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Zurück aus Afrika
  • Текст добавлен: 21 октября 2016, 22:03

Текст книги "Zurück aus Afrika"


Автор книги: Corinne Hofmann



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Erinnerungen holen mich ein

Kurz vor Weihnachten erhalte ich meine Lohnabrechnung für Dezember. Inklusive Weihnachtsgeld ist es eine sehr erfreuliche Summe. Jetzt könnte ich mir mit Napirai wirklich einmal wunderschöne Ferien leisten, überlege ich kurz und mache mich gleich auf den Weg in ein Reisebüro. Ich möchte in ein Land fliegen, in dem es jetzt sonnig und warm ist und in dem keine Malaria-Gefahr besteht. Nach einigen Beratungen entscheide ich mich für einen Flug in die Dominikanische Republik. Ich freue mich darauf, zwei Wochen verwöhnt zu werden und das Zusammensein mit meiner Tochter in vollen Zügen zu genießen, mit ihr zu essen, wonach uns gerade ist, und so lange wie möglich im Meer zu plantschen. Wie Napirai wohl reagieren wird, wenn sie wieder von vielen schwarzen Menschen umgeben ist? Ob sie sich dann an ihren Papa erinnert?

Noch vor unserer Abreise bekomme ich einen Brief aus Barsaloi. James entschuldigt sich, dass er so lange nicht geschrieben hat, aber sie hätten schwere Zeiten gehabt. Erst wären bei den fürchterlichen Kämpfen gegen die Rebellen, die ihnen fast alle Tiere gestohlen haben, viele Menschen umgekommen. Und jetzt hätte es endlich geregnet, aber Barsaloi sei nun voll von Moskitos. Malaria zu bekommen, sei nur eine Frage der Zeit. Er habe eine Anstellung in der neuen Schule in Barsaloi erhalten und sei glücklich über die Arbeit. Im Moment aber kämen nicht viele Kinder zur Schule, da wegen der Malaria schon einige gestorben sind. Auch in dem kleinen »Barsaloi-Hospital« hätte es Malaria-Tote gegeben. Dennoch sei er froh, dass er überhaupt Arbeit gefunden hat und die Kämpfe nun vorbei sind. Allerdings sei alles viel teurer geworden. Kleider, Reis, Zucker, selbst Mais seien zehnmal teurer als noch zu meiner Zeit. Unglaublich! Er möchte jetzt im Dezember nach Mombasa reisen, um nach Lketinga zu sehen. Sobald er Neuigkeiten habe, wird er wieder schreiben.

Zum einen bin ich sehr froh über diesen Brief, denn ich hatte lange nichts mehr gehört, zum anderen mache ich mir Sorgen um meine ehemalige Familie, weil ihr Leben im Moment besonders schwer zu sein scheint. Ich erinnere mich an meine eigenen schrecklichen Malaria-Attacken. Durch die ständigen Wechsel von Fieberanfällen und Schüttelfrost ist man innerhalb kürzester Zeit ein Wrack. Zudem hat man Durchfall und muss sich trotz leeren Magens unaufhörlich übergeben, bis man nur noch apathisch und kraftlos im Bett liegt. Mein Gott, ich wünsche diese Krankheit niemandem und hoffe, dass es in Barsaloi bald ein Ende dieser Plage geben wird. Außerdem bin ich gespannt, ob James Lketinga in Mombasa finden wird und was er im nächsten Brief von ihm zu berichten weiß. Immerhin habe ich seit mehr als drei Jahren nichts mehr von ihm erfahren.

Endlich ist es so weit. Napirai und ich besteigen zum ersten Mal seit unserer Flucht aus Kenia wieder ein Flugzeug, diesmal allerdings in Richtung Porto Plata. Der Flug dauert lang, doch Napirai bekommt Spielsachen im Flugzeug und malt vor sich hin, bis sie einschläft. Während wir nach der Ankunft durch den Flughafen laufen, fühle ich mich sofort an die Landung in Mombasa vor einigen Jahren erinnert, als mich die Atmosphäre augenblicklich gefangen nahm. Plötzlich ist alles wieder präsent und ich weiß im Moment nicht, spüre ich Mombasa oder Porto Plata. Kleine Busse warten auf uns, die uns zum Hotel bringen. Ich schaue aus dem Wagen und sehe die unebene, von Palmen eingefasste Straße und die vielen schwarzen Menschen in ihren bunten Kleidern. Die Luft ist schon am Morgen schwül. Wie ich das liebe! Vor meinen Augen taucht klar und deutlich die Zeit in Kenia auf. Bei jedem Schlagloch erinnere ich mich an die unglaublichen Straßenverhältnisse im Norden Kenias. Alles dreht sich in meinem Kopf, aber ich fühle mich geborgen und glücklich, obwohl mir Tränen über die Wangen laufen. Meine Gefühle überschlagen sich und die verdrängte Vergangenheit holt mich schon in den ersten paar Minuten ein. Ich bin froh, dass nicht allzu viele Touristen im Bus sind, denn ich schäme mich meiner Tränen.

