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Die geheime Reise der Mariposa
  • Текст добавлен: 17 октября 2016, 01:01

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Автор книги: Antonia Michaelis



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Lied des Albatros

Es schweigen die Säulenkakteen,

es schweigen Ebbe und Flut.

Es schweigen die Salzwasserseen

in senkrechter Mittagsglut.

Es schweigen die Balsambäume,

und hoch über ihrem Duft

schwebe ich: König der Träume,

ich, der König der Luft.

Auf majestätischen Schwingen

gleite ich durch den Wind.

Ich kann die stärksten Stürme bezwingen,

ich bin des Unwetters Kind.

Hier oben kann ich niemals fallen,

hier bin ich, was der Mensch an Land:

Hier bin ich zweifellos von allen

als Herrscher anerkannt.

Doch höre, Mensch, der du so klug,

die eine Sorge ist auch dein:

Die Landung nach dem Höhenflug

kann durchaus tödlich sein.

El secreto de Jonathan
Jonathans Geheimnis

Wach auf! Es ist Zeit, dass wir miteinander reden.«

José fuhr hoch, stieß sich den Kopf an einem der Vorratsregale und schnappte vor Schmerz nach Luft. Dann sah er sich um. Ihm gegenüber, auf der Backbordbank, saß ein bärtiger alter Mann in ziemlich dreckigen Kleidern. Jetzt nahm er eine Zigarette aus dem Mundwinkel und klopfte die Asche ab.

»Wer …?«, begann José.

Der Mann legte den Finger an die Lippen. »Leise!«, sagte er. »Besser, der Motor draußen übertönt unsere Stimmen.«

»Wer sind Sie?«, flüsterte José. »Was tun Sie hier?«

»Das sollte ich dich fragen«, antwortete der bärtige Mann. »Das hier ist mein Schiff. Mein Name ist Juan. Juan Casaflora.«

José fühlte, wie er von innen gefror. Sogar die Abuelita schwieg vor lauter Schreck.

»Sie sind … tot«, sagte José.

Casaflora lächelte und nickte langsam. »Ja. Ich bin tot. Ich war krank und ich bin an dieser Krankheit gestorben. Die Holländer haben meinen Leichnam über Bord geworfen, als sie das Schiff fanden. Aber auch ein Toter verlässt sein Schiff nicht. Was tust du mit meiner Mariposa? Du ankerst zwischen den Felsen, obwohl du weißt, dass es dort zu eng ist und dass der Wind drehen kann. Du vertraust das Steuer nachts einem an, der keinen Schimmer vom Segeln hat. Du springst einfach von Bord.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich euch nicht geholfen hätte, hättet ihr die Mariposa schon ein paarmal verloren.«

»Das … ich … das tut mir leid«, stotterte José.

»So, das tut dir leid«, sagte Casaflora. »Dann wirst du sicher auf mich hören. Du wirst den Kurs ändern. Du wirst drehen und zurück nach Westen segeln. Nach Isabela.«

»Nach Isabela? Warum?« José fragte sich, ob er nur träumte. Das war die einzig logische Erklärung. Es gab keine Toten, die auf Schiffen herumspukten. Es konnte sie nicht geben … Oder doch? »Unser Ziel ist die Isla Maldita. Und dabei bleibt es.«

Der Alte ließ die Zigarette fallen, griff über den Tisch und packte José am Kragen. Etwas sehr Kaltes drückte sich gegen seine Schläfe: die Mündung einer Waffe. Der kleinen schwarzen Pistole. Casafloras Zigarette glühte auf dem Tisch weiter vor sich hin.

»Schade«, flüsterte er. »Schade, dass du dein Gewehr nicht finden kannst, nicht wahr, mein Junge?«

Das Gewehr. Die Pistole. Jonathan hatte sie nicht. Der Griff an Josés Kragen schnürte ihm die Luft ab. »Sie … Sie sind gar nicht tot«, keuchte er.

»Vielleicht nicht«, zischte Casaflora. »Ansichtssache. Die Holländer, die das Schiff fanden, habe ich mit diesem kleinen Ding überzeugt, anderer Ansicht zu sein.« Und er drückte den Lauf der Pistole etwas fester in Josés Haut.

»Weshalb?«, fragte José. Die Frage kam als heiseres, gequetschtes Flüstern aus seiner Kehle.

»Es musste sein. Ich musste sterben. Sie waren hinter mir her. Wegen der Karte.«

»Aber ichhatte die Karte«, flüsterte José, vollkommen verwirrt.

