequemlichkeit, denn an Land gab es jemanden, der es nicht bequem hatte. Jemanden, der Angst vor dem Morgen hatte.

»Was wird geschehen?«, hatte Marit gefragt, »wenn der Morgen kommt?«

»Dann wird mir der kleine Held an Land sagen, wo er die Karte versteckt hat«, hatte Waterweg geantwortet, mit einem seltsam traurigen Lächeln. »Dann wird er durstig genug sein. Und wir werden zurücksegeln, nach Isabela. Wenn Casaflora den Motor nicht mehr hinbekommt, nehmen wir ihn mit.«

»Und José?«

»Was denkst du denn? Denkst du, ich lasse ihn hier verdursten?«

»Ja«, hatte Marit geantwortet, »das denke ich.«

»Unsinn. Ich nehme ihn auch mit. Hast du nicht gesagt, er lebt auf Isabela? Wir bringen ihn dorthin zurück, wo er hingehört. Und dann wirst du ihn vergessen. Ich wünsche mir – wirklich –, dass du hier ein neues Leben beginnst, irgendwie. Aber dieser José – er lebt in einer Welt, zu der du keinen Zugang hast, zwischen Maniokstauden und Fischernetzen. Deine Familie hat zwischen Büchern und Bildern gelebt. Er ist nicht dein Bruder, und du bist nicht seine Schwester, und es kann niemals so sein.«

Dann hatte er den Riegel vor die Kajütentür gelegt. »Ich habe Angst«, hatte er gesagt, »dass du Dummheiten machst. Dass du diesen Jungen befreist. Du verstehst nicht, warum er mir sagen muss, wo die Karte ist. Eines Tages werde ich es dir erklären. Verzeih mir.«

Marit hatte nicht geantwortet. Sie würde Waterweg niemals verzeihen. Nicht, dass er lebte und ihr Vater tot war. Nicht, dass er sie aus Deutschland herausgeholt hatte, als sie nicht herausgeholt werden wollte. Und auch nichts sonst. Er war schuld daran, dass José sie mit funkelndem Hass in den Augen angesehen hatte. Wütend und unverzeihend kauerte sie in der Nacht, Stunde um Stunde.

Sie fragte sich, ob sie die dünne Holztür mit ihren Fäusten zertrümmern könnte. Doch es würde nichts nützen. Der Lärm würde Waterweg wecken. Sie saß fest, sie war ein Gefangener, genau wie José. Nicht einmal Carmen war noch bei ihr. Sie hatte auf dem Weg zur Mari Nocturna noch in ihrem Ärmel gesessen, doch irgendwann musste sie unbemerkt hinausgeschlüpft sein. Uwe der Leguan war wohl irgendwo im Busch geblieben. Er hatte sie um die Insel herum begleitet wie ein treuer Hund, und nun würde sie ihn nie wiedersehen. Plötzlich erschien es ihr, als sei dies das Traurigste an allem, und sie musste die Tränen gewaltsam zurückhalten.

Irgendwann war sie wohl doch eingenickt, denn etwas wie ein Kratzen weckte sie, ein Scharren und Schaben … Sie fuhr hoch. Es kratzte wieder … Das Geräusch kam von dem Fenster, vor dem die Insel in der Nacht lag. Dem Fenster, auf dem ein Teller mit Wurstbroten stand. Ein kleiner Schatten bewegte sich vor dem Fenster. Ein Tier, das durch eine undichte Fensterritze das Brot gerochen hatte. Es stieg mit seinen kleinen Vorderpfoten an der Glasscheibe hoch und schnupperte, und da sah Marit, dass es eine Ratte war. Eine endemische Galapagos-Reisratte. Carmen. Sie war also auf dem Schiff geblieben und sie hatte Hunger. Marit lächelte. Und dann sah sie noch etwas. Sie sah, wie sich die Scheibe bewegte. Carmens winziges Gewicht drückte sie an einer Ecke nach innen aus der Gummiabdichtung heraus. Wenn ein so winziges Gewicht das bewirken konnte, dachte Marit, musste die Scheibe lose sein. Vielleicht war sie es seit dem Sturm.

Auf einmal wurde sie so aufgeregt, dass ihre Hände zitterten.

