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Die geheime Reise der Mariposa
  • Текст добавлен: 17 октября 2016, 01:01

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Автор книги: Antonia Michaelis



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»Sie wollen die Karte haben. Verzeihen Sie meine Sprache. Ich habe mich zu sehr daran gewöhnt. Das Deutsche kommt mir nicht mehr über die Zunge. Bin schon zu lange hier auf den Inseln.«

Waterweg lachte. »Und ein Glück, sonst hätte die deutsche Regierung niemanden gehabt, dem sie einen so delikaten Auftrag hätte geben können. Sie … haben die Karte?«

Casaflora nickte. »Ich habe sie gezeichnet. Es sind alle Informationen darauf vermerkt, die man von mir haben wollte. Aber … ich besitze sie nicht mehr.«

José schluckte. Er hatte es also bemerkt.

»Sie … besitzen sie nicht mehr?« Waterwegs Stimme wurde kalt. In seiner Hand glänzte plötzlich etwas Schwarzes. Eine Pistole vom gleichen Fabrikat wie die von Casaflora. Die jetzt in Marits Tasche steckte. Aber wo steckte Marit?

Waterweg richtete die Pistole nicht auf Casaflora. Er behielt sie lediglich in der Hand, damit der andere sah, dass es sie gab.

»Es war vereinbart«, sagte er, »dass wir uns auf Isabela treffen, damit Sie mir die Karte aushändigen können. Sie sind nicht erschienen. Dann fahre ich nach Baltra – was eigentlich ein untragbares Risiko ist –, und man sagt mir, Sie wären nicht mehr am Leben. Als Nächstes höre ich, Ihr Schiff wäre allein davongesegelt, in Richtung Bartolomé, und ich hole Sie sogar ein. Sie segeln nach Isabela. Gut, denke ich, besser jetzt als nie … Aber dann, mitten im Sturm, ändern Sie Ihren Kurs, was ich erst zu spät merke. Und jetzt sagen Sie mir, Sie hätten die Karte nicht mehr. Was ist hier los? Gewisse Leute in Deutschland warten auf diese Karte und das wissen Sie!«

»Sie wurde … gestohlen«, antwortete Casaflora ausweichend.

»Gestohlen?« Waterweg klang jetzt alarmierter als zuvor. »Von wem?«

Casaflora seufzte. »Von einem, der sie wahrscheinlich inzwischen vernichtet hat«, sagte er. Er sagte es sehr laut und deutlich und er sprach nach wie vor spanisch. »Oder auch nicht … Aber sicher wäre es klüger von ihm gewesen, sie zu vernichten.«

Da begann José zu begreifen. Casaflora wusste, dass er da war, ganz nah. Er wusste, dass José die Karte hatte. Warum hatte José das verdammte Ding nicht vernichtet? Die Wahrheit war, dass er sie über Marits Verschwinden völlig vergessen hatte. Sie steckte noch immer sorgsam gefaltet in seiner hinteren Hosentasche. Verdammt!

»Und wenn er die Karte nicht vernichtet hat, wohin bringt er sie?«, zischte Waterweg. »Wer ist es, der sie gestohlen hat?«

»Nur ein kleiner Junge«, sagte Casaflora. »Ein kleiner Junge, der ein Held sein will. Die Geschichte ist zu lang, um sie hier zu erzählen …«

Waterweg trat einen Schritt näher und jetzt hielt er die Pistole direkt vor Casaflora Gesicht.

