Текст книги "Zurück aus Afrika"
Автор книги: Corinne Hofmann
Жанр:
Биографии и мемуары
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Das Telefonat hat mir viel Kraft gegeben. Endlich kann ich wieder lachen. Selbst der Führer merkt, dass es mir seelisch viel besser geht. Pessimistische und depressive Phasen sind mir eigentlich fremd. Mir ist auch nicht klar, was die Ursache war: Die ungewohnte Höhe, die Tabletten gegen die Menstruation oder gegen die Malaria oder einfach diese ganze komische Gruppensituation. Nur beim Abendessen kann ich noch nicht mit Appetit zulangen, obwohl ich auch diesmal staune, was die Köche auf den Tisch zaubern: Von einer köstlichen Tomatensuppe bis hin zu Pasta mit frischem Gemüse oder wunderbarem Curryreis mit Fleisch. Ich habe nur ein großes Verlangen nach rohen Karotten und bekomme diese auch sofort mit Orangenscheiben liebevoll dekoriert. Beim Essen erklärt uns Franz, falls es ihm bis morgen gesundheitlich nicht besser gehe, denke er daran, die Tour zu beenden. Er merke beim Marschieren, dass seine Beine immer wackliger werden. Heute sei er schon des Öfteren über Steine gestolpert. Wir würden es alle bedauern, denn er und sein Sohn geben immer wieder Anlass zum Schmunzeln. Nach einem erneuten Klogang erklärt das junge Paar, sie würden sich nie an diese Art von Toiletten gewöhnen. Der Rentner schreibt mehr Tagebuch, als dass er sich an einer Konversation beteiligt. Immerhin habe ich erfahren, dass er ein pensionierter Zahnarzt ist. Ich vermute, das ist der Grund für seine Aversion gegen mich. Vielleicht riecht er ja die frühere Vertreterin an mir.
Einer der Hilfsführer erwähnt die Möglichkeit, die Route etwas abzukürzen, um unsere Chance zu erhöhen, auf den Gipfel zu gelangen. Das setzt allerdings voraus, dass wir übermorgen statt zur Kibohütte ins Barafu Camp marschieren. Wir würden dadurch Kräfte sparen und könnten uns schon am Nachmittag ausruhen. Der Nachteil wäre nur, dass wir den Gilmans Point, der schon als Besteigung gilt, nicht passieren könnten. Wenn wir ein Foto und ein Zertifikat wünschten, wäre dies nur auf dem direkten Weg zum Uhuru Peak möglich. Alle sind mit diesem Vorschlag einverstanden, außer mir. Ich hätte schon gerne ein Foto und Zertifikat und glaube auch, dass ich bis zum Gilmans Point durchkäme, aber für einen weiteren Aufstieg wage ich noch keine Prognose. Wir diskutieren hin und her und schließlich bleibt es vorläufig bei unserer gebuchten Route. Die letzte Möglichkeit dies zu ändern besteht morgen Abend. Ich brauche noch Bedenkzeit. Alle kriechen in ihre Zelte und warten auf den erlösenden Schlaf.
Schon vor sechs Uhr bin ich wach. Draußen ist es klar und der Kilimandscharo-Gipfel scheint zum Greifen nahe. Wir befinden uns direkt darunter. Wieder habe ich den Eindruck, als sei Farbe oder Milch über den Kopf des Berges geschüttet worden. Er sieht so ganz und gar anders aus als unsere Schweizer Schnee– und Gletscherberge. Wahrscheinlich liegt es daran, dass er ein Vulkan ist. Heute fühle ich mich stark und ausgeruht und freue mich richtig aufs Weiterwandern. Wieder steht ein Akklimatisationstag bevor und deshalb werden wir durch verschiedene kleinere Täler hinauf– und hinuntersteigen. Beim Frühstück teilt uns Franz endgültig mit, dass er, begleitet von einem Hilfsführer, umkehren wird. Er hat gemerkt, dass der Gipfel für ihn nicht zu erreichen ist, und möchte nichts mehr riskieren. Er will in unsere Ankunftslodge zurückkehren und eventuell eine Safari zum Ngorongoro Krater buchen. Für seinen Sohn Hans ergibt sich daraus der Vorteil, dass er nun zwei Schlafsäcke zur Verfügung hat und so die Nächte besser durchstehen kann. Vor unserem Abmarsch machen wir noch ein letztes gemeinsames Foto mit der gesamten Mannschaft, da nun auch von den Führern ein Teil zurückgehen muss.