Sie drückte vorsichtig gegen die Glasscheibe und spürte, wie sie langsam nachgab. Carmen beobachtete voller Verwunderung, wie Marit die Scheibe nach und nach aus ihrer Verankerung drückte. Marit wand sich durch die niedrige Öffnung wie eine Schlange. Wenn nur Waterweg nichts hört, dachte sie, wenn er nur nicht aufwacht, wenn nur … sie war draußen, draußen auf dem Deck. Sie spürte Carmens winzige Schnauze in ihrer Hand. Und wo ist nun das Brot, das ich gerochen habe?, schien sie zu fragen. Dann vergaß sie das Brot und kletterte an Marit hinauf, um es sich an ihrem Lieblingsplatz bequem zu machen: in Marits Haar.

»Danke«, flüsterte Marit, »danke, meine schlaue, dumme Freundin. Du hast mir den Weg gezeigt.«

Sie kletterte leise über Bord, in einer Hand Waterwegs Wasserflasche, und watetete zum Ufer. Kurz vor der weißen Strandlinie erschrak sie, als etwas sie am Arm berührte, ein weiterer Schatten der Nacht: ein Leguan.

»Uwe?«, fragte Marit ungläubig. »Ihr seid ja alle da! Ihr habt tatsächlich auf mich gewartet!«

Sie sah sich nach der Mari Nocturna um, der Nächtlichen Maria, die auf den Wellen der Nacht schaukelte. Ein Gefängnis ohne Gefangene.

»Warte nur, José«, flüsterte Marit. »Jetzt komme ich und befreie auch dich. Und dann kannst du dir überlegen, ob du mich immer noch anschreien möchtest.«

Sie merkte, dass etwas nicht stimmte, sobald sie ihren Fuß an Land setzte.

Der Boden bebte. Ein feines Vibrieren lief hindurch, so schwach, dass Marit es nicht bemerkt hatte, als sie durchs Wasser gewatet war. Aber jetzt verursachte die Bewegung ein unangenehmes Kribbeln in ihren Fußsohlen, ein Kribbeln wie eine Vorahnung.

Und die Seelöwen waren verschwunden.

»Was ist hier los?«, flüsterte sie und sah sich nach dem Leguan um. Uwe saß noch immer im flachen Wasser. Er war ihr nicht an den Strand gefolgt. Und seine Augen in dem stacheligen Drachengesicht betrachteten die Insel mit plötzlichem Misstrauen.

Marit sah zurück zum Meer. Die Mari Nocturna und die Mariposa schaukelten friedlich auf den nächtlichen Wellen. Erstaunlich war nur die kleine Gruppe von Wasservögeln, die zu dieser ungewöhnlichen Stunde in die Bucht hinausschwamm: ein Albatros, ein Flamingo und … war das ein Pinguin, der kurz auf– und gleich wieder abgetaucht war? Oskar. Er schwamm wieder. Eduardo der Flamingo erhob sich jetzt in die Luft, flog den anderen voraus … und landete auf der Kajüte der Mari-posa.

Marit hatte den Strand noch nicht ganz überquert, da geschah noch etwas Beunruhigendes: Carmen kletterte von ihrem Kopf, an ihren Kleidern hinunter, sprang in den Sand und lief zum Meer zurück. Dort sah sie sich einmal nach Marit um und sprang ins Wasser. Marit verlor Carmens kleinen Kopf auf den Wellen bald aus den Augen. Auch Carmen schwamm von der Insel weg, und Uwe der Leguan folgte ihr. Die handtellergroßen Strandkrabben liefen unruhig am Ufer auf und ab wie riesige, verwirrte Spinnen.

Etwas war nicht in Ordnung.

Jene Nacht auf Marchena war die längste in Josés Leben. Die Minuten krochen vorbei wie träge Schnecken, trockene Minuten, die in seiner Kehle brannten. Als die Sonne im Pazifik versunken war, war er dankbar für die Kühle gewesen, die der Abend brachte. Doch irgendwann hatte er begonnen zu zittern.

Er sah das Meer nicht durch die Büsche. Aber irgendwo dort draußen war es, und dort saß Marit auf einem fremden Schiff und konnte so viel Wasser trinken, wie sie wollte. Sie war nicht mehr seine Schwester. Sie war jetzt Waterwegs Nichte. Und Waterweg war ein Feind. Wie rasch sich die Dinge ändern konnten! Er riss an der Schnur, die die Handgelenke hinter seinem Rücken an den Baum fesselte, und verbiss sich einen Schmerzensschrei. Gerade die Tatsache, dass sie so dünn war, machte die Schnur gefährlich. José wusste nicht, wie oft Waterweg sie um seine Gelenke gewickelt hatte, aber es fühlte sich an, als schnitten tausend Messer in sein Fleisch.