»Wo ist er?«

»Hier … auf der Insel«, antwortete Casaflora. »Glaube ich. Aber er ist schlau und schnell, er kennt die Bedingungen der Inseln, er ist von hier, und … sehen Sie sich vor, wenn Sie ihn suchen.« José hörte ein Lächeln in seiner Stimme. »Er schleppt eine Mauser mit sich herum, zum Jagen. Sicher würde er nicht zögern, notfalls auf einen Menschen zu schießen.«

José kroch langsam rückwärts. Die Mauser über seiner Schulter war hinderlich beim Kriechen. Seine Gedanken überschlugen sich. Er musste hier weg. Er musste die Karte loswerden. Casaflora hatte extra spanisch gesprochen, um ihn zu warnen. Und Casaflora hatte in der Nacht zuvor vielleicht nicht einmal geschlafen. Er hatte nur so getan. Er hatte still gelegen, die Augen vielleicht nicht ganz geschlossen, und hatte darauf gewartet, dass José abdrückte.

Er hatte sich nicht gerührt, um sich zu wehren.

Etwas war geschehen in diesem knurrigen alten Mann, etwas, das José nicht verstand. Er verstand nur, dass er sich aus dem Staub machen musste, rasch …

»Da ist noch etwas«, hörte er Waterweg sagen. »Das hier lag bei der Feuerstelle.«

»Ein Teddybär«, sagte Casaflora.

»Ja, ein Teddybär«, wiederholte Waterweg. »Und ich kenne das Mädchen, dem er gehört. Sie ist meine Nichte. Sie ist mit mir auf die Inseln gekommen und den Bären hat sie mitgenommen. Aber dann ist sie verschwunden, von dem Schiff verschwunden, das uns nach Baltra bringen sollte. Es war eine schreckliche Geschichte. Ich dachte, sie wäre nicht mehr am Leben, sie wäre über Bord gesprungen. Wir haben sie nie gefunden. Nur den Bären habe ich behalten. Nicht lange allerdings. Eine der Möwen hielt ihn wohl für etwas Essbares. Ich habe gesehen, wie sie damit wegflog. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie bis hierher … Natürlich ist es möglich……«

»Nein«, sagte Casaflora. »Der Bär ist zurückgekehrt zu dem Mädchen. Jedenfalls hatte sie ihn bis vor Kurzem noch. Wenn sie es war.«

Waterweg starrte ihn an. Was? Sie ……Erklären Sie mir … Wo ist sie?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Casaflora. »Ich weiß es wirklich nicht. Sieht aus, als wäre es eine Angewohnheit von ihr, zu verschwinden. Fragen Sie ihren Bruder, wenn Sie ihn treffen.«

»Ihren … Bruder?«, wiederholte Waterweg perplex.

José wusste, was er mit der Karte tun würde. Er schlängelte sich zwischen den Büschen hindurch wie ein Salamander, noch immer geduckt, und die trägen rot-schwarzen Leguane sahen ihm verwundert nach, wie er zurück ins Innere von Marchena hetzte, den Vulkan hinauf. Er sah sich nicht um. Vielleicht war Waterweg bereits hinter ihm her. Vielleicht hatte er das Rascheln seiner Schritte gehört, hatte Josés Spur aus aufgescheuchten bunten Vögeln gelesen und würde ihn einholen, ehe er sein Ziel erreicht hatte … Die trockene Luft brannte in seinen Lungen, während er weiterrannte.

Und endlich stand er auf der Caldera, nach Atem ringend. Hinter ihm blieb das Inselgestrüpp still. Niemand folgte ihm. Er holte die Karte aus seiner Tasche, wickelte sie um einen Stein und schlang einen langen dürren Grashalm drum herum. Dann suchte er eine geeignete Stelle, holte weit aus und schleuderte das Paket ins Maul des Kraters, dorthin, wo er eine Lavapfütze Blasen werfen sah. Das Papier würde Feuer fangen und verbrennen, und dies würde das Ende der Karte sein. Das Ende deutscher Spionage auf Baltra.

Das deutsche Militär würde nie die Informationen bekommen, die es brauchte, um seine tödlichen U-Boote durch den Kanal zu schmuggeln. Um die amerikanischen Flugzeuge abzuschießen. Um den Krieg zu den Galapagosinseln zu tragen.

José beobachtete die Flugbahn des Steins mit einem goldenen Klumpen aus Stolz in der Brust.