Wir marschieren los und lassen die letzten palmenartigen Senecien hinter uns. Schon bald führt der Weg in die Felsen hinein und wir klettern zum Teil mit Händen und Füßen langsam nach oben. Die Stöcke sind wieder einmal eher hinderlich. Ansonsten gefällt mir diese Kraxelei sehr gut, weil es eine schöne Abwechslung ist. Nun habe ich auch keine Zeit mehr, ständig in mich hineinzuhören, ob es mir noch gut geht. Wieder zieht die Trägerkolonne an uns vorbei. Heute staune ich noch mehr über ihre Künste, wie sie sich, die schweren Lasten auf dem Kopf balancierend, geschickt in diesem steilen und felsigen Gelände bewegen. Sie können, im Gegensatz zu uns, die Hände nicht zur Hilfe nehmen, da sie damit ihre Körbe, Taschen oder Pfannen festhalten. Außerdem sind sie fast doppelt so schnell wie wir. Wir lassen sie passieren und ich studiere ihre Ausrüstung. Einige haben viel zu große Schuhe an den Füßen und andere offene Schuhbänder. Am Rucksack haben sie die rohen Eier in einem dünnen Pappkarton befestigt. Damit müssen sie sich durch Felsen zwängen, durch die wir kaum mit unserem Tagesrucksack passen. Ich möchte nicht wissen, was ihnen geschähe, wenn die Eier im Camp kaputt eintreffen würden. Bei diesen Gedanken steht für mich fest, dass ich allen Trägern zusätzlich ein schönes Trinkgeld geben werde. Sie sind für mich die wahren Helden am Kilimandscharo.
Nach einer längeren Pause auf einer Anhöhe von 4.250 Meter geht es nach einer kurzen Geraden in ein Tal hinunter und auf der anderen Seite erneut hoch. Dies wiederholt sich noch einige Male. Hans und mir gefällt es sehr gut und wir sind voller Tatendrang. Die anderen sind nach einiger Zeit etwas enttäuscht, weil sie nicht auf diese vielen Auf– und Abstiege eingestellt waren. Ab und zu unterhalte ich mich mit Hans. Er will immer noch nicht begreifen, warum sein Vater die Gruppe verlassen hat. Etwas vorwurfsvoll sagt er: »Schließlich waren es ja seine Idee und seine Besessenheit, diesen Berg zu besteigen. Und weil er niemand anderen begeistern konnte, musste ich, der Sohn, unbedingt mit. Nun quäle ich mich auf einen fast 6.000 Meter hohen Berg, auf den ich nie wollte, während mein Vater locker zu einer Safari fährt.« Über seine trockene, nüchterne Art muss ich immer wieder lachen. Seit er ebenfalls allein ist, kommen wir häufiger ins Gespräch.