Er versuchte zu schlafen, doch vor seinen geschlossenen Augen zogen Bilder von Wasser vorbei: ein Süßwassersee, der bis zum Horizont reichte … Schließlich schlief er wohl doch ein, denn er träumte. In seinem Traum kam Juan Casaflora durch die Büsche, kniete sich vor ihn hin und sah ihn an. José konnte sein Gesicht im Dunkeln nicht genau erkennen. Er zuckte zusammen, als Casafloras tastende Hände über seine Handgelenke strichen und die Fesseln fanden. Casaflora schnalzte mit der Zunge und schüttelte mitleidig den Kopf.

Und dann setzte er eine Flasche an Josés Lippen. Wasser! José trank gierig, trank sich voll mit Leben, und sein Kopf wurde klarer. Zu klar für einen Traum.

»Ich träume gar nicht«, sagte er. »Sie sind wirklich hier.«

Casaflora nickte. »Ja, ich bin hier, mein Junge. Aber ich werde die Schnur um deine Hände nicht durchschneiden. Waterweg wüsste, wer es getan hat. Ich bin alt, aber vorläufig habe ich keine Lust, von ihm erschossen zu werden.«

»Wie alt sind Sie?«, fragte José.

Casaflora lachte. »Jung genug, um noch ein Weilchen zu leben.«

»Wenn der Morgen kommt und ich Waterweg nicht sage, wo die Karte ist, wird er micherschießen.«

Casaflora zuckte die Schultern. »Sag es ihm.«

José schüttelte den Kopf. »Damit er sie findet? Damit sie doch noch in die Hände der Deutschen fällt? Bestimmt nicht. Ist … ist der Motor wieder heil?«

»Nein. Und ich weiß nicht, ob er es jemals wird.«

»Wenn alles anders wäre … dann könnten Sie mich losschneiden«, sagte José leise. »Wir könnten mit der Mariposa davonsegeln. Waterweg würde es erst am Morgen merken. Wir hätten keinen Motor, aber wir würden es irgendwie schaffen. Zur Isla Maldita auf jeden Fall.«

»Ja«, sagte Casaflora. »Wenn alles anders wäre. Aber das ist es nicht. Die Rollen sind verteilt, schon vergessen? Ich bin der böse alte Mann.« Er stand auf und wandte sich zum Gehen.

»Warten Sie«, bat José. »Damals, im Wald auf Santiago – waren Sie es, der mich niedergeschlagen hat?«

»Ich? Auf Santiago?« Casaflora schüttelte den Kopf. »Ich war die ganze Zeit auf der Mariposa. Ich habe sie aus den Felsen befreit, als der Wind gedreht hat, weißt du nicht mehr?«

José versuchte über die Sache auf Santiago nachzudenken, doch jetzt, wo er getrunken hatte, wurde der Schlaf übermächtig. Er hörte noch, wie Casafloras Schritte sich entfernten, dann hörte er lange nichts mehr. Als er aufwachte, bebte der Boden. Und er wusste, dass etwas auf der Insel nicht stimmte. Er sah die Leguane aus dem Busch fliehen und über den Strand zum Meer laufen, obwohl es Nacht war. Er sah die Vögel aufsteigen. Etwas würde geschehen. Bald. Zu bald.

Waterweg käme erst am Morgen wieder. Und José hatte plötzlich das bestimmte Gefühl, dass es am Morgen zu spät sein würde. Er riss noch einmal an seinen Fesseln.

Sie hielten.

Die Angst packte ihn mit eisernen Klauen.

»Abuelita«, flüsterte er. »Abuelita, wo bist du? Sag etwas! Erzähl etwas! Irgendetwas, um mich abzulenken. Wo bist du, wenn man deine Märchen einmal brauchen könnte?«

Doch die Abuelita schwieg. Es war, als wäre auch ihre Stimme von der Insel geflohen. Nie war José so allein gewesen.