Doch der Stein landete nicht in der Lavapfütze. Er flog ein wenig zu weit und kam in einem toten Gestrüpp jenseits der Lava auf, und dort blieb er liegen – das weiße Papier gut sichtbar bis zum Kraterrand, auf dem José stand. Er fluchte, kletterte ein Stück in den Krater hinein – und wurde von einer Schwefelwolke zurückgedrängt. Der Boden unter ihm schien sich wieder zu regen, wie schon am Morgen.

Bist du noch bei Verstand?,raunte die Abuelita. In einen Vulkan hinunterzusteigen, der so leicht schläft und so lebhaft träumt wie dieser?Zwei Lavafontänen spritzten zu beiden Seiten des Papiers auf, jedoch ohne es zu treffen.

José schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »nein, ich bin nicht mehr bei Trost, Abuelita. Ich hoffe nur, dass dieser Waterweg noch bei Trost ist und nicht der Karte hinterherklettert, falls er sie entdeckt.«

Damit machte er sich auf den Weg zurück nach unten. Immer wieder hielt er inne, weil er sich einbildete, von Schritten verfolgt zu werden, verborgenen Schritten im Dickicht. Er schlug Haken und Bögen, machte einen riesigen Umweg. Und als er schließlich wieder in der Nähe des Strands war, war es beinahe Abend geworden. Er hatte seit dem Morgen nichts getrunken. Das Blau des Pazifiks, das hinter dem Strand schimmerte, schien ihm jetzt beinahe verlockend, so als könnte man das Meerwasser trinken. Vielleicht war es das, was die Segler letztlich umbrachte, dachte er: dass sie aus Verzweiflung Salzwasser tranken. Sein Kopf dröhnte, und seine Schläfen schmerzten, als hätte jemand eine Zange dort angesetzt. Nur noch ein paar Hundert Meter durchs Gebüsch, dann wäre er am Strand, dann würde er zur Mariposa hinausschwimmen und den letzten Kanister holen, und womöglich war Marit dort. Zwischen dem Dröhnen in seinem Schädel gab es nur noch diese beiden Gedanken: Wasser und Marit, Marit und Wasser, Wasser und … Es raschelte neben ihm, ein Leguan floh vor etwas, vor jemandem, ungewöhnlich eilig, und José hörte den Atem eines anderen Menschen, ganz nah.

»Marit?«, flüsterte er.

»Nein«, sagte der andere, und José wurde so rasch gepackt, dass er keine Zeit hatte zu reagieren. Oder womöglich war es das Kopfweh, das ihn langsamer machte als sonst. Die Mauser landete auf dem Boden, ein Arm nahm ihn in den Schwitzkasten. Er schaffte es, den Kopf ein wenig zu drehen, und blickte in ein Gesicht mit kaum sichtbaren Augenbrauen und weißblondem Haar. Zwei blaue Augen sahen ihn an, hell wie die von Marit. Aber dieses Blau war vor langer Zeit zu Eis gefroren.

»Wo ist sie?«, fragte Waterweg.

Unerreichbar, dachte José. In seinem Kopf entstand ein Bild der Karte, die um den Stein gewickelt zwischen den Schwefeldämpfen und den Lavafontänen im Krater lag. Waterweg verengte seinen Griff um Josés Hals und er spürte die Mündung einer Pistole unter seinem Kinn.

»Du weißt vielleicht nicht, wer ich bin«, sagte der Mann. »Sie ist meine Nichte. Und du trägst ihre Mütze. Was hast du mit ihr gemacht?«

Da verstand José. Er sprach nicht von der Karte. Er sprach von Marit. Er wand sich in Waterwegs Griff.

»Gar nichts«, zischte er, und sein Ärger war größer als seine Angst. Wie konnte dieser Fremde denken, er hätte Marit etwas getan! »Sie … sie ist verschwunden! Aber wenn ich wüsste, wo sie ist, würde ich es Ihnen nicht sagen.«

»Wenn du ihr etwas getan hast …«, knurrte Waterweg.