Nach guten viereinhalb Stunden Laufzeit erreichen wir das Karanga Camp gerade noch rechtzeitig, um uns vor dem ersten richtigen Regenschauer in unsere Zelte zu flüchten. Das Wetter wechselt hier oben ständig. Einmal ist es richtig warm und kurz darauf ziehen Nebel auf und man ist froh, noch eine Jacke oder einen Pulli dabei zu haben. Vom Kilimandscharo sehen wir im Moment nichts, er bleibt im Nebel und Regen versteckt. Die Trägermannschaft verkriecht sich ins Essens– und Küchenzelt. Ich freue mich, dass ich wieder eine Handy-Verbindung zur Schweiz habe, und sende einige SMS an Napirai und Markus, die freudig und erleichtert beantwortet werden. Da noch viel Zeit bis zum Abendbrot bleibt, beginne ich ein Buch zu lesen, das mir meine Mutter mitgegeben hat. Es fesselt mich vom ersten Moment an. Darin beschreibt eine Frau, wie sie mit dem Fahrrad durch China, Nepal und Indien gereist ist. Sie fuhr unter anderem auf über 5.000 Meter hohe Berge, wobei ihr Rad in Schnee und Eis eingefroren ist. Während ich die Bilder betrachte, wächst in mir die Sicherheit, dass unser Ziel wesentlich leichter zu erreichen sein sollte. Nach zwei Stunden krieche ich aus dem Zelt und freue mich, dass die Sonne wieder scheint. Die Mannschaft wäscht sich in der Abendsonne. Dafür warten wir heute vergeblich auf unser Waschwasser. Ich behelfe mich mit Feuchtigkeitstüchern und kann mir das Erfrischungsspray von Petra ausleihen. Ihre Ausrüstung die Hygiene betreffend ist wirklich erstaunlich. Dafür habe ich allerdings einige schwarze Ränder unter den langen Fingernägeln, die sich mit dem spärlichen Wasser eben nicht besser pflegen lassen. Überhaupt sehen meine Hände mit den zum Teil abgebrochenen Fingernägeln aus, als hätte ich, wie damals in Barsaloi, Kochtöpfe ausgekratzt.
Nachdem die Sonne scheint, taucht auch der Kilimandscharo wieder aus dem Nebel auf. Hans und ich nutzen die Gelegenheit und wir machen von uns gegenseitig ein paar schöne Fotos mit dem eindrucksvollen Berg im Hintergrund. Wieder frage ich mich, ob überhaupt jemand und wer von uns da oben ankommen wird. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass ich doch mit der Routenänderung einverstanden sein sollte. Ich möchte nicht, dass meinetwegen vielleicht jemand nicht auf dem Gipfel ankommt. Zudem wäre es dann für mich ein »Muss«, bis zum Uhuru Peak durchzuhalten. Beim Essen gebe ich meine Zustimmung bekannt und sofort sind alle erfreut. Am glücklichsten sind, wie ich später von einem Hilfsführer höre, die Träger, da sie unsere Lasten weniger weit schleppen müssen.
Am nächsten Morgen stehen wir bei schönstem Sonnenschein auf. Der Kilimandscharo ist in der Nacht, wie mir scheint, noch näher gerückt. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir noch fast 2.000 Höhenmeter vom Gipfel getrennt sind. Zum Frühstück gibt es unter anderem wieder herrliche Pfannkuchen, getoastete Brotscheiben und Wassermelone. Ich esse viel, weil ich endlich wieder richtig Hunger verspüre. Außerdem liegen ein anstrengender Tag und die Nacht, in der der Gipfelsturm vorgesehen ist, vor uns.
Bis zum Barafu Camp sind etwa 600 Höhenmeter zu überwinden. Zu Beginn geht es gemächlich los. Hier enden allmählich die letzten Pflanzenspuren und wir wandern nur noch durch Lavasteine unterschiedlichster Größe. Einzelne Wegabschnitte sehen wie angehäufte grau-schwarze Tonscherben aus. Alles Leben scheint hier oben abgestorben zu sein, wie in einer Mondlandschaft. Nur zwei Mal beobachte ich, wie sich eine kleine schwarze Spinne vor unseren Füßen in Sicherheit bringt. In weiter Ferne sehen wir die Träger die letzte Anhöhe vor unserem angestrebten Camp aufsteigen. Mir schwant Böses. Tatsächlich gibt uns der letzte, sehr steile Aufstieg einen Vorgeschmack auf die heutige Nacht! Immer wieder müssen wir Pausen einlegen, wenn wir das Gefühl haben, dass nichts mehr geht. Ich bin froh, permanent an meinem Trinkschlauch saugen zu können, um