»Ja. Du bekommst sie wieder, sobald ich begreife, was darauf ist. Im Übrigen lag ich wirklich eine Zeit lang krank hier herum. Irgendein seltsames Fieber.«

Casaflora wies mit dem Daumen hinter sich und endlich begriff José. Auf der Seite, auf der es keine Klappe in der Innenverkleidung der Kajüte gab, gab es doch eine Klappe. Sie passte sich perfekt ins Muster des Holzes ein. Hinter der sichtbaren Klappe lagerten Nahrungsmittel. Hinter der verborgenen, die jetzt offen stand, gab es eine verborgene Koje. »Konnte mich gerade so an Deck schleppen, um zu pissen, wenn ihr es nicht gemerkt habt. Eine Weile dachte ich, ich verrecke da hinter meiner falschen Wand. Aber nein, noch bin ich da. Und solange ich nicht verreckt bin, bin iches, der auf diesem Schiff bestimmt. Wir fahren nach Isabela. Das wäre nicht die erste Kugel, die ich auf dieser Reise verschwende. Ich kann die Mariposa auch allein segeln. Es wäre mir allerdings lieber, du tätest es und ich könnte hier unten bleiben, unsichtbar.«

»In Ordnung«, flüsterte José. »Wir fahren nach Isabela.«

Juan Casaflora war nicht tot, dachte er. Aber er war vielleicht verrückt.

»Dein Freund da draußen braucht nichts von alldem zu wissen«, sagte Casaflora. »Je weniger Leute wissen, dass ich lebe, desto besser. Ich bekomme so ziemlich alles mit, was an Deck passiert, denk daran. Es ist bald Zeit, deinen Freund abzulösen. Und dann änderst du den Kurs, verstanden?«

José nickte gequält. Casaflora nahm die Pistole herunter, aber es war, als würde die Stelle noch immer brennen.

»Bist ein guter Junge«, sagte der Alte und kletterte zurück in die Koje hinter der Wand. Sie schloss sich mit einem kaum hörbaren Klicken.

José saß einen Augenblick lang da und starrte ins Nichts. Dann bemerkte er, dass es im Nichts einen schwach glühenden Punkt gab. Die Zigarette. Sie hatte ein kleines Loch in die Beschichtung des Tisches geschmolzen. José hob sie auf, betrachtete sie kurz – und rauchte sie zu Ende. Ein guter Junge? Er war kein Junge. Er war ein Mann.

Und er würde es ihnen beweisen, irgendwie. Er würde den Kurs ändern, so wie Casaflora es wollte. Aber nicht für immer. Zuerst musste er herausfinden, warum Casaflora es für nötig gehalten hatte zu sterben, um zu überleben.

Jonathan träumte wieder von Hamburg. Der Flieder blühte, weiß und violett, und die Luft war schwer vom Duft. In der Küche lag auf dem Tisch ein Brief, und in diesem Brief stand, dass sein Vater nicht aus Frankreich zurückkommen würde. Der Briefumschlag war ein Sarg aus Papier. Er lag schon seit mehreren Wochen auf dem Küchentisch. Weder Julia noch er wagten, ihn von dort wegzunehmen. Sie stellten die Teller drum herum, als bemerkten sie ihn nicht. Mama musste den Brief wegnehmen.

Im Traum lief Jonathan die Treppe hinauf, er kam von der Schule. Er wusste, er würde in eine stille Wohnung kommen, still und schwarz … Aber als er die Tür öffnete, hörte er Mama singen. Sie sang beim Kochen. Julia stand auf einem Stuhl neben ihr und half ihr. Kochen. Und singen. Der Brief lag nicht mehr auf dem Küchentisch.

»Ist etwas … passiert?«, erkundigte sich Jonathan vorsichtig und stellte seine Schultasche ab.

»Ja«, antwortete Mama, drehte sich um und lächelte ihn an. »Wir leben weiter.«

Sie trug Papas alte karierte Schiebermütze, obwohl es doch drinnen in der Küche Unsinn war, eine Mütze zu tragen. Die Mütze sah ziemlich mitgenommen aus, aber es tat gut, sie zu sehen. Jonathan hatte aus irgendeinem Grund gedacht, Papa hätte die Mütze mitgenommen. Aber natürlich hatte er eine Uniform getragen, da draußen.

»Wir leben weiter«, sagte Jonathan und begann den Tisch zu decken. »Ach so.«

Er schlug die Augen auf und lag einen Moment ganz still. Es war ein so schöner Traum gewesen. Eine so schöne Erinnerung. Er wünschte, er hätte nur diese eine, einzige Erinnerung behalten können und alle anderen vergessen.