Napirai schaut aus dem Fenster und ist am meisten von den vielen Palmen beeindruckt. Bis zur Ankunft im Hotel hat sich meine Gefühlslage wieder beruhigt. Die Hotelanlage ist sehr schön. Sie liegt direkt am Meer und unser Zimmer ist groß, gemütlich und hell. Beim anschließenden Hotelempfang bemerke ich, dass nur wenige Familien mit Kindern da sind, dafür umso mehr verliebte Paare. Für Napirai gibt es einen Kinderclub und ich werde viel lesen und Briefe schreiben. Das Büffet ist ein Traum und wir probieren möglichst viele der exotischen Speisen aus. Die Angestellten des Hotels haben große Freude an Napirai und glauben, sie sei Dominikanerin. Ich werde gleich gefragt, ob wir hier ihren Vater besuchen, und muss über ihre enttäuschten Gesichter lachen, wenn ich sie aufkläre, dass Napirai aus Kenia stammt. Bereits nach zwei Tagen hat sie sich gut eingelebt. Mit zwei, drei anderen Kindern wirbelt sie durch das Hotel und bald sehe ich sie nur noch selten.

Einmal erzählt sie mir nach dem Abendessen, dass sie heute Mittag eine Frau mit ganz langen blonden Haaren kennen gelernt hätte, die sie mir unbedingt zeigen möchte, und hüpft schon wieder davon. Fünf Minuten später wird eine große blonde Frau von Napirai an meinen Tisch geführt. Andrea ist, wie ich erfahre, mit ihrem Freund hier und beide stammen aus Süddeutschland. Sie lädt mich ein, mich zu ihnen zu setzen, da sie eine kleine Gruppe verschiedener Paare seien und es sicher auch für mich unterhaltsam sei. Napirai ist von Andrea begeistert, schon allein wegen der langen blonden Haare, die sie ständig durch ihre kleinen braunen Finger gleiten lässt. Im Laufe des Urlaubs muss ich mir einige Male den sehnlichsten, aber unerfüllbaren Wunsch meiner Tochter anhören: »Mama, ich möchte auch solche Haare!« Von nun an unternehmen wir viel gemeinsam, denn Andreas Freund liest lieber stapelweise Hefte am Pool, als sich mit seiner netten Frau zu unterhalten. Ich kann das nicht verstehen und weiß nur, dass es besser ist, allein Ferien zu machen, als zu zweit allein zu sein. Wenngleich ich es in der ersten Woche sehr genieße, einfach nur herumzuhängen und zu faulenzen, werde ich in der zweiten Woche unruhig und würde gerne mehr unternehmen. Obwohl mich zu Beginn alles daran erinnerte, ist dieses Land mit Kenia nicht zu vergleichen. Kenia ist wilder, vielseitiger und vor allem tierreicher. Irgendwie vermisse ich Kenia und ziehe automatisch immer wieder Vergleiche. So bin ich nicht allzu traurig, als der Urlaub zu Ende geht.

Zu Hause gehe ich mit voller Energie meinem neuen Job nach. Die bedruckten und bestickten T-Shirts kommen überall gut an, sei es als Werbegeschenk oder als Uniform in verschiedenen Unternehmen. Mittlerweile ist der Boom so groß, dass viele Gastronomiebetriebe flippige T-Shirts und bestickte Mützen als Werbeträger sogar verkaufen können. Das Geschäft blüht und damit stimmt die Haushaltskasse. So kann ich einer Frau aus unserer Gruppe, die sich mit ihren zwei Kindern nicht einmal den Bus leisten kann, einen Hunderter zustecken, und durch meine Beziehungen bin ich auch in der Lage, der einen oder anderen Mutter eine bessere Arbeit zu verschaffen.