Marit hatte gedacht, es wäre einfach, José wiederzufinden. Aber nachts sah alles anders aus und das Beben des Bodens verwirrte sie. Sie irrte eine ganze Weile zwischen den geduckten Gestalten der Büsche umher. War es nicht dieser Baum da vorn, an den Waterweg José gefesselt hatte? Oder eher der da drüben? Wie still es war! Beunruhigend still. Nur der Wind flüsterte ihr leise Warnungen zu. Sie wagte nicht, Josés Namen zu rufen, denn der Nachtwind wehte von der Insel fort, und er würde ihre Stimme hinaus in die Bucht tragen, wo Waterweg schlief. Schlief er noch? Oder war er ihr schon auf den Fersen?

»Nachtwind«, wisperte Marit, »hast du meinen Bruder mit fortgenommen?«

Sie hatte keine Antwort erwartet. Aber jemand antwortete, jemand, der ganz nahe war.

»Nein«, sagte er. »Der Nachtwind hat meine Schwester zu mir gebracht.«

Marit schlüpfte durch die dichten Äste, ohne ihre Dornen zu spüren. Und da saß José, genau so, wie sie ihn verlassen hatte: an einen Baumstamm gelehnt, die Hände hinter dem Rücken an den Stamm gefesselt. Er musste zu ihr aufsehen, als sie vor ihm stand. Sie sah, dass ihm das nicht gefiel.

Und sie sah, dass er Angst hatte.

»Du hast gedacht, ich komm nicht wieder, stimmt’s?«, sagte sie. »Du hast gedacht, ich bleibe bei ihm, bei Waterweg. Er hat mich eingesperrt. Carmen hat mir den Weg nach draußen gezeigt. Eigentlich hat sie einen Weg nach drinnen gesucht. Zu einem Stück Brot. Und Uwe hat auf mich gewartet.«…Sie holte tief Luft. »Jedenfalls bin ich hier, um dich zu befreien.«

José nickte. Jetzt, dachte Marit, würde er ihr sagen, wie leid es ihm tat, dass er sie angeschrien hatte. Wie froh er war, dass sie hier war. José räusperte sich.

»Wer ist Uwe?«, fragte er dann.

Da begriff Marit, dass Waterweg mit einem recht gehabt hatte: José lebte in einer anderen Welt. In dieser Welt waren die Männer zu stolz, um sich zu entschuldigen.

»Ein Leguan«, sagte sie und reichte José die Wasserflasche. Zu ihrem Erstaunen lehnte er ab.

»Wir müssen hier weg«, sagte er. »Etwas wird geschehen. Die Tiere sind geflohen. Kannst du die Fesseln lösen? Waterweg hat mir auch das Messer abgenommen …«

Marit verbiss sich einen Fluch und begann die Knoten einzeln zu öffnen. Es dauerte eine Ewigkeit. José zuckte zurück, wenn sie die Schnitte in seinen Händen berührte, und sie fluchte zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Halt still, verdammt … Jetzt! Jetzt kannst du deine Hände bewegen. Sie gehören wieder dir.«

Sie zog José auf die Beine, und zum ersten Mal fiel Marit auf, dass sie genau gleich groß waren.

»Du hast gesagt, wir müssen hier weg«, flüsterte sie. »Wie denn? Mit der Mariposa? Mit Casaflora? Wird er uns mitnehmen?«

»Nein.« José schüttelte den Kopf. »Er hat Angst vor Waterweg. Waterweg würde nicht wollen, dass er uns mitnimmt.«

Er hob die Mauser auf, die immer noch dort lag, wo Waterweg sie mit dem Fuß hingeschoben hatte. »Und Waterweg hat mein Magazin.« José ließ das Gewehr fallen. »Es ist wertlos. Wir können Casaflora zu nichts mehr zwingen.«

Ein Grollen lief durch die Insel, und sie hielten sich aneinander fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als das Grollen verebbte, näherten sich Schritte durchs Geäst.

»Waterweg«, zischte Marit. José nickte.

Sie duckten sich gleichzeitig und schlüpften zwischen Ästen hindurch, rannten, flohen durch die plötzlich seltsam warme Nacht. Hinter ihnen wurden die Schritte rascher, holten auf … Sie kamen vom Meer, die Schritte, und Marit und José flohen ins Innere der Insel, wo der Boden anstieg.

Ein seltsamer Geruch erfüllt jetzt die Luft, er erinnerte Marit an das Innere der Kirchen zu Hause. Ihr Verfolger war hinter ihnen zurückgeblieben, Marit hörte ihn nicht mehr.