Auch die Erinnerung an den letzten Tag. An Josés Griff. Was wusste José? War er irgendwie doch dahintergekommen, dass Jonathan nicht aus London stammte? Aber wieso glaubte er, Jonathan hätte sein Gewehr beseitigt? Er spürte die Stellen an seinen Armen noch, wo er ihn gepackt und zu Boden gedrückt hatte. Sie taten weh. Aber tief in ihm tat etwas noch viel mehr weh. Und das war die Kälte in Josés Stimme gewesen. Er hatte gedacht, sie wären Freunde geworden. Er hatte sich getäuscht.

Als er an Deck kam, hatte José Kaffee gekocht.

»Guten Morgen«, sagte er. Jonathan nickte nur und nahm die Blechtasse, die José ihm hinhielt. Oskar und Eduardo waren bereits mit einer weiteren Dose Suppe beschäftigt und Carmen saß auf den Hinterpfoten und ließ sich von José mit Brotstückchen füttern.

»Ich habe noch ein Brot gefunden«, sagte José. »Eingeschweißt.«

»Hm«, sagte Jonathan.

»Jonathan, wegen gestern …« José sah ihn an. In seiner Stimme war keine Kälte mehr. »Ich habe mich getäuscht.«

Er streckte die Hand aus und Jonathan wich zurück. Dann zwang er sich, sitzen zu bleiben. José schob einen seiner Ärmel hoch. Man sah seine Fingerabdrücke noch immer als diffuse blaue Flecken.

»Das tut mir leid«, murmelte José.

Jonathan begriff nicht. »Warum?«, fragte er. »Glaubst du auf einmal nicht mehr, dass ich dein Gewehr genommen habe?«

»Ich … habe es gefunden«, sagte José.

Jonathan sah sich um. Aber er konnte die Mauser nirgends entdecken. Und dann fiel sein Blick auf den Kompass. Der Kurs stimmte nicht mehr. Die Mariposa hatte um fast 180 Grad gedreht.

»Wir … wir segeln in die vollkommen falsche Richtung«, sagte er.

José schüttelte den Kopf. »Nein. Der Kompass ist kaputt. Ich bin gestern Nacht ausgerutscht und mit dem Fuß dagegengekommen. Irgendetwas muss sich verstellt haben.«

Jonathan sah am Segel empor. José hatte ihm den Stander erklärt, den kleinen schwarzen Pfeil auf der Mastspitze, der den Wind anzeigte. »Der Wind kam in den letzten Tagen ständig aus Nordosten«, sagte er. »Und jetzt kommt er auf einmal aus Südwesten?«

»Ja«, sagte José.

Jonathan schüttelte den Kopf. »Ich … ich verstehe ja nichts vom Segeln …«

»Nein«, sagte José und entfernte Carmens Schnauze aus seiner Kaffeetasse. »Aber ich werde es dir beibringen. Wir können keine halben Nächte mehr mit Motor fahren. Wir brauchen das Benzin für Notfälle.« Er warf einen Blick zur Kajüte, als er das sagte, einen merkwürdig wachsamen Blick. Vermutlich lag es daran, dass dort die Benzinkanister lagerten.

Jonathan hatte immer noch ein komisches Gefühl. Aber er war zu erleichtert über Josés Stimmungswandel, um etwas zu sagen. Im Grunde, dachte er, war es egal, wohin sie fuhren. Er wollte nicht zur Isla Maldita, es war José gewesen, der sie unbedingt hatte erreichen wollen. Vielleicht hatte er Angst bekommen. Vielleicht hatte seine Urgroßmutter ihm im Traum zu viel von den toten Piraten erzählt, die dort umgingen. Vielleicht wollte er nur nicht zugeben, dass er umgekehrt war. Nach dem, was Jonathan über die Seekarte wusste, würde der neue Kurs sie zurückführen, an Santiago vorbei diesmal, zur größten der Inseln: Isabela.

Er versuchte sich keine Sorgen zu machen und konzentrierte sich darauf, von José das Segeln zu lernen. Und so verbrachten sie die nächsten Stunden, die nächsten Tage: José erklärte, langsam und ausführlich diesmal, und Jonathan musste alles wiederholen.

Er lernte das Dichtholen und das Auffieren der Segel, er lernte zu wenden und zu halsen. Er lernte, wie man ein Boot in den Wind stellt, sodass er von vorn kam und die Fahrt gestoppt wurde, und wie man es bei starkem Wind mit knatternden Segeln dicht am Wind hielt, um zu viel Krängung zu vermeiden. Er lernte, dass die Krängung die Schräglage des Boots war. Er lernte, dass der Wind von Luv nach Lee wehte und man deshalb beim Pinkeln darauf achten musste, auf der Leeseite zu stehen … aber er zog es ohnehin vor, den Eimer unter Deck zu benutzen. Er lernte und lernte und lernte. Und die Sonne brannte heiß auf sie herunter, und José zog sein Hemd aus und legte es auf seinen Kopf, um keinen Sonnenstich zu bekommen. Jonathan benutzte dazu lieber die alte Schiebermütze.