Ich lerne interessante Frauen kennen, mit denen ich mich häufig auch privat treffe. Eine von ihnen ist Hanni, die sich immer wieder meine Afrikageschichten anhört, während ich ihr die Kollektion zeige. Sie ist so begeistert von den Erzählungen, dass sie mir jedes Mal rät, mein Leben in Buchform zu fassen. Ich lache und sage: »Hanni, erstens kann ich das nicht und zweitens habe ich einen Vollzeitjob, und dazu noch eine Tochter und einen Haushalt.« Für mich ist das Thema damit erledigt, doch Hanni wird auch in den kommenden Monaten keine Ruhe mehr geben.

Mitte Februar 1994 erhalte ich erneut einen Brief aus Kenia. Voller Neugier öffne ich ihn und lese zuerst wie immer die lieben Grüße von der ganzen Familie. Dann schreibt James, dass er in Mombasa gewesen sei und Lketinga gefunden hätte. Er sei in einem sehr schlechten, abgemagerten Zustand gewesen und hätte viele Probleme gehabt. Er besitze kein Auto mehr, ja nicht einmal mehr ordentliche Kleider. Er, James, hätte ihm erst einmal welche kaufen müssen und habe ihn nun nach Hause begleitet. Jetzt sei er bei Mama. Lketinga wolle wieder heiraten, doch James denke nicht, dass das möglich sein wird, weil er für eine Heirat nicht genug besitzt. Weiter schreibt er, dass das monatliche Geld, das ich für Mama auf die Mission einbezahlt hatte, seit diesem Monat aufgebraucht sei. Mama wolle sich bei mir nochmals bedanken für die lang andauernde Unterstützung. Dann bittet er um einen erneuten Geldbetrag, da Mama Augenprobleme habe, die nur ein Arzt lösen kann. Er werde wieder schreiben, sobald es Neues zu berichten gäbe, speziell über Lketinga.

Ich bin beruhigt, dass Lketinga nun endlich, nach so langer Zeit, wieder zu Hause wohnt. Gleichzeitig bin ich traurig, dass nichts, aber auch gar nichts von dem einstigen Reichtum übrig geblieben ist. Trotzdem hoffe ich, dass er einen Weg finden wird, um wieder heiraten zu können. Komisch, denke ich, vor nicht einmal zwei Monaten wurde ich von Lketinga geschieden, nachdem ich über drei Jahre nichts mehr von ihm gehört hatte, und jetzt taucht er zu Hause auf und spricht seinerseits von Heirat. Wie seltsam das Schicksal doch ist!

Die Zeit vergeht wie im Flug. Die Wochenenden sind meistens für meine Freundinnen und ihre Kinder reserviert. Jetzt im Winter gehen wir öfter Schlittschuhlaufen oder an den Hängen am Dorfrand Schlitten fahren, was uns vor allem nachts großen Spaß macht. Danach sitzen wir alle in meiner warmen Wohnung und quatschen, während die Kinder am Boden spielen.

Eines Tages, es geht auf den Frühling zu, klingelt das Telefon und ich bin erstaunt, die Stimme von Andrea, der Deutschen mit den langen blonden Haaren, zu vernehmen. Im Urlaub tauscht man ja oft Adressen aus, wenn die Ferien dem Ende zugehen, aber in der Regel hört man dann nichts mehr voneinander. Andrea möchte uns nun besuchen. Napirai freut sich sehr. Bereits eine Woche später trifft sie bei uns ein, allerdings ohne ihren Lebenspartner. Wir tauschen Urlaubsfotos aus und erzählen einander viel. Dabei erfahre ich, dass sie in ihrer Beziehung nicht mehr recht glücklich ist, da ihr Freund nahezu keine Zeit für sie hat. Napirai schlägt vor, sie solle uns einfach mehr besuchen kommen. Sie werde ihr dafür wunderschöne Frisuren machen. Andrea ist zwar von dieser Aussicht nicht allzu sehr begeistert, doch verspricht sie ihr, bald wieder zu kommen. Bereits einige Wochen später löst sie dieses Versprechen ein, nachdem ich sie gefragt hatte, ob sie Lust und Zeit hätte, bei einer Geschäftseröffnung von Freunden, die auch gute Kunden sind, mitzuhelfen. Sie war sofort einverstanden und so bewältigen wir gemeinsam die Organisation einer gelungenen Unternehmung. Dieser Abend wird ihr Leben verändern, denn sie verliebt sich. Ein halbes Jahr später wird sie in die Schweiz ziehen und ein Jahr darauf verheiratet sein. Wir pflegen weiterhin eine gute Freundschaft, die später auch mein Leben nochmals drastisch verändern wird.