Sie blieb stehen. »Warte!«, keuchte sie. »Was … was ist das?«

José schnupperte. »Balsaholz«, antwortete er. »Es ist Balsaholz. Die Balsabäume brennen.«

Da sah auch Marit den hellen, größer werdenden Lichtschein des Feuers, ganz oben auf dem flachen Hügel.

»Die Hitze«, sagte José. »Die Hitze muss das Öl in ihnen entzündet haben. Das ist es, was auf der Insel nicht stimmt. Die Tiere haben es geahnt.«

In diesem Moment kamen die Schritte wieder. Der, der hinter ihnen her war, hatte sie reden hören. Es war zu spät, davonzulaufen. Und es gab keine Richtung mehr, in die man laufen konnte. Vor ihnen, oben auf dem Berg, brannte der Wald.

Einen halben Atemzug später warf sich jemand auf Marit und riss sie zu Boden.

»Seid ihr denn wahnsinnig?«, keuchte Casaflora. »Ihr rennt genau auf das Feuer zu!«

In seiner Hand blitzte ein Messer. »Warum sind Sie an Land gekommen?«, fragte José.

»Um dich loszuschneiden«, sagte Casaflora. »Vorhin, als ich dich hierließ, war mir noch nicht klar, was mit der Insel passieren würde. Kommt!«

»Wohin?«, fragte Marit, als Casaflora sie auf die Beine zog.

»Zum Strand«, sagte José. »Das ist der einzige Ort, an dem wir sicher sind vor dem Feuer.«

Doch Casaflora schüttelte den Kopf, und als er das tat, schoss vor ihnen eine Flammensäule in den Himmel und beleuchtete die Bäume auf gespenstische Weise. »Das hier ist kein Buschfeuer«, sagte Casaflora. »Der Vulkan erwacht.«

»Marit?« Waterweg setzte sich benommen auf und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Er hatte von seiner Schwester geträumt. Ihr Gesicht war ganz nah gewesen.

»Pass mir auf das Kind auf«, hatte sie gesagt.

»Ja«, hatte er gesagt. »Ich verspreche es dir. Wo bist du?«

»Weit weg.« Sie hatte gelächelt und ihre Umrisse waren blasser geworden.

»Warte!«, hatte er gerufen. »Ich muss dir etwas erklären. Seit der Krieg begonnen hat, habe ich etwas getan, wovon du nichts weißt. Und es ist alles anders, als du denkst … Warte doch!«

Sie hatte nicht gewartet. Sie hatte ihn alleingelassen.

Es roch nach Feuer. Und die Steuerbordscheibe der Kajüte war herausgedrückt. Er hatte das lose Fenster vergessen. Er brauchte nicht nachzusehen, um zu wissen, dass Marit nicht mehr da war. Von Marchena flutete eine ungeheure Hitze heran, zusammen mit dem grellen Licht des Feuers. Er stand auf und starrte die brennenden Bäume der Insel an. Er wusste, dass er etwas tun musste, doch auf einmal war er unfähig, sich zu rühren. Er hatte zu viele solcher flammenheller Nächte gesehen.

Er war zu oft durchs Feuer gegangen.

Wenn sich die anderen in ihren Kellern versteckt hatten, war er auf der Straße gewesen, um im grellen Feuerschein Dinge zu tun, für die das Licht des Tages nicht geeignet war. Er war nur einer von vielen gewesen. Einer, der überlebt hatte. Und jetzt hatte das Feuer ihn eingeholt, tausend und tausend Meilen entfernt von Deutschlands brennenden Städten.

»Marit«, flüsterte er. Er wusste, wo sie war. Sie war irgendwo dort, in den Flammen, mitten in der Hitze. Sie musste zur Insel zurückgekehrt sein, um den einheimischen Jungen zu befreien, den sie ihren Bruder nannte.

Und zwischen seiner Angst um sie und seiner Wut auf ihren Leichtsinn war er stolz auf die Tochter seiner Schwester.

»Du bist wie ich«, flüsterte er. »Du bist ja wie ich! Und du weißt es nicht!«

Als er das sagte, schoss eine senkrechte Feuersäule in den Himmel auf. Gleich darauf sah Waterweg, wie sich ein glühender Lavastrom den Berg hinab ergoss.

Und er wusste, dass er Marit verloren hatte, genau wie ihre Mutter.