»Wenn ich anfange, mich auszuziehen, verbrenne ich sofort«, sagte er.

»Ja«, sagte José und lachte, »da hast du wohl recht. Blass wie der Vollmond bist du, blass wie ein Schluck Milch.«

Sie teilten das Wasser in kleine Rationen ein. Der Regen blieb aus. Nur Suppen in Dosen hatten sie genug, und José sagte, sie könnten wohl mitten auf dem Pazifik ein Restaurant eröffnen, dessen Spezialität Krabbensuppe wäre.

»Ja«, sagte Jonathan. »Und dahinten kommen die ersten Kunden.«

An der Horizontlinie hingen jetzt zwei Schiffe fest. Er war sich ziemlich sicher, dass das größere grau war. Die Roosevelt. Das Merkwürdige war, dass die Schiffe nicht näher kamen. Sie folgten der Mariposa wie zwei überdimensionale Privatdetektive, die ab und zu stehen blieben, um unauffällig in ein Schaufenster zu sehen. Nur dass sie nicht unauffällig waren. Auf dem Pazifik, dachte Jonathan, herrschte ein bedenklicher Mangel an Schaufenstern.

»Sie steuern einfach den gleichen Kurs«, sagte José. »Zufällig.«

»Ganz zufällig«, murmelte Jonathan.

Am dritten Tag seit ihrem Aufbruch von Santiago saß Jonathan am Bug und nahm unter Oskars hungrigen Blicken einen Fisch aus – auch das hatte er gelernt –, als etwas aus dem Himmel stürzte. Oskar stieß einen erschrockenen Laut aus und Jonathan duckte sich, dann taumelte das Etwas dicht über sie hinweg und stolperte in einem Wirrwarr aus weißen und dunklen Federn über das Deck.

»Was ist das?«, rief José vom Heck aus beunruhigt.

Das Etwas schüttelte sich. Es war ein Vogel. Ein riesiger weißer Vogel mit einem langen gelben Schnabel. Er stand auf großen grauen Füßen und sah sich um, als suchte er etwas.

»Oje«, sagte Jonathan. »Ein Albatros. Hör mal, Albatros, du bist hier falsch. Noch mehr Leute können wir nicht mit Suppe füttern.«

»Das ist ein Albatros?«, fragte José. »Ich habe noch nie einen gesehen. Es heißt, sie brüten auf Española, einer der südlichen Inseln. Ich glaube, sie fliegen zu Beginn der Regenzeit nach Ecuador. Meinst du, dieser hier hat sich verflogen?«

»Nein«, sagte Jonathan. »Er hat sich verlandet.«

Der Albatros watschelte über das Deck und schien die Mariposa zu begutachten. Er ging um die Kajüte herum und zuckte zurück, als er dort einen Flamingo vorfand, in dessen Rückengefieder sich eine Ratte zu einem Nickerchen zusammengerollt hatte. Schließlich setzte er sich ordentlich auf eine der Bänke und steckte den Schnabel unter einen Flügel.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Jonathan. »Er ruht sich bloß ein wenig aus. Wenn er wieder aufwacht, fliegt er weiter zum Festland, nach Ecuador.«

José nickte, und Jonathan wollte den Fisch weiter ausnehmen, aber da war kein Fisch mehr. Oskar machte ein sattes und sehr scheinheiliges Gesicht. Jonathan seufzte. Schließlich lag ein zweiter Fisch ausgenommen in der Pfanne.

»Lange reicht das Gas nicht mehr«, sagte José. »Demnächst haben wir die Wahl zwischen rohem Fisch und kalter Dosensuppe.«

In diesem Moment erwachte der Albatros. Er reckte den Kopf, kam etwas unsicher auf die Beine und trippelte auf der Bank nach vorn, um den Fisch zu begutachten, der in kleinen Stückchen in der Pfanne briet, da er im Ganzen nicht hineingepasst hatte. Eine Weile schien der Albatros zu überlegen, dann schnellte sein Schnabel vor – er schnappte sich ein Stück Fisch aus der Pfanne und verschlang es, schnappte das nächste, das übernächste – und hinterließ die Pfanne leer.

»Hey!«, rief Jonathan, viel zu spät.

»Verfluchtes Mistvieh!«, schrie José. Der Albatros brauchte zwei Anläufe, um auf das Kajütendach zu fliehen. Sein Körper war einfach zu massig für elegant dahingeflatterte Hüpfer.