»Ich habe sie aus dem Wasser gezogen!«, rief José. »Ich habe ihr das Leben gerettet, verflucht! Besser gesagt: Ich habe einem Jonathan Smith das Leben gerettet.«

»Und dann hat sich der Jonathan Smith in ein hübsches kleines Mädchen verwandelt, wie?«, sagte Waterweg. »Wie praktisch für dich.«

Er stieß José mit einer plötzlichen Bewegung zu Boden. Die Mündung der Pistole lag noch immer an Josés Hals.

»Ich habe noch nie auf ein Kind geschossen«, sagte Waterweg leise. »Aber wenn du Marit etwas getan hast, bist du kein Kind mehr. Wie alt bist du?«

»Alt genug, um zu sterben«, sagte José stolz.

Zur selben Zeit ging Marit am Strand auf und ab und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Wo war die Mariposa? Wo waren die erloschenen Feuerstellen? Selbst die Seelöwen waren verschwunden. War sie in eine Art unerklärliches Zeitloch gefallen? Sie setzte sich in den Sand und sah aufs Meer hinaus. Neben ihr saß der rot-schwarze Leguan. Carmen war auf seinen Kopf geklettert.

»Uwe«, sagte Marit zu dem Leguan. »Du heißt Uwe. Verzeih mir, aber du siehst einfach so aus.«

Carmen spazierte zwischen Uwes Zacken entlang, an seinem Rücken hinunter, balancierte auf ihren winzigen Pfötchen über seinen langen schuppigen Schweif und sprang auf den Boden. Dann begann sie durch den Sand davonzulaufen – ein mühsames Unterfangen, denn der Sand war fein und trocken und sie sackte immer wieder bis zum Bauch darin ein. Aber sie schien entschlossen.

»Hör mal, Uwe«, sagte Marit und stand auf. »Ich denke, wir sollten ihr folgen. Carmen weiß manchmal … Dinge.«

Sie hob die Ratte hoch, setzte sie auf ihre Schulter und wanderte ein Stück in die Richtung, in die Carmen gegangen war. Dann drehte sie sich um. Uwe folgte ihr tatsächlich. Und als Marit das Stück Küste jetzt noch einmal betrachtete, dämmerte ihr etwas. Es war nicht das richtige Stück Küste. Die Bucht sah zwar ähnlich aus, doch es war nicht dieselbe. Sie war auf der verkehrten Seite des Vulkans hinuntergegangen.

»Idiotin, ich!«, rief sie und lachte erleichtert. »Es wird alles noch da sein, wenn ich ankomme: José und die Mariposa und der Rest unseres Zoos. Ich muss nur ein Stück um die Insel herumwandern.«

Es dauerte, um die Insel herumzuwandern. Marit wanderte und wanderte, sie wanderte unten am Wasser entlang, wo der Sand härter war, doch hier gab es keinen Schatten und ihr Durst wuchs ins Unermessliche.

»Wie machst du das, Uwe?«, fragte sie. »Trinkst du überhaupt je etwas?«

Bei jeder Bucht, in die sie kamen, dachte Marit: Hier! Hier muss die Mariposa liegen! Und jede Bucht war eine leere Bucht. Der Tag wurde zum Abend, die Sonne begann zu sinken, und endlich sah sie den goldenen Fleck auf dem Wasser. Das Honigboot.

Aber jetzt lag ein zweites Boot in der Bucht, ein Boot mit einem geflickten Mast. Marit merkte, wie ihr Herz rascher schlug. Sie sah Casaflora auf der Mariposa mit dem Motor hantieren. War José dort? Wo war der Besitzer des anderen Boots? Bei der alten Feuerstelle lag nur Josés Rucksack. Sie hob ihn auf. Und dann hörte sie Stimmen von dort, wo die dornigen Sträucher begannen. Sie krallte ihre Finger um den Rucksack.