Es war von einem auf den anderen Moment so heiß geworden, dass man kaum noch atmen konnte. Sie rannten zu dritt auf die Küste zu, rannten um ihr Leben. Hinter ihnen spuckte der Vulkan die Erinnerung an eine prähistorische Zeit in den Nachthimmel. Der Boden bebte nun beinahe unaufhörlich, sie stolperten voran wie auf einem unberechenbaren Schiff im Sturm.

Regenschauer aus verbrannter Erde und kleinen Steinen gingen um sie herum nieder und das Krachen der stürzenden Bäume hinter ihnen füllte ihre Ohren.

»Schneller!«, keuchte José. »Schneller!«

Nie, nie war Marit schneller gerannt, und dabei war es, als atmete sie brennendes Öl statt Luft.

Schließlich sahen sie das Blau des Wassers in der Ferne schimmern. Und dann stolperte Casaflora und fiel. Marit hörte ihn aufschreien vor Wut und Schmerz. Sie blieb stehen und griff nach seinem Arm, um ihm hochzuhelfen.

»Nein!«, keuchte er. »Nein, ich … ich kann nicht ... Ich bin umgeknickt … Der Knöchel …«

José riss an Casafloras zweitem Arm, und gemeinsam gelang es ihnen, den alten Mann auf die Beine zu stellen, doch er knickte sofort wieder ein.

»Wir stützen Sie!«, rief José.

Casaflora schüttelte den Kopf. »Lauft!«, schrie er. »Es dauert zu lange mit mir!«

Hinter ihnen brachen noch mehr Bäume, doch jetzt war es nicht das Feuer, das sie fraß. Es war ein glühender Strom voller Felsbrocken, der ihre Stämme knickte. Ein Strom, der unaufhaltsam näher kam.

»Das ist nicht die Zeit, um Helden zu spielen!«, schrie Casaflora. »Ich komme schon klar! Du kannst die Mariposa segeln, José! Segle sie!«

»Nein!«, rief Marit und streckte ihre Hand wieder nach Casaflora aus, doch jetzt schlug er sie mit aller Kraft weg. Sie spürte, wie José sie packte und weiterzog. Und wieder rannte sie. In ihren Ohren sang das Feuer mit der Verzweiflung ein grausiges Duett. Sie hasste Casaflora, aber wie konnten sie ihn hierlassen? Wie konnte er etwas so Schreckliches von ihnen verlangen? Sie lief hinter José über den Strand, wo die Krabben noch immer verwirrt hin und her rannten – und hechtete ins Wasser. Es war kühler als die Luft, doch auch das Wasser hatte sich bereits erwärmt. Irgendwo hörte Marit das Zischen der Lava, die an anderen Stellen der Insel bereits ins Meer stürzte. Sie sah die Mari Nocturna auf den Wellen liegen, zu nahe an der Insel, doch sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie kletterte José nach, an Bord der Mariposa, und Sekunden später breitete das Honigboot die weißen Flügel seiner beiden Segel aus. Casaflora hatte es bereits startklar gemacht – er hätte einfach wegsegeln können, dachte Marit, aber er war noch einmal an Land gekommen, um José zu holen.

Warum hatte er das getan?

Die Mariposa glitt aus der kleinen Bucht, hinaus in die blaue Freiheit des Meeres. Es wehte nur ein schwacher Wind und sie kamen mit tödlicher Langsamkeit voran. Marit hockte auf dem Boden des Schiffs. Eine kleine, weiche Schnauze bohrte sich in ihre Ellenbeuge: Carmen. Und da sah sie auch die anderen Mitglieder der Mannschaft, die verängstigt unter den beiden Sitzbänken kauerten: Eduardo den Flamingo, Kurt den Albatros und Oskar den Pinguin. Und – war das nicht Uwe der Wasserleguan?

Sie fragte sich, wie Kurt und Oskar auf das Schiff gekommen waren, die beiden, die nicht fliegen konnten. Casaflora musste sie aus dem Wasser an Bord gehoben haben.