wenigstens gegen das Durstgefühl anzugehen. Mit enormem Energieverbrauch schleppen wir uns nach drei Marschstunden und guten 600 überwundenen Höhenmetern in das auf 4.540 Meter gelegene Camp. Es ist das steinigste, windigste und vor allem auch das dreckigste von allen. Die Träger haben unsere Zelte zu weit unten aufgestellt und springen nun vor uns her, um die neuen Plätze vor unserer Ankunft hergerichtet zu haben. Mir ist nicht klar, wie die Männer es schaffen, in dieser Höhe noch von Stein zu Stein zu hüpfen, während sie das aufgespannte Igluzelt, gegen den Wind ankämpfend, vor sich hertragen. Erschöpft stapfen wir zu unseren Plätzen, um neben dem Zelt ausruhen zu können. Im Lager befinden sich die Leute, die heute früh vom Gipfel zurückgekommen sind. Ein sportliches Paar sitzt völlig fertig auf einem Felsen. Ich frage nach, wie es ihnen ergangen ist und ob sie oben waren. Als Antwort erhalte ich nur ein Nicken und die Worte: »Sehr anstrengend.« Dann entdecken wir noch einen älteren Herrn, der erst jetzt, also kurz vor halb eins, von oben heruntergetorkelt kommt. Bei uns in der Schweiz würde man bei einem solchen Anblick sagen: »Der geht auf dem Zahnfleisch.«
Die Attraktion in diesem Camp ist das Toilettenhäuschen. Es steht über einem endlosen Abgrund. Zudem sieht es wackelig und verwittert aus und wirkt nicht gerade Vertrauen erweckend. Darüber kreisen riesige schwarze Bergdohlen, die das Häuschen nicht aus den Augen lassen. Das Ganze erklärt wohl, warum die Gegend hier so verschmutzt ist. Auch die zwei Hütten, die zum Übernachten dienen, passen überhaupt nicht in diese Mondlandschaft. Sie sehen aus wie zwei grüne Blechdosen. Immerhin kann ich hier für nur zwei Dollar eine Coca Cola kaufen und lasse sie mir reservieren, um sie nach dem Gipfelsturm sozusagen als Champagner zu mir zu nehmen. Danach treffe ich auf eine Frau, die gerade aus ihrem Zelt kriecht. Auch sie frage ich nach ihrem Gipfelerlebnis. Sie hat es nicht geschafft und hat diesem »blöden Berg«, wie sie sagt, auf 5.100 Meter den Rücken gekehrt. Sie hat nicht eingesehen, warum sie sich noch weiterquälen soll, zumal ihr das Trinkwasser, obwohl warm verpackt, eingefroren ist. Die Berichte sind nicht gerade aufmunternd.
Hans stellt zum wiederholten Mal fest, dass seine Ausrüstung nicht den Anforderungen genügt. Er besitzt keine Thermosflasche und weiß nun, dass auch der heißeste Tee nach ein paar Stunden eingefroren sein wird. Da der Rentner, der früher bereits zwei Mal auf dem Gipfel war, das nächtliche Spektakel nun doch nicht mehr mitmachen möchte, kann Hans zumindest seinen Wärme haltenden Flaschenüberzug benutzen. Er bekommt auch den Höhenmesser, damit wir uns in der Nacht orientieren können.
Beim Mittagessen verzehre ich die Spaghetti mit großem Appetit. Kam ich vor einer Stunde noch völlig erschöpft hier an, so habe ich mich nach ein paar Minuten in der Sonne erstaunlich schnell erholt. Am Tisch wird natürlich nur von dem bevorstehenden Aufstieg gesprochen. Alle sind wir etwas nervös, zumal die Auskünfte der Absteigenden nicht sehr ermutigend waren. Um Mitternacht soll es losgehen, also bleiben uns geschlagene zehn Stunden, die wir in dieser unwirtlichen Gegend hinter uns bringen müssen. Einige von uns nutzen den Nachmittag, um zu schlafen. Der Rentner steigt noch etwas höher hinauf und ich lese in meinem spannenden Buch weiter. Je mehr ich lese, umso ruhiger werde ich. Ich staune über die mutige Frau und ihre Erlebnisse und gleichzeitig erinnere ich mich an meine zum Teil sehr harte Zeit in Afrika. Was habe ich nicht alles unternommen und welch strapaziöse Fahrten in Kauf genommen, genau wie diese Frau in Nepal. Vielleicht wird man erst in solchen Ländern so stark, weil man sonst nicht den Hauch einer Chance hat, ans Ziel zu kommen. Während des Lesens verstärkt sich immer mehr die Gewissheit, dass ich heute Nacht den Uhuru Peak erreichen könnte. Diese Erkenntnis beruhigt mich sehr.