Anfang 1995 trifft ein erfreulicher Brief von James ein. Er schreibt, dass Lketinga eine junge Frau geheiratet hat, die auch gleich schwanger wurde. Über diese Neuigkeit bin ich überglücklich und sehr erleichtert, dass er wieder Vater werden wird. Seine Frau sei ein Mädchen, das nahe bei unserer Manyatta gewohnt habe. Er werde mir ein Bild schicken, sobald er die Möglichkeit hat, sich einen Fotoapparat zu borgen. Ich bin sehr gespannt, wer dieses Mädchen ist, denn wenn sie in unserer Nähe gelebt hat, werde ich sie sicher erkennen. Ich freue mich so sehr für Lketinga, dass ich umgehend einen Antwortbrief schreibe und auch Geld überweise, damit er sich eine Kuh für die Hochzeit kaufen kann. Wie das Kind der beiden wohl aussehen wird? Ob vielleicht eine Ähnlichkeit mit Napirai zu erkennen ist? Im Moment muss ich meine Neugier zügeln und mich in Geduld üben. Auch wenn es James gelingt, einen Fotoapparat zu organisieren, wird das Entwickeln weitere zwei Monate dauern.

Meine Arbeit macht immer noch viel Spaß, unter anderem auch deshalb, weil mein Umsatz nach wie vor erfreulich steigt. Allerdings bekommen wir im Verlauf des Frühlings einen neuen Mitarbeiter, der zur Unterstützung der Geschäftsleitung eingesetzt werden soll. Schon bei der ersten Begegnung merke ich, dass er ein völlig anderer Typ als mein jetziger Chef ist und ich kann mir nicht vorstellen, wie die beiden zusammenarbeiten sollen. Aber mir kann es egal sein, denn ich arbeite sozusagen selbstständig und bin selten im Betrieb. Ich habe andere Probleme, denn Napirai wird nach den Sommerferien in den Kindergarten gehen. Das bedeutet, dass ich einen neuen Betreuungsplatz suchen muss, weil ihre jetzige Tagesmutter nicht in unserer Gemeinde wohnt. Wieder haben wir großes Glück, denn meine Tochter kann bei einer Familie unterkommen, die sie bereits kennt. Die neuen Pflegeeltern haben vier eigene Kinder, ein Mädchen und drei Jungen. Auch hier dauert es nicht allzu lange, bis Napirai sich zu Hause fühlt, obwohl es am Anfang für sie eine große Umstellung ist, die Aufmerksamkeit mit so vielen anderen Kindern teilen zu müssen. Im selben Jahr ziehen auch meine Mutter und Hanspeter in unser Dorf.

Endlich kommt der große Tag, an dem Napirai zum ersten Mal in den Kindergarten geht. Stolz trägt sie ihr Täschchen und den Sicherheitsleuchtstreifen quer über der Brust. Im Kindergarten begrüßt uns eine ältere Dame, die sich als die Kindergärtnerin vorstellt. Etliche Eltern sind schon da. Als einzige Einelternfamilie werden wir eher von der Seite her beobachtet als offen empfangen. Vor allem Napirai wird von den Kindern ungeniert beäugt, was ihr mit einem Mal nicht geheuer ist. Auf jeden Fall möchte sie nicht, dass ich sie allein zurücklasse. Solch ein Verhalten ist eher ungewöhnlich bei ihr. Gott sei Dank legt sich diese Scheu in den folgenden Tagen. Es kommt jetzt öfter vor, dass sie gleich bei der Pflegefamilie oder bei meiner Mutter übernachten will, was mich dazu verleitet, häufiger auszugehen.

So manchen Abend bin ich mit Hanni unterwegs. Erst gehen wir essen und anschließend tanzen. Anscheinend kennt diese Frau Gott und die Welt. Wo wir auch hinkommen, trifft sie Leute und ich werde wie meistens als »die aus Afrika« vorgestellt, worauf natürlich gleich eine Menge Fragen gestellt werden. Auch fünf Jahre nach meiner Rückkehr ist das Interesse an meiner Liebesgeschichte nach wie vor ungebremst, und Hanni schimpft zum wiederholten Mal, ich solle endlich alles zu Papier bringen.