»Mach, dass du hier wegkommst!«, rief José. »Sonst gibt es zum Abendessen Albatrosflügel!«

Der Albatros breitete die langen, schmalen Flügel aus …

»Er nimmt Anlauf!«, flüsterte Jonathan. »Gleich fliegt er los. Sie brauchen etwas wie eine Klippe zum Losfliegen, oder starken Aufwind. Meine Mutter hat uns das vorgelesen.«

Da hielt der Albatros an, drehte sich um und legte den Kopf schief. Er sah auf einmal besorgt aus – ganz so, als hätte er Jonathans Worte verstanden. Ich brauche eine Klippe?, schienen seine Knopfaugen zu sagen. Oder Aufwind? Aber … aber dann kann ich ja gar nicht losfliegen! Immerhin, vor ihm lag die ganze Länge des Dachs als Startbahn. Er rannte auf seinen großen grauen Füßen los, erreichte das Ende des Kajütendachs, warf sich in die Luft – und landete unsanft einen halben Meter weiter unten im Bug der Mariposa. Resigniert watschelte er zurück nach vorn, hopste wieder auf das Dach, nahm wieder Anlauf – umsonst.

»Er schafft es nicht«, sagte Jonathan. »Er braucht eine längere Bahn.«

»Dann bau ihm eine«, knurrte José. »Ich werde keinen Albatros durchfüttern.«

Jonathan hob hilflos die Arme und merkte, wie ein Lachen in ihm aufstieg. Er unterdrückte es mit aller Gewalt. »Ich fürchte«, sagte er, »wir haben einen Albatros.«

»Ich hätte lieber Läuse«, murmelte José. »Bis nach Isabela nehmen wir ihn mit, da kann er sich an Land eine blöde Klippe suchen.«

»Isabela?«, fragte Jonathan. »Ich dachte, wir segeln nach Marchena und von da aus zu deiner verfluchten Insel.«

»Das meine ich ja«, sagte José. »Ich meine: Bis nach Marchena nehmen wir ihn mit.«

»Nein«, flüsterte Jonathan, »das meinst du nicht. Gib es endlich zu, José. Der Kompass ist nicht kaputt und der Wind hat nicht gedreht und wir segeln nach Isabela zurück. Warum?«

José schwieg. Er machte ein gequältes Gesicht, als würde er gern reden, statt zu schweigen, aber er biss die Zähne zusammen und sah voraus, zum Horizont.

Und auf einmal kam Jonathan ein furchtbarer Verdacht. Isabela war die größte Insel. Auf Isabela gab es Behörden. Was, wenn José doch wusste, dass er ein Deutscher war? Wenn er in den letzten Tagen nur so freundlich getan hatte? Wenn er vorhatte, ihn auf Isabela jemandem zu übergeben, der ihn zurück nach Deutschland schickte? Oder Schlimmeres?

»Willst du dem Albatros nicht einen Namen geben?«, fragte José.

»Kurt«, sagte Jonathan.

»Wie bitte?«

»Kurt. So hieß mein Vater. Er ist auch geflogen. Wie der Albatros. Als er über Frankreich abgeschossen wurde, saß er in einem Aufklärungsflugzeug.«

Ihm fiel zu spät ein, dass Kurt ein durch und durch deutscher Name war.

»Von mir aus«, sagte José. »Kurt. Hör mal, Kurt, könntest du aufhören, meinen Ärmel zu essen? Das ist kein Fisch.«

An diesem Abend war das Meer ruhig. Trügerisch ruhig. Der Wind schob eine dunkle Wolkenwand heran.

»Regen«, sagte José. »Wir könnten Regen gebrauchen.«

Sie stellten die leeren Kanister an Deck bereit, fütterten ihren Zoo und sahen gemeinsam zu, wie die Sonne brennend rot im Meer versank. José griff in seine Tasche und holte zwei ziemlich mitgenommene Zigaretten hervor. Er grinste schief.

»Hab ich unter Deck gefunden«, sagte er. »Der Geist unseres Señor Casaflora muss sie verloren haben.«

Er steckte eine Zigarette an und gab Jonathan die andere.

»Ich … rauche eigentlich nicht«, sagte Jonathan.

»Dann solltest du damit anfangen«, erklärte José voller Überzeugung. »Schau dir den Abend an – die Sonne, die sich im Meer spiegelt … Ein echter Mann kann einen so romantischen Abend nicht ohne Zigarette aushalten. Hier, nimm sie ruhig.«

Jonathan lachte. »Deine Logik ist bestechend«, sagte er. Aber er verstand, dass die Zigarette eine Art Zeichen war: Zusammen zu rauchen hieß für José zusammenzugehören. Freunde zu sein. Hatte Jonathan sich getäuscht, was den Kurswechsel betraf? Plante er doch nicht, ihn auf Isabela an die Behörden zu übergeben? Jonathan zündete seine Zigarette an, die im Abend glühte wie ein Miniatur-Sonnenuntergang. Er inhalierte den Rauch – und wurde von einem Hustenanfall geschüttelt.