»Jetzt ist seine Karte ein für alle Mal zerstört«, sagte José. »Ich habe sie in den Vulkankrater geworfen und nun brennt sie wie in einem Ofen. Die deutschen U-Boote und Flieger werden nie von dem amerikanischen Stützpunkt auf Baltra erfahren.«

Er streichelte Uwes schuppigen Drachenkopf. »Jetzt gibt es nur noch eineKarte«, fügte er stolz hinzu. » MeineKarte. Die Karte meines Urgroßvaters, die Schatzkarte von der Isla Maldita.«

»Und du meinst, hinter der sind unsere Verfolger nicht her?«

»Verfolger?«, fragte José. »Wenn du Waterweg meinst, den sind wir los. Sein Schiff ist immer noch viel zu nah am Land. Ich glaube, er schläft. Er verschläft gerade seinen eigenen Tod.«

Marit schüttelte den Kopf und deutete aufs Meer hinaus. Das Feuer des Vulkans hatte die See weithin erhellt und in seinem Schein zeichneten sich deutlich zwei Schiffe vor dem Himmel ab. Schiffe an der Horizontlinie, die auf etwas zu warten schienen. Eines von ihnen war die Roosevelt. Das andere war eine Jacht, ähnlich der Mariposa, um einiges größer allerdings.

»Der Umriss kommt mir bekannt vor«, murmelte José. »Ich weiß nur nicht, woher …«

Er lenkte die Mariposa hart nach Steuerbord, in Richtung der Isla Maldita.

Und es schien Marit so, als nähmen die beiden Schiffe die Verfolgung auf.

Die Starre löste sich erst aus Waterweg, als er die Mariposa lossegeln sah. Da waren zwei Gestalten an Bord. Kinder. Marit und José waren in Sicherheit. Doch es stand noch jemand am Strand von Marchena, vor dem brennenden Busch. Waterweg ließ den Motor seines Schiffs aufheulen und steuerte den Strand an.

»Die Karte!«, rief er Casaflora über die Reling zu.» »Die Karte von Baltra und Bartolomé! Würden Sie sie noch einmal zeichnen? Aus dem Kopf? Für Deutschland?«

Casaflora hinkte ein Stück weiter ins Wasser hinein. Etwas schien mit seinem Bein nicht zu stimmen. »Ja!«, schrie er. »Natürlich!«

Da gab Waterweg dem Steuer einen Stoß und das Schiff drehte ab.

»Es tut mir leid, Juan«, sagte er. »Aber Sie haben soeben Ihr Todesurteil unterschrieben.«

Sekunden später war die Mari Nocturna auf dem Weg hinaus auf den Pazifik und ließ das brennende Chaos zurück, in das sich die Insel Marchena verwandelt hatte. Wo die Lavaströme sich ins Meer ergossen, brodelte es auf wie in einem Hexenkessel, und das Letzte, was Juan Casaflora sah, war ein blauer Schmetterling mit goldenen Flecken auf den Flügeln, der benommen durch die Hitze torkelte.

Casaflora lächelte.

Die Welt war noch lange voller Funken – lange nachdem sie Marchena verlassen hatten. Von Weitem war die Insel eine Explosion aus Farben: Gelb, Rot, Gold, Orange, Weiß … Sie sahen die Lava jetzt ins Meer stürzen, dort, wo sie vor Kurzem noch über den Strand gegangen waren.

Eine Weile dachte José, die Hitze würde die Segel der Mariposa versengen. Sie würde ihre Tampen verglühen, ihre Honigbalken verkohlen lassen, ihren Tank entzünden und sie in eine schwimmende Fackel verwandeln. Er sah, wie schwer den Tieren das Atmen fiel.

»Der alte Noah hatte es einfach«, knurrte er. »Er hat seine Tiere nur durch eine Flut gebracht.«

Marit antwortete nicht. Sie hatte die Arme um Kurts großen weißen Federkörper geschlungen und kauerte unbeweglich auf dem Boden, den Blick starr auf die brennende Insel gerichtet: Von hier aus glich das Feuer einer riesigen rote Krabbe am Himmel, einer Krabbe mit Dutzenden von flammend roten Beinen.

Irgendwann wurde die Luft kühler, der Wind nahm zu und trug sie schneller fort von Marchena. Oskar reckte seine Stummelflügel, als wollte er prüfen, ob sie in der Hitze geschmolzen waren. Eduardo schüttelte den Kopf und steckte den rosa Hals unter einen Flügel, um nach all der Aufregung endlich zu schlafen. Und Carmen, die wieder einmal in Marits Ärmel saß, gab eine abschließende Serie von winzigen Niesern von sich, ehe sie den Ärmel verließ und sich in eine Taurolle kuschelte.

Die beiden Schiffe waren nicht näher gekommen.