Die Zeit schleicht langsam dahin. Ich warte schon wieder auf das Abendessen, das heute eine Stunde früher serviert wird, damit wir noch Zeit zum Schlafen haben. Im Camp ist es ruhig geworden, da die meisten Leute weiter nach unten marschiert sind. Außer uns warten nur noch zwei kleinere Gruppen auf den Nachtmarsch. Endlich ist es so weit, dass wir die letzte Stärkung zu uns nehmen können. Hans meint trocken: »Kommt mir vor wie die Henkersmahlzeit.« Stunden später werden wir wissen, wie nahe an der Wirklichkeit er mit seiner Vermutung lag. Es werden köstlich gebratene Hühnerbeine und Kartoffelsalat serviert. Mit großem Hunger esse ich alles, was angeboten wird. Der Führer gibt uns die letzten Anweisungen, wobei er uns ermahnt, alles, was wärmt, anzuziehen, denn es werde sehr kalt sein. Ich kann mir kaum vorstellen, mit so vielen Pullovern, Jacken und der zusätzlichen extrawarmen Unterwäsche loszumarschieren, da ich normalerweise schnell schwitze. Doch ich befolge den Rat und bin Stunden später dankbar dafür.
Ich liege im Zelt und lese noch ein wenig. Zwischendurch mache ich mir bereits Gedanken, wie viel Trinkgeld ich den Trägern am Ende geben werde. Außerdem möchte ich ein paar Worte an sie richten und überlege, was passend sein könnte. Gegen neun Uhr höre ich Wind aufkommen, doch langsam werde ich müde und döse wohl kurz ein. Um viertel nach elf werden wir geweckt. Ich ziehe mir schnell die restlichen Kleider an, die sich zum Wärmen im Schlafsack befinden. In die Wanderschuhe puste ich ein paar Mal meinen warmen Atem hinein, damit sie nicht ganz so kalt sind. Dann werden Mütze und Handschuhe angezogen, die Stirnlampe umgebunden und schon bin ich bereit. In meinem Tagesrucksack befinden sich mein Fotoapparat, zwei Thermosflaschen mit Flüssigkeit, ein paar Trockenfrüchte und zwei Scheiben Vollkornbrot. Auch meine Regenhose bleibt vorläufig im Rucksack.
Bevor es nun endlich ins Ungewisse losgeht, treffen wir uns alle zu einem wärmenden Tee. Wir Frauen müssen als Erste direkt hinter dem Führer gehen. Petras Stirnlampe funktioniert nach kurzer Zeit kaum noch, also bleibe ich hinter dem Führer. Wir marschieren sehr langsam. Sehen können wir nur, was gerade vor unseren Füßen liegt. Von Anfang an ist der Weg sehr steil. Obwohl der Wind heftig an den Kleidern zerrt, muss ich nach einer halben Stunde bereits eine Jacke und einen Pullover ausziehen. Ich habe Durst, mir fehlt die ständige Trinkmöglichkeit mit dem Schlauch. Heute Nacht habe ich ihn nicht dabei, denn er würde einfrieren. Es geht weiter, doch es ist sehr anstrengend. Hans hat Kopfschmerzen. Bald muss ich anhalten und meine Kleider wieder anziehen, weil der Wind zugenommen hat. Es wird rapide kühler. Nach einer oder auch zwei Stunden, so genau weiß man das nicht, fragt sich jeder von uns, warum er hier ist. Wegen des Windes höre ich nicht viel von meinen Mitstreitern hinter mir. Nur ab und zu ertönt ein »Scheiße«. Vor uns geht eine andere kleine Gruppe. Wenn ich nach oben schaue, wird mir fast schlecht. So weit ich sehen kann, erkenne ich nur den schwarzen Berg. Von einem Ziel ist nichts zu sehen, dafür wird es immer steiler und die Serpentinen immer enger. Da der Wind zunimmt, wird es noch kälter, meine Finger frieren fast ein. Überall erkenne ich herumliegende Papierfetzen oder laufe an Erbrochenem vorbei. Eine Frau kommt uns entgegen. Sie ist auf dem Rückweg. Ihre Bergkleidung scheint mir den Temperaturen schlecht angepasst