»Du meine Güte«, sagte José. »Du hast ja wirklich noch nie geraucht. Ganz langsam!«

Jonathan schüttelte sich und zwang sich, noch einmal an der Zigarette zu ziehen. Es war ein scheußliches Gefühl, und er merkte, wie ihm schwindelig wurde.

»Erzähl mal«, sagte er und hielt die Zigarette so, dass sie hoffentlich von selbst ausging, »was gehört noch dazu, ein echter Mann zu sein, hier auf den Inseln?«

José blies einen Rauchkringel und überlegte. »Dass du dein Land bestellen kannst. Ordentlich anpacken. Ich habe eine Menge gearbeitet, zu Hause auf der Farm. Dass du machst, was du für richtig hältst, das gehört auch dazu. Egal, was die anderen sagen. Dass du nicht wegläufst, wenn du Angst hast. Dass du zurückschlagen kannst. Und natürlich die Mädchen.«

»Die Mädchen«, wiederholte Jonathan. »Wie sind sie so hier, auf den Inseln?«

Er sah zu, wie die Asche von der Spitze seiner Zigarette fiel. José hatte aufgehört, darauf zu achten, was er mit der Zigarette tat. Jonathan sah seine dunklen Augen aufleuchten.

»Sie sind … tausend Dinge«, antwortete José. »Schön wie die Flamingos. Stolz wie die Fregattvögel. Würdevoll wie die Pinguine. Verspielt wie die Delfine. Störrisch wie die wilden Esel. Wenn du zu weich bist, machen sie sich lustig über dich. Sie machen sich gern lustig. Sie tun, als wären sie schüchtern, verstecken ihre Beinen in tausend Unterröcken … und wenn du an ihnen vorbeigehst, dann richten sie es so ein, dass die Röcke ein wenig hochrutschen und du ihre Knie siehst. Die Mädchen auf den Inseln haben wunderbare Knie.«

»Knie«, wiederholte Jonathan. »Sind Knie das Äußerste, was du von ihnen zu sehen kriegst?«

»Na ja …«, sagte José. »Einmal, im Stall, da hab ich meinen Bruder mit einer beobachtet. Maria. Sie hat eine Weile auf der Farm geholfen. Dios! An der waren die Knie das Langweiligste. Die hatte Brüste, von denen kannst du nur träumen! Sie stand ganz nackt da, mitten im Stall, zwischen unseren Pferden, wie auf einem Bild. Und dann hat sie sich hingekniet, da ins Stroh …« Er verstummte.

»Und weiter?«

»Dann hat mein Bruder mich entdeckt und rausgeschmissen.« Er seufzte. »Er hat mir Prügel angedroht, wenn ich was sage. Mir braucht man nicht zu drohen. Ein echter Mann kann seinen Mund halten.« Er wandte den Kopf und sah Jonathan an. »Hast du schon mal eine geküsst? In Europa?«, fragte er.

Jonathan lachte. »Nein. Du?«

José schüttelte den Kopf. »Bei einer hab ich’s mal versucht, die hat mich ausgelacht und gesagt, ich wäre noch ein Kind. Aber wenn ich zurückkomme nach Isabela – wenn ich auf der Isla Maldita war und mit den Amis geflogen bin –, dann ist das das Erste, was ich tun werde. Ein Mädchen küssen. So eine mit ganz weichen Lippen, rot müssen sie sein und …«

Doch Jonathan erfuhr nicht, was die Lippen der Galapagosmädchen noch sein mussten, denn José war aufgesprungen und zeigte hinter sie. »Sie sind näher gekommen!«

Jonathan folgte seinem Blick. Die beiden Schiffe, die sie verfolgten, waren ein gutes Stück herangerückt. Sie hatten es aufgegeben, so zu tun, als würden sie der Mariposa nicht folgen. Die Sonne zog die letzten Schlieren des Tageslichts mit sich hinter den Horizont. Ein Windstoß fegte durch die Stille, und ein Tropfen landete auf seinen Lippen, den nicht roten, nicht weichen Lippen. Er sah zum Himmel empor. Es war nicht nur die hereinbrechende Nacht, die ihn verdunkelte.

»José«, sagte er leise. »Ich weiß, warum sie näher kommen. Guck dir das da oben an.«

José nickte grimmig. Es war nicht nur Regen, den die Wolken heranbrachten. Sie trugen einen Sturm in sich, einen ausgewachsenen Sturm.