»Es ist jetzt in Ordnung«, sagte José und legte eine Hand auf Marits Schulter. »Der Vulkan ist zu weit weg. Wir haben es geschafft. Marit?«

Marit schwieg. Er drehte ihr Gesicht behutsam zu sich. Sie sah ihn nicht. Ihre Augen glichen einem erblindeten Spiegel, einer beschlagenen Glasscheibe. Und da ahnte José, was geschehen war. Er schüttelte Marit. »Du siehst nicht die Insel, nicht wahr?«, fragte er. »Du siehst die Häuser. Es sind keine Häuser, Marit! Es ist nur Gebüsch! Wach auf! Rede mit mir!« Und dann griff er über die Reling, schöpfte eine Handvoll Wasser – noch immer zu warmem Wasser – und warf es ihr ins Gesicht.

Marit blinzelte und schnappte nach Luft. Ihre Augen sahen ihn jetzt. Doch sie klammerte sich noch immer an Kurt.

»Sie waren da«, sagte sie, und plötzlich begann sie so schnell und hektisch zu reden, dass José sie kaum verstand, wirr und zusammenhanglos. »Sie waren alle da! Ich habe sie gesehen … Dies war die Nacht, die ich nicht erlebt habe. Das Feuer, das ich nicht gesehen habe, weil ich bewusstlos in einem Luftschutzkeller lag. Ich habe das Feuer damals nicht gesehen, aber es hat auf mich gewartet. Es hat hier auf mich gewartet. Ich habe mich umgedreht … José, ich dachte, ich hätte mich damals nicht umgedreht, aber ich habe. Ich erinnere mich jetzt. Bevor ich an die Tür gehämmert habe, bevor Richard mich hineingelassen hat. Jetzt weiß ich es wieder! Mama und Julia – sie sind auf die Straße hinausgelaufen. Vielleicht war es wegen Richard, weil Mama dachte, dass er sie nicht hineinlassen würde. Nur mich. Er wollte mich immer küssen … er war widerlich … Und dann hat er mir später aus den Trümmern des Hauses herausgeholfen …

Aber Mama hätte er nicht in den Keller gelassen … Ich habe nach ihr gerufen. Da war ein Motorengeräusch, laut, wie von einem Auto, zu laut … Sie haben mein Rufen nicht gehört …

Der Fliegeralarm war noch lauter … Ich habe noch einmal gerufen, und dann habe ich an die Tür gehämmert. Ich hätte Mama und Julia nachlaufen sollen, sie mit in den Keller schleifen, José, ich hätte … aber ich war zu feige!«

»Nein«, sagte José. »Du warst ein Mal vernünftig.«

»Was nützt es denn, vernünftig zu sein?«, rief Marit. »Wenn doch jeder außer mir tot ist! Und jetzt ist Waterweg auch tot und Casaflora und alle Strandkrabben und überhaupt jeder …«

»Ich nicht«, sagte José. »Ich bin lebendig.«

»Ja«, sagte Marit leise. »Ja, das bist du.«

Sie brach in Tränen aus. Ohne jede Vorwarnung. Es war, als wäre ein Vulkan aus Salzwasser ausgebrochen. Nein, wie der Niño, jener sintflutartige Regensturm, der alle paar Jahre im Winter die Inseln überfiel. Doch im Gegensatz zum Niño weinte Marit lautlos. Nicht einmal ihre Schultern zuckten.

José begriff, dass sie alle Tränen weinte, die sie bisher nicht geweint hatte.

Echte Männer, hatte José sagen hören, wussten nicht, was sie dagegen tun sollten, wenn Frauen weinten. Er hoffte, es war kein Zeichen von fehlender Männlichkeit, dass es ihm nicht so ging. Er wollte gar nichts gegen Marits Tränen tun. Sie waren in Ordnung, sie mussten geweint werden, so wie der Regen des Niño fallen und die Vulkane ausbrechen mussten.

Für einen Moment fragte er sich, ob die Tränen die Mariposa wohl versenken könnten. Es war eine sehr schwere Sorte von Tränen: getränkt mit Asche und Glut, mit tausend Kilometern einer schweigenden Reise. Aber die Mariposa war auch eine sehr starke Sorte von Boot: gefirnisst mit dem Sonnenschein von tausend Äquatortagen.


    Ваша оценка произведения:

Популярные книги за неделю