Eine der Stimmen gehörte unzweifelhaft Waterweg. Weg!, dachte sie. Ich muss weg von hier! Sie holte Luft und lief los. Doch sie lief auf die Stimmen zu. Denn die andere Stimme gehörte José. Als sie sie beinahe erreicht hatte, blieb sie stehen und hob Uwe vom Boden auf, damit er sie nicht durch sein Geraschel verriet. Nur noch ein paar dichte Dornbüsche trennten Marit und die Stimmen. Und jetzt verstand sie einzelne Worte.

»Besser gesagt«, sagte José gerade, »ich habe einem Jonathan Smith das Leben gerettet.«

»Und dann hat sich der Jonathan Smith in ein hübsches kleines Mädchen verwandelt, wie?«, fragte Waterweg.

Das hübsche kleine Mädchen tastete nach der Pistole. Sie war nicht da. Verdammt! Marit musste sie irgendwo auf dem Vulkan verloren haben. Sie teilte die Zweige vor sich lautlos … und erschrak. José lag auf dem Boden, und Waterweg stand über ihm, den Lauf seiner Waffe gegen Josés Hals gepresst.

»Ich habe noch nie auf ein Kind geschossen«, sagte er. »Aber wenn du Marit etwas getan hast, bist du kein Kind mehr. Wie alt bist du?«

»Alt genug, um zu sterben«, sagte José.

Marit lächelte. Vermutlich hatte er ein Leben lang darauf gewartet, diesen Satz zu sagen. Sie trat aus dem Gebüsch. »Ich bin hier«, sagte sie leise. Auf Spanisch.

»Marit!«, rief Waterweg und sie hörte ehrliche Erleichterung in seiner Stimme.

»Niemand hat mir etwas getan«, sagte Marit, und noch immer vermied sie es, deutsch zu sprechen. »Ich hatte mich verlaufen, das war alles. Nimm die Pistole weg! José hat mich aus dem Wasser gezogen. Ohne ihn wäre ich nicht hier. Es ist wahr.«

»Ich wünschte, ich könnte das glauben«, sagte Waterweg. Er schob die Mauser mit dem Fuß weg, sodass weder José noch sie sie erreichen konnte. »Aber da ist noch etwas. Die Karte, mein Junge. Du hast sie gestohlen. Sagt Casaflora. Gib mir die Karte und ich binde dich sofort los.«

Die Karte?, dachte Marit. Gestohlen? Hatte José nicht gesagt, er hätte sie von seinem Vater bekommen? Hatte er gelogen? Und weshalb war ihr Onkel hinter einer alten Schatzkarte her?

»Ich habe sie vernichtet«, antwortete José. »Sie existiert nicht mehr.«

»Oh nein«, sagte Waterweg. »Du lügst. Ich kann es sehen.«

Marit sah es auch. José sagte nicht die Wahrheit.

»Lass ihn doch die dumme Karte haben«, flüsterte sie. »Ist sie so wichtig?«

José warf ihr einen Blick zu, funkelnd vor Ärger. »Als wüsstest du irgendetwas«, fauchte er. »Gar nichts weißt du! Fahr mit deinem Onkel dorthin zurück, wo du hergekommen bist, und lass mich bloß in Ruhe …«

»Die Wahrheit«, sagte Waterweg. »Ich möchte die Wahrheit über die Karte hören.«

»In Ordnung«, antwortete José. »Die Karte existiert noch, aber sie wird nicht mehr lange existieren. Es ist eine Frage der Zeit.«

»Du hast sie vergraben.«

»Nein.«

»Ins Wasser geworfen?«

»Nein.«

»Hör mal, das hier ist kein Ratespiel.« Waterweg trat ganz dicht an José heran und sah ihm in die Augen. »Das hier ist Ernst. Wo ist die verdammte Karte?«

José schwieg.