zu sein und auch der Teddybär-Rucksack auf ihrem Rücken kommt mir fehl am Platz vor. In immer kürzeren Abständen werden Pausen gemacht, wobei ich mich jedes Mal sofort hinsetzen muss. Doch es wird noch schlimmer. Je höher wir kommen, desto schwerer wird das Atmen. Petra geht es nicht gut und sie hat Durchfall. Ich frage mich erneut, was ich hier am Berg eigentlich zu suchen habe. Die Stimmung ist sehr schlecht. Petra möchte anscheinend umkehren, doch kann sie vom Hilfsführer noch einmal motiviert werden. Wir stapfen Schritt um Schritt weiter. Hans schaut auf seinen Höhenmesser. Seine Auskunft, dass wir noch nicht einmal bei 5.000 Meter angekommen sind, ist äußerst deprimierend. Es wird immer kälter und windiger. Ich presse die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen, damit sie nicht tränen. Der Nachteil ist, dass ich mich müder fühle und die Augen am liebsten gar nicht mehr öffnen möchte. Ich schleppe mich weiter. Der Führer sucht immer wieder nach dem Weg. Mein ganzes Denken dreht sich nur noch darum, wie schlecht und total entkräftet ich mich fühle. Der Führer sagt uns: »Denkt nicht an den Berg! Ihr müsst euren Kopf frei machen vom Berg! Denkt an zu Hause in Deutschland oder sonst wo!« Ich versuche es und sehe das Bild meiner Tochter vor meinen Augen. Plötzlich höre ich eine mir fremde Stimme ihren Namen rufen, nein stöhnen. Immer wieder vernehme ich: »Napirai, Naaapirai.« Dann realisiere ich, dass ich es bin, die so laut vor sich hinstöhnt. Meine Stimme ist mir fremd und viel zu dunkel. Ich muss mich hinsetzen und sofort Tee trinken. Ich habe das Gefühl, ich verdurste. Petra und ihr Lebensgefährte wollen nicht mehr weiter. Sie friert schrecklich und sitzt mit einem Heulkrampf am Boden. Der Wind bläst fürchterlich und wir bringen kaum die Augen auf. Die Führer raten ihr, ihre Regenhose überzuziehen. Doch sie macht keine Bewegung mehr und möchte nur noch hinunter. Ihr Partner und zwei der Hilfsführer ziehen ihr die zusätzlichen Hosen über, bevor sie sich mit ihr auf den Rückweg begeben. Hans hat in der Zwischenzeit hinter einen Stein gekotzt. Eigentlich wollte er auch zurück, ist aber nun dank des vom Führer gereichten Tees soweit wieder in Ordnung. Wir sind gerade mal knapp auf 5.200 Höhenmeter. Das bedeutet, wir haben erst die Hälfte geschafft und haben noch 695 Höhenmeter vor uns. Ich weiß nicht, wie ich die noch erklimmen soll. Aber hier möchte ich nicht umkehren! Der Führer, Hans und ich gehen weiter. Hans schwankt bedenklich. Wir kämpfen um jeden Meter. Mittlerweile schleppe ich mich mehr, auf die Stöcke gestützt, mit den Armen nach oben, als dass ich noch kräftig laufen könnte. Nach jeweils 20 Schritten muss ich pausieren, sonst falle ich fast um. Ich bin dann so erschöpft, dass ich keinen Schritt mehr machen kann. Doch nach zwei oder drei Minuten bin ich für einen kurzen Moment wieder fit. Auch mein Verstand ist dann völlig klar. Wenn wir jedoch weiterstapfen, ist die Energie nach ein paar Schritten erneut zu Ende. Immer häufiger höre ich mich mit der mir fremden Stimme stöhnen. Ich kann es nicht beeinflussen. Je schwächer ich werde, desto lauter ist mein Singsang. Einmal stöhne ich »Mama«, ein anderes Mal rufe ich nach Napirai oder meinem Schatz. Dann versuche ich, die Schritte zu zählen oder klopfe nach jedem Schritt die Schuhe gegeneinander. Einfach etwas machen, das ablenkt! Ansonsten ist man nur mit seinem schlechten und erschöpften Zustand beschäftigt.