Ich will meine Geschichte aufschreiben

Ihre Sticheleien zeigen langsam Wirkung und immer öfter beschäftige ich mich mit der Idee, meine Geschichte aufzuschreiben. Zögernd nehme ich eines Abends einen karierten Schreibblock und einen Bleistift zur Hand und beginne, meine Gedanken neun Jahre zurückzuschicken. Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Partner Marco in Mombasa landete, um unseren Urlaub anzutreten, und wie mich diese Aura und die damit verbundenen Eindrücke sofort tief bewegten und ich das seltsame Gefühl hatte, als sei ich nach langer Zeit nach Hause gekommen. Ich konnte mir das zu diesem Zeitpunkt nicht erklären und so traf mich die erste Begegnung mit Lketinga tief bis in mein Innerstes und mein ganzes Lebensfundament stürzte innerhalb von Sekunden ein. Ich sah ihn, und mein bisheriges Leben existierte nicht mehr. Ja, ich sehe, spüre und rieche wieder alles, als geschähe es ein zweites Mal, und meine Hand fängt wie von selbst an, diese Eindrücke aufs Papier zu bringen. Wie ein Film läuft die Geschichte vor meinem inneren Auge ab und ich muss keine Minute überlegen, was ich schreiben soll. Es schreibt einfach! Ich merke nicht, wie die Zeit vergeht. Erst als die Finger schmerzen, schaue ich auf die Uhr und bin erschrocken, weil es schon weit nach Mitternacht ist. »Oh Gott, ich muss ins Bett. Morgen ist wieder ein arbeitsreicher Tag«, sage ich zu mir selbst und lege mich behutsam neben die schlafende Napirai. Im Bett finde ich keine Ruhe und in Gedanken schreibe ich noch weiter, bis ich endlich einschlafen kann.

Als ich am nächsten Tag nach der Arbeit meine Tochter abhole, lese ich meiner Mutter die ersten geschriebenen Seiten vor. Sie ist sehr überrascht, aber begeistert. »Willst du jetzt ein Buch schreiben?«, möchte sie wissen. Ich antworte: »Nein, nein, eigentlich möchte ich nur alles aufschreiben, damit Napirai später einmal erfährt, aus was für einer großen Liebe sie entstanden ist und warum ihre Eltern es dennoch nicht geschafft haben, zusammenzubleiben. Wenn mir etwas passieren sollte, könnte ihr niemand genaue Auskunft über ihre Herkunft geben.« Meine Mutter sucht gleich die Briefe, die ich ihr aus Afrika geschrieben habe, und gibt sie mir als Gedächtnisstütze mit.

Zu Hause bereite ich unser Abendessen vor und beschäftige mich anschließend mit Napirai. Um sieben Uhr geht sie zu Bett und ich erledige im Schnelldurchlauf meinen kleinen Haushalt. Dann endlich ist es so weit, dass ich Ruhe und Zeit habe, die am Vortag geschriebenen Seiten noch einmal durchzulesen. Innerhalb kürzester Zeit bin ich wieder in die Vergangenheit eingetaucht und schreibe automatisch weiter. Ich sehe Lketinga vor mir, während ich ihn als großen, schönen, sehr exotischen, fast femininen Mann mit sehnigem Muskelbau und wilden, glühenden Augen beschreibe. Das Licht der untergehenden Sonne verleiht seinem braunen Körper und seinem bemalten Gesicht mit den langen roten Haaren, die zu feinen Zöpfchen geflochten sind, einen besonderen Glanz. Sein langer Körper, nur mit einem roten Hüfttuch und ein paar farbigen Perlenketten bekleidet, wirkt schlicht und doch ergreifend schön. Aufs Neue empfinde ich die Bewunderung und die Anziehung, während ich meine Erinnerungen niederschreibe.

Plötzlich klingelt das Telefon. Aus der Vergangenheit aufgeschreckt, nehme ich den Hörer ab und melde mich ziemlich schroff. Es ist Madeleine, die fragt, ob sie mit einer Flasche Wein herüberkommen könne, um etwas zu besprechen. Normalerweise freue ich mich, doch jetzt möchte ich nicht in die Realität zurückgeholt werden. Schon höre ich Madeleine sagen: »Hey, Corinne, was ist los mit dir? Hast du Besuch und störe ich dich gerade?« Etwas beschämt über mein Verhalten sage ich: »Ja klar, komm rüber, ich muss dir auch etwas zeigen.« Kurz darauf klopft es an meiner Tür und Madeleine schlüpft strahlend mit einer Flasche Rotwein unterm Arm an mir vorbei ins Wohnzimmer. Auf ihre Frage, warum ich so zerstreut sei, hole ich die beschriebenen Blätter und beginne vorzulesen. Als ich fertig bin, ist sie fasziniert und meint: »Gut, wirklich gut! Aber wenn ich daran denke, wie viel Zeit du brauchen wirst, um das alles aufzuschreiben, werden wir wohl in Zukunft an den Abenden kürzer treten müssen. Auf jeden Fall bin ich gespannt, wie es weitergeht!«