»Es ist einfach«, meinte Waterweg. »Du wirst hierbleiben, bis du mich hinführst. Steh auf! Geh da rüber! Zu dem niedrigen Baum.«

José gehorchte, doch er gehorchte nicht Waterweg, sondern seiner Pistole. Waterweg holte mit der freien Hand eine Rolle Schnur aus der Tasche.

»Nimm deine Hände nach hinten«, befahl er José. Mit ein paar flinken Bewegungen fesselte er Josés Handgelenke an den Baum, und Marit sah, wie die dünne Schnur in seine Gelenke einschnitt.

Waterweg steckte seine Pistole ein, bückte sich und nahm das Magazin aus der Mauser. »So«, sagte er. »Ich habe Zeit. Zeit und eine Menge Wasser auf meinem Boot.«

»Wasser?«, fragte Marit.

Waterweg nickte. »Komm«, sagte er, »gehen wir etwas trinken. Und essen. Du siehst aus, als hättest du seit Langem nichts Anständiges mehr gegessen.« Er nahm sie am Arm, um sie mit sich wegzuführen, und sie wollte sich wehren, aber dann ließ sie es bleiben. Vielleicht war es besser, mitzugehen. Vielleicht konnte sie etwas herausfinden, etwas über die Karte.

»Warten Sie!«, rief José. »Vielleicht überlege ich mir das mit der Karte, wenn ich Wasser bekomme.«

»Oh nein«, sagte Waterweg. »So herum funktioniert es nicht, mein Junge. Wenn ich die Karte in den Händen halte, dannbekommst du Wasser. Also? Möchtest du reden?«

José schüttelte den Kopf. Aber Marit sah, wie er litt. Wie der Durst ihn quälte, genau wie sie selbst. »José …«, begann sie, »willst du ihm nicht doch lieber sagen …?«

»Verschwinde!«, knurrte er. »Geh auf das feine Schiff deines feinen Onkels und betrink dich an seinem feinen Wasser. Von mir aus bleibe ich hier sitzen und schweige, bis die Welt untergeht!«

Waterweg ließ Marits Arm nicht los, auch nicht, als sie durchs Wasser wateten. Die runden Köpfe der Seelöwen tauchten in einiger Entfernung auf, doch diesmal kamen sie nicht heran, um zu spielen. Sie spürten die Spannung zwischen den beiden schweigenden Menschen. Als sie vor dem Schiff im Wasser standen, konnte Marit zum ersten Mal die Lettern an der Bordwand lesen: MARI NOCTURNA stand dort, dunkelblau auf weißem Grund. Die Nächtliche Maria. Ein seltsamer Name.

Waterweg zog sie die Leiter hinauf.

Auf dem Schiff reichte er Marit eine Wasserflasche. Sie dachte an José, während sie trank. An die Schnur, die in seine Handgelenke einschnitt. Mit Waterwegs Wasser trank sie ihr schlechtes Gewissen, es schmeckte bitter und giftig, und sie wusste, dass es nicht am Wasser lag. Aber sie konnte nicht anders. Sie musste trinken.

Er wartete, bis sie auch noch den letzten Tropfen aus der Flasche geschüttelt hatte. Dann zog er sie an sich und umarmte sie lange. Sie sträubte sich und schließlich ließ er sie los.

»Weißt du, was für Sorgen ich mir gemacht habe?«, fragte er. »Ich dachte, ich hätte dich verloren. Seit wann sprichst du wieder? Und seit wann sprichst du spanisch?«

»Ich spreche nur noch spanisch«, antwortete Marit. »Nur meine Träume träume ich noch auf Deutsch.«

»Von mir aus«, sagte Waterweg. »Von mir aus sprich chinesisch mit mir, wenn du nur sprichst! Ich bin so froh. So froh, dass ich dich gefunden habe.«

Er verschwand in der winzigsten Kajüte, die man sich vorstellen konnte, und tauchte mit Armen voller Essen wieder auf: Dauerbrot und Butter, Wurst, Bananen und frische Guaven.