»Wer immer die dort sind«, sagte Jonathan und zeigte zu den Schiffen hinüber. »Was immer sie wollen. Sie haben sich ausgerechnet, dass nichts mehr übrig bleibt, wenn dieser Sturm mit uns fertig ist.«

Und tatsächlich sah es so aus, als hätten die Skipper der beiden Schiffe es sich in den Kopf gesetzt, die Mariposa vor Einbruch des Sturms zu erreichen. Sie fuhren unter Motor, der kleine Segler voran. Hatten sie sich abgesprochen? Oder war es ein Wettrennen, das sie dort veranstalteten, ein Rennen, dessen Sieger zum Preis die Mariposa bekäme und vielleicht die Karte einer mysteriösen unbewohnten Insel?

Die Böen legten die Mariposa auf die Seite, die Wellen wuchsen und hatten mit einem Mal Schaum vor dem Maul wie tollwütige Tiere. Von einem Moment auf den anderen warf der Pazifik seine Abendromantik ab, wie eine Schlangenhaut, und wurde zum Raubtier, vielzähnig, gierig. Es war jetzt so dunkel, dass man das Raubtier kaum noch sah, nur die Schaumkronen strahlten weiß, wie von innen beleuchtet. José pflückte die Hecklaterne von der Reling, entzündete sie und machte sie mittschiffs am Kajütendach fest. »Rasch!«, befahl er. »Die Segel! Wir müssen die Segel runterholen. Stell sie in den Wind, ich mach das.«

Jonathan versuchte die Mariposa so zu steuern, dass der Wind von vorn kam, und die Segel begannen wild hin und her zu schlagen.

»Mierda!«, schrie José. »Es geht nicht!«

Jonathan sah, wie er sich geduckt an die Reling klammerte. »Bring sie zurück auf Kurs! Ganz dicht am Wind! Ich muss erst nach vorn zum Mast, ehe mich der Baum erschlägt! Und mach den Motor an!«

Jonathan schob das Steuerruder herum, riss am Anlasser des Motors – nichts geschah. Die Mariposa schoss nur so vorwärts, stand auf ihrer Leekante wie auf einer Schlittschuhkufe … Wellen schwappten über die Reling und sammelten sich im Boot. Die leeren Wasserkanister kullerten über das Deck, einer wurde von einer Welle mitgenommen. Jonathan riss noch einmal am Anlasser. Diesmal gab der Motor ein unwilliges Geräusch von sich – und verstummte. Der Regen peitschte Jonathan ins Gesicht, er sah kaum noch, was er tat. Er spürte etwas Kleines, Weiches an seinem bloßen Fuß: Carmen. Jetzt sah er auch, dass sich Eduardo, Oskar und Kurt ängstlich am Fuß der Treppe drängten, vor der Kajüte. Es gelang ihm, das Ruder für einen Moment festzuhaken, und er machte einen Satz nach vorn und öffnete die Kajütentür, um die Tiere in Sicherheit zu bringen. Sie taumelten so panisch ins Dunkel, dass eines über das andere fiel. Jonathan warf die Tür zu und kehrte zum Steuer zurück. José hatte es inzwischen geschafft, die Fock einzurollen. Warum begann er mit der Fock? Jonathan sah, wie er das Tau um die eingerollte Fock wand, doch dann riss der Sturm es ihm aus der Hand und trug es über Bord. José sah sich um und rief etwas. Ein Tau! José brauchte ein Seil. Irgendeines. Jonathan sah sich um. José hatte das Schiff aufgeräumt. Es gab keine losen Seile und Bändsel mehr, die am Mast hingen. Sie lagen alle ordentlich zusammengerollt unter Deck, aber gerade hatte Jonathan vergessen, wo. Er ließ das Steuer mit einer Hand los, löste seinen Gürtel und zog ihn aus den Schlaufen. José war schon übers Kajütendach geklettert und streckte die Hand nach dem Gürtel aus.

»Das Großsegel krieg ich nicht ab!«, rief José. »Das Fallsegel klemmt! Das Messer …«

Damit kletterte er zurück nach vorn und sicherte die Fock. Alles, was Jonathan in der Zwischenzeit tun konnte, war, das Steuer festzuhalten und Angst zu haben. Die Nacht, die er allein an Deck verbracht hatte, war nichts gewesen im Vergleich zu dieser Nacht. Dies war vielleicht das Ende der Mariposa. Er hatte gesehen, dass auch José Angst hatte. Zwei weitere Kanister wurden über Bord gerissen. Der Pazifik warf weitere Wellen ins Boot. Die Mariposa lief voll. Er drehte sich um und sah, dass das größere Boot zurückgeblieben war. Aber der andere Segler hatte ein gutes Stück aufgeholt. Auch er stand beinahe senkrecht auf einer Kante, er jagte dahin wie die Delfine im Wasser. Aber er war geschmeidiger als die Mariposa. Leichter. Einfacher zu steuern. War es wirklich Waterweg, der dieses Boot segelte? Hatte auch er Angst? Er holte auf, langsam, aber sicher …

José war wieder da und nahm Jonathan das Steuer aus den Händen.