Innerhalb der nächsten zwei, drei Monate verschlechtert sich in der Arbeit das Betriebsklima drastisch, so dass der »alte« Chef kündigt und die Firma verlässt, was viele, auch mich, verunsichert. Schon bald bläst ein anderer Wind im Betrieb. Einmal komme ich zur Sitzung und finde die Sekretärin vom Empfang in Tränen aufgelöst vor. Ein anderes Mal tobt ein lautes Wortgefecht. Mit den Bestellungen läuft auch nicht mehr alles rund und die ersten größeren Reklamationen seitens meiner Kundschaft treffen ein. Ich hoffe immer noch, dass sich die Lage wieder entspannen wird. Wichtiger allerdings ist mir zur Zeit mein abendliches Schreiben, das sich langsam fast zur Sucht entwickelt.

Ende August finde ich in der Post eine Einladung zu einem Klassentreffen im Oktober. Ich freue mich und bin neugierig, was aus all meinen Klassenkameraden und -kameradinnen geworden ist. Seit dem Ende der Schulzeit habe ich niemanden mehr gesehen. Besonders auf meine damalige Freundin Therese bin ich gespannt. Als ich bei dem Treffpunkt ankomme, sind schon viele ehemalige Mitschüler und Mitschülerinnen da. Dass ich zu Beginn kaum jemanden erkenne, ist mir fast peinlich. In meinem eleganten schwarzen Lederkostüm und mit den feuerroten Haaren komme ich mir ungebührlich auffallend vor. Die anderen erscheinen mir wesentlich dezenter. Nach dem Aperitif geht es zum Restaurant, wo gegessen werden soll. Es ist in Hufeisenform aufgedeckt, so dass sich die etwa 20 Teilnehmer anschauen können. Erst jetzt bemerke ich einen Neuankömmling. Das ist ja Markus! Er sitzt neben einer ehemaligen Lehrkraft. Wie schon früher in der Schule erheitert er mit seinen frechen Sprüchen die Runde und steckt alle mit seinem sonnigen, herzlichen Lachen an. Er hat sich zu einem attraktiven Mann entwickelt. Gefallen hat er mir allerdings schon in der dritten Klasse. Ich dagegen war ihm zu lang und zu dünn. Deshalb beantwortete er auch meine schwärmerischen Briefchen nicht, wie ich später erfuhr. Während des Essens unterhält er sich mit dem ehemaligen Lehrer provokativ über mein Aussehen und ruft für alle vernehmbar: »Corinne, so hättest du mir früher schon gefallen!« Worauf ich antworte: »Selber schuld, du hattest deine Chance vor 25 Jahren!« Viele lachen, einige verstehen den Witz nicht. Leider taucht meine ehemalige Freundin Therese nicht auf. Auch einige andere, die mich interessiert hätten, sind nicht gekommen. Nach dem Essen bilden sich schnell ein paar Grüppchen und es wird diskutiert, gelacht und getrunken. Markus ist der Mittelpunkt bei den Frauen. Er sieht sehr gut aus und hat eine witzige und dabei intelligente Art zu unterhalten. Auch ich lausche gespannt seinen Erzählungen. Er betreibt ein Ingenieurbüro, ist verheiratet und Vater von zwei Mädchen. Ein richtiger Musterehemann, denke ich und beneide fast ein wenig die mir unbekannte Frau, die mit solch einem Mann zusammen durchs Leben gehen kann. An diesem Abend entsteht in mir die Vorstellung, dass mein nächster Partner genauso fröhlich-strahlend, gut aussehend und selbstsicher sein sollte. Wäre er nicht verheiratet, würde ich ihm offen meine Bewunderung mitteilen. So aber verlieren wir uns aus den Augen. Noch lange nach dem Klassentreffen schwärme ich meinen Freundinnen von dieser Begegnung vor.

Napirai hat sich im Kindergarten und in der Pflegefamilie prächtig eingelebt. Sie ist ein aufgewecktes, selbstständiges, aber dennoch sehr anhängliches Mädchen. Ihre dünnen langen Beine und Arme schlingt sie öfters um mich, wenn ich sie am Abend nach Hause hole. Sie ist mein Sonnenschein und ganzer Lebensinhalt.