»Erzähl mir, was geschehen ist«, sagte er. »Erzähl mir alles. Damals im Sturm, als ich die Mariposa fast eingeholt hatte … da ahnte ich ja nicht, dass du an Bord warst. Ich begann es zu ahnen, als ich den Bären am Strand gefunden habe.«

Marit fragte sich wieder, wie er es im Sturm überhaupt geschafft hatte, den Mast zu reparieren, draußen, allein auf See.

»Wir dachten, du wärst tot«, sagte sie. »Nach dem Sturm.«

Er nickte. »Aber ich habe eine Aufgabe, bei der ich es mir nicht leisten kann zu sterben. Vorerst nicht.«

Sie kniff die Augen zusammen und musterte ihn. Er sah ihrer Mutter so ähnlich. Sie hasste ihn für diese Ähnlichkeit.

»Du hast mich nicht ihretwegen hierhergebracht«, sagte sie. »Wegen meiner Mutter. Wegen ihres alten Traums. Es war alles eine Lüge.«

»Ja«, sagte er. »Ja und nein. Es gab etwas zu erledigen hier und ich habe mich freiwillig gemeldet. Weil ich an den Traum deiner Mutter dachte.«

»Zu erledigen … Es hat mit der Karte zu tun.«

Er nickte. »Die Karte. Aber ich glaube nicht, dass du verstehst.«

»Nein. Ich verstehe nichts. José hat gesagt, er hätte sie von seinem Vater bekommen. Was geschieht auf der Isla Maldita? Es hat nichts mit irgendwelchen toten Piraten zu tun, nicht wahr? Womit dann?«

Waterweg schüttelte langsam den Kopf. »Von seinem Vater … la Isla Maldita … Jetzt verstehe ichnichts mehr. Er hat die Karte Casaflora gestohlen. Dachte ich. Moment.« Seine stechenden blauen Augen suchten ihre. »Kann es sein, dass es nocheine Karte gibt?«

Marit biss sich auf die Lippen. Vielleicht hätte sie nicht sagen sollen, was sie gesagt hatte. Es war alles so verwirrend! Zwei Karten?

»Du arbeitest für die Deutschen«, sagte sie. »Ist es nicht so?«

»Ich bin deutsch«, antwortete Waterweg. »Du auch, übrigens.«

Nein, wollte Marit sagen. Ich war es einmal. Ich hatte einmal eine Heimat. Doch jetzt habe ich keine mehr. Sie ist verbrannt. »Warum ist es so wichtig«, fragte sie stattdessen, »eine verdammte Karte zu finden?«

»Das ist … nicht wichtig«, erwiderte er zu ihrem Erstaunen. »Es ist wichtig, dass sie nicht in die falschen Hände gerät. Hier. Iss.« Er reichte ihr ein Brot mit einer Scheibe Wurst.

Marit schüttelte den Kopf. »Ich esse kein Brot von einem, der Leute an Bäume fesselt.«

Er seufzte. »Aber mein Wasser, das hast du getrunken. Marit, eines Tages wirst du verstehen, warum ich tun musste, was ich getan habe. Mit diesem Jungen. Morgen früh wird er erschöpft genug sein, um mir zu sagen, wo die Karte ist.«

»Da war Blut in seinem Haar. Du hast ihn geschlagen.«

»Ich dachte, er hätte dir etwas getan.« Er beugte sich vor, legte seine Hände auf ihre Schultern und schüttelte sie. »Begreifst du noch immer nicht? Ich habe meine Schwester verloren, und du bist alles, was von ihr geblieben ist. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustoßen würde.«

»Dann kannst du mich ja verstehen«, sagte Marit. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn meinem Bruder etwas zustoßen würde.«

»Du hast keinen Bruder.«

»Oh doch«, sagte Marit. »Und er sitzt auf Marchena fest, ohne Wasser und ohne Nahrung, mit Blut in seinem Haar.«


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