»Jetzt«, sagte er. »Jetzt stellen wir sie in den Wind und kappen endlich das Großfall.«

Jonathan deutete stumm auf den Segler hinter ihnen. »Das würde ich nicht tun. Nicht, ehe du den Motor ankriegst. Sonst holt er uns ein.«

José fluchte. »Warum hast du den Motor nicht …?«

Jonathan schüttelte den Kopf. »Ich hab es nicht geschafft. Versuch du es.«

»Dann hol du das Messer. In der Kajüte. Hinter den Dosen auf dem rechten Regal.«

Jonathan nickte. Als er die Kajütentür öffnete, merkte er, wie seine gürtellose Hose rutschte. Es gab nichts, was jetzt gerade unwichtiger war als eine Hose, und doch schien es wie ein Symbol. Auch er verlor eine falsche Schlangenhaut, wie der Pazifik. Für einen Moment fragte er sich, ob die Sachen, die er trug, dem Jonathan Smith gehört hatten, mit dessen Pass er unterwegs war. Er hatte ihn nicht gekannt. Waterweg hatte die Pässe besorgt. Waterweg, der jetzt vielleicht hinter ihnen her war, im Auftrag eines wahnsinnigen Deutschlands. Waterweg, den er hasste.

Er dachte all diese Gedanken in einer einzigen Sekunde, während er in die Kajüte kletterte, um Josés Messer zu suchen. Die Tür fiel hinter ihm zu. Es war schwierig, den Halt auf dem schrägen Boden nicht zu verlieren und gleichzeitig im Dunkeln zu tasten. Ein paar Dosen fielen vom Regal und er fluchte auf Deutsch.

In diesem Moment wurde es in der Kajüte hell. Sein eigener Schatten fiel auf die Wand vor ihm.

»Sieh mal einer an«, sagte jemand hinter ihm auf Spanisch. »Na, sieh mal einer an.«

Er fuhr herum und blickte in ein altes, bärtiges Gesicht. Hinter dem Mann gab es jetzt eine Öffnung in der Wand, die Öffnung zu einer verborgenen Koje. Jonathan sah Josés Mauser auf der schmalen, dreckigen Matratze liegen. Es war, als hörte der Sturm für einen Moment auf zu existieren. Die Nacht verschwand. Der ganze Pazifik war nicht mehr da. Es gab nur diesen winzigen Raum unter Deck und Jonathan und den fremden Mann.

Der Mann spielte mit der schwarzen Pistole. »Casaflora«, sagte er. »Juan Casaflora.«

»Jonathan Smith«, sagte Jonathan automatisch. »Sie sind … der Tote. Aber Sie sind nicht tot.«

Casaflora schüttelte den Kopf. »Und du bist nicht Jonathan«, sagte er.

Jonathan schwieg.

»Ich bin nicht so dumm«, fuhr Casaflora fort, »wie dein Freund da draußen. Und jetzt, wo wir vielleicht alle zusammen untergehen, will ich die Wahrheit wissen.«

Er legte die Pistole auf den Tisch. Er brauchte sie nicht. Er streckte eine Hand aus und Jonathan wollte einen Schritt zurückmachen … aber dafür war kein Platz. Er stand bereits mit dem Rücken zur Wand. Casaflora riss ihm mit einer einzigen raschen Bewegung das Hemd vom Leib, er hörte den Stoff reißen, fühlte, wie er an ihm hinunterglitt. Noch eine Bewegung der Hand, die gürtellose Hose folgte, wieder riss Stoff, der Stoff von zu oft getrockneter, meersalzstarrer Unterwäsche. Und dann stand er nackt, splitterfasernackt, im Taschenlampenlicht. Das Licht war kalt.

Casaflora pfiff durch die Zähne.

»Dachte ich es mir doch.«

Er streckte die Hand ein weiteres Mal aus. Jonathan, der nicht Jonathan war, wollte etwas tun, nach der Hand schlagen, zur Seite springen, irgendetwas – doch es war, als wäre sein Körper versteinert. Die letzten Worte hatte Casaflora auf Deutsch gesagt. Und er selbst hatte auf Deutsch geflucht, vor Sekunden. Es schien Stunden her. Der geflucht hatte, war noch Jonathan Smith gewesen. Und jetzt, jetzt war alles anders.


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