Langsam bereitet mir das Arbeiten Mühe, da nichts mehr richtig funktioniert. Mittlerweile haben wir häufigen Personalwechsel. Zum einen werden viele Mitarbeiter entlassen, zum anderen gehen einige, durch das Arbeitsklima mit den Nerven am Ende, von selbst. Auch ich mache mir so meine Gedanken, wie es weitergehen soll. Jetzt bin ich schon drei Jahre in dieser Firma und habe mir eine gute Kundschaft aufgebaut. Mit dem Gehalt kann ich jährlich mit meiner Tochter in Urlaub fahren und habe insgesamt einen angenehmen Lebensstandard.

Nach den Weihnachtsfeiertagen beginne ich die Arbeit eher lustlos und mit einem komischen Gefühl im Bauch. Wie üblich nach dem Jahreswechsel fahre ich zuerst in die Firma, um allen Mitarbeitern ein gutes Neues Jahr zu wünschen und um zu besprechen, was wir in Zukunft planen. Schon beim Betreten des Gebäudes merke ich, dass etwas nicht stimmt. Der Chef ruft alle vom Außendienst zu einer Sitzung zusammen und erklärt uns, dass es mit der Firma schlecht stehe, es würden Stellen abgebaut und davon sei auch der gesamte Außendienst betroffen. Ich sitze da, als hätte er mir eine Ohrfeige verpasst. Noch kein Jahr ist er im Amt und schon ist die Firma ruiniert und unsere Arbeitsplätze sind weg. Ich frage nach, wie er sich vorstelle, wieder zu neuen Aufträgen zu kommen ohne Außendienstmitarbeiter. Da antwortet er ganz unverfroren, er werde die größeren Kunden nun selbst weiterbetreuen. Die Kleinkunden müssten sich eben anpassen und in der Firma vorbeikommen. So einfach macht er sich das! Ich bin schockiert.

Immerhin kann ich noch so weit klar denken, um so ruhig wie möglich über meine Kündigungszeit zu sprechen. Ich schlage vor, dass ich bereits vereinbarte Termine noch wahrnehme, aber keine neuen Geschäfte mehr angehe, während die Firma mir für die dreimonatige Kündigungsfrist mein Grundgehalt auszahlt, da es nichts Schlimmeres in dieser Situation gibt, als ohne Überzeugung verkaufen zu müssen. Am Ende sind wir wohl beide froh, uns gütlich getrennt zu haben.

Auf dem Heimweg fahre ich wie betäubt durch die Gegend. Ich kann nicht glauben, wie schnell sich das Blatt in der Firma gewendet hat. Ob ich genügend Kraft und Lust haben werde, ein viertes Mal von vorne zu beginnen, weiß ich im Moment nicht. Da ich das starke Bedürfnis habe, mit jemandem Vertrauten meine Lage zu besprechen, besuche ich unterwegs meine Freundin Anneliese. Sie ist diejenige, die netterweise meine handgeschriebenen Manuskriptseiten in den Computer tippt und immer ungeduldig auf Nachschub wartet. Aber auch nach diesem Besuch fühle ich mich müde und orientierungslos und fahre deshalb zu meiner Mutter, die sich ebenfalls mein Schicksal anhören muss. Sie macht ein bekümmertes Gesicht, gibt jedoch zu bedenken: »Bis jetzt hast du doch immer so viel Glück gehabt. Du schaffst das schon wieder und hast sicher schnell einen neuen Job! Lass dich nicht entmutigen!« Zum ersten Mal bin ich mir darüber nicht mehr so sicher und langsam kommt es mir vor, als würde ich jedes Mal um die Früchte meiner Arbeit betrogen.

In den folgenden Tagen nehme ich das Arbeiten lockerer und bin um jeden abgehakten Termin froh. Bei einigen Kunden gehe ich persönlich vorbei, um mich zu verabschieden. Viele sind enttäuscht über die Situation und kündigen an, ohne meine Betreuung nichts mehr zu bestellen. Inzwischen bemühe ich mich bereits um eine neue Arbeit und studiere die Stelleninserate, finde aber nichts auch nur annähernd Passendes. So vergehen die restlichen Tage wie im Flug und plötzlich stehe ich ohne Job da. Ich hätte nie geglaubt, dass mir so etwas in der Schweiz passieren könnte. Nun bleibt mir nach sechs Jahren Vollzeitarbeit erstmals keine andere Wahl, als mich arbeitslos zu melden. Der Gang zur Gemeinde fällt mir sehr schwer. Doch entgegen allen Vorurteilen werde ich zumindest höflich und nett behandelt. Ich erfahre, dass ich zuerst eine Frist abzuwarten habe, bevor ich Ende des zweiten Monats 80 Prozent meines durchschnittlichen Verdienstes bekomme. Der Spesenzuschuss für mein Auto wird dabei nicht anerkannt und so belastet mich mein Leasingvertrag zusätzlich. Aber irgendwie wird es schon gehen, denn ich kann meine Ansprüche reduzieren. Noch bin ich überzeugt, schnell wieder Arbeit zu finden, obwohl ich keine genaue Vorstellung habe, welcher Art sie sein könnte. Es ist wie verhext, denn der Arbeitsmarkt scheint zur Zeit wie ausgetrocknet. Auch ein erneutes Inserat bringt keinen Erfolg, dafür aber beträchtliche Ausgaben.