Wir sind nun sicher schon fünf Stunden am Steigen und immer noch ist alles schwarz, wenn ich nach oben schaue. Ich sage dem Führer, dass ich höchstens bis Stella Point gehen werde. Wie weit ist es denn noch, verdammt noch mal!? Doch er gibt immer die gleiche Antwort und die schon seit Stunden: »Nicht mehr weit!« Ich bin mir sicher: Weiter als bis Stella Point werde ich nicht mehr gehen können. Der Gipfel kann mir gestohlen bleiben! Während ich über meinen Stöcken hänge und mich vorwärts ziehe, muss ich daran denken, wie schlecht es mir vor Jahren im Spital von Maralal erging. Damals konnte ich vor Schwäche, verursacht durch die Malaria, kaum auf die Toilette und musste gestützt werden. 50 Meter sahen für mich wie viele unüberwindbare Kilometer aus. Damals half mir auch eine Pause nichts, denn es wurde nicht besser. Heute dagegen kann ich nach zwei Minuten Pause zumindest geringe Kräfte mobilisieren. Während ich meinen damaligen Zustand in Erinnerung hole, fühle ich mich etwas besser. Und dennoch: So leiden musste ich in der Schweiz noch nie! Auch Hans geht es nicht gut, denn er schwankt ständig hin und her. Wir machen wieder Pause. Der Führer ist nicht sehr begeistert, denn er friert genauso wie wir. Als wir weiter wollen, bemerke ich, dass er fast eingeschlafen ist. Ich bin sofort hell wach und rüttle ihn am Arm. Er öffnet die Augen, sagt »yes, yes« und läuft weiter. Ich beginne zu zweifeln, ob ein Führer für uns beide wirklich ausreichend ist. Was ist, wenn ihm etwas zustößt oder einer von uns schlapp macht? Ich darf nicht so weit denken. Erneut frage ich ihn, wie weit es noch bis Stella Point sei. Er antwortet: »Für mich etwa sechs Minuten, aber ich weiß nicht, wie lange es mit euch dauert!« Na ja, dann kann es sich ja nicht mehr um Stunden handeln. Mit letzter Kraft reiße mich noch einmal zusammen. Ich denke an das enttäuschte Gesicht meiner Tochter, wenn ich ihr sagen muss, dass ihre Mama es nicht bis zum Gipfel geschafft hat. Obwohl man sich weiß Gott nicht schämen musste, denn es ist die reinste Qual, jedenfalls für uns. Für Messner & Co, die sozusagen auf diesen Höhen erst picknicken, wäre das hier sicherlich nur ein Spaziergang. Wieder Rast, wieder aufrappeln und weiterschleppen! Hans schaut auf den Höhenmesser und erklärt, es seien noch etwa 100 Höhenmeter bis zum Stella Point. Ich kann es nicht glauben, dass es immer noch so lange dauern soll! Der Führer nimmt uns den Rucksack ab und sofort atmet es sich etwas besser. Wir kämpfen uns weiter. Plötzlich reicht uns der Führer neben einem großen Stein die Hand und sagt: »Congratulation, you have reached Stella Point.« Ich bin platt. Wir sind am Stella Point angekommen, der von seinem Aussehen her eigentlich nichts Besonderes darstellt. Der Höhenmesser hat sich fast um 100 Meter geirrt! Als ich mich umdrehe, bemerke ich den Sonnenaufgang. Zum ersten Mal seit über sechs Stunden sehen wir etwas anderes als schwarzen Steinboden und Dunkelheit. Dieser tiefrote Streifen ist eine kleine Emotion wert, doch sie reicht nicht aus, um den Fotoapparat unter den diversen Jacken hervorzuziehen. Hier ist es nun kälter als je zuvor. Irgendwie klebe ich mir zusätzlich die Regenüberhose an, obwohl nichts zusammenpassen will. Hauptsache, es wärmt. Hans wiederholt ständig: »So schlecht, wie ich mich fühle, kann das hier oben nicht gesund sein!« Mir geht es eigentlich nicht schlecht. Ich spüre keine Übelkeit und