Nachdem ich den ersten Schock überwunden und falsche Hemmungen abgelegt habe, genieße ich die neu gewonnene Freizeit mit Napirai. Mittags koche ich mit viel Liebe für uns und erfahre endlich aus erster Hand die Vorkommnisse und Geschichten aus dem Kindergarten. Vorher hatte ich die großen und kleinen Aufregungen, wenn überhaupt, nur über die Tagesmutter mitbekommen. Diesen Kontakt lassen wir auf keinen Fall abbrechen. Wenn ich Vorstellungsgespräche habe, verbringt Napirai nach wie vor die Zeit bei ihr, denn ich rechne mit einer baldigen Anstellung. Nach zweimonatiger Arbeitslosigkeit jedoch schwinden meine Hoffnungen und ich spüre deutliche Anzeichen von Mutlosigkeit.

In dieser Zeit gibt mir eine Freundin die Adresse einer Kartenlegerin. Obwohl ich davon nicht wirklich überzeugt bin und mir diese zusätzliche Ausgabe eigentlich nicht leisten kann, gehe ich zu ihr, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis über meine berufliche Zukunft zu bekommen. Sie ist etwa 70 Jahre alt und lebt in einem kleinen, alten Haus. Der ganze Garten und alle Fenstersimse sind mit Zwergen dekoriert. Bei diesem Anblick muss ich schmunzeln und trete in gebückter Haltung in das niedrige Wohnzimmer, das mit Fotos, künstlichen Blumen und sonstigem Kitsch überladen ist. Ich setze mich der alten Frau gegenüber an den Stubentisch und bin sehr neugierig, was nun geschehen wird. Zwar bin ich durchaus skeptisch, doch ohne es auszuprobieren, möchte ich das Ganze nicht verurteilen. Während ich die Karten ziehe, setzt sich eine rötliche Katze auf meinen Schoß, und ich habe nun wirklich den Eindruck, in einem Hexenhäuschen zu sitzen. Ich ziehe Karten, eine um die andere, und die Frau beginnt mit der Deutung. Ohne dass ich ihr etwas erzählt hätte, stellt sie als Erstes fest, dass ich wohl mit einem Kind alleine lebe und dies auch noch länger so bleiben wird. Na ja, wegen der Liebe bin ich ja auch nicht gekommen. Ich will wissen, wie es mit einer Arbeit weitergeht und in welche Richtung. Sie schaut immer wieder auf die Karten und bemerkt sachlich, aber doch erstaunt, dass ich eine verrückte Vergangenheit im Ausland gehabt haben muss, die mich bis heute außergewöhnlich stark beschäftigt. Sie schaut mich an und fragt, ob ich viele Briefe schreibe oder auf andere Weise mit der Vergangenheit nicht abschließen könne. Ich antworte kurz, dass ich gerade dabei sei, mein Leben, das ich mit dem Vater meiner Tochter in Afrika geführt habe, aufzuschreiben. »Möchten Sie denn ein Buch schreiben?«

»Ja, aber ob ich es veröffentlichen will, weiß ich noch nicht«, antworte ich ehrlich. Sie hört, wie mir scheint, nicht sehr interessiert zu, sondern mischt noch einmal die Karten, worauf ich wieder welche ziehen soll. Nun wird sie lebendig und meint: »Ich kann nur sagen, machen Sie unbedingt weiter so! Das wird ein großer Erfolg werden, ja, ich sehe sogar, weit über unsere Schweizer Grenzen hinaus!« Lachend wende ich ein: »Ja, ja, kann schon sein, aber das ist noch ein langer Weg. Wie sieht es denn mit einem greifbaren Job in unmittelbarer Zukunft aus?«

»Es wird alles gut werden«, erwidert sie, »nur dürfen Sie nichts überstürzen und müssen etwas Geduld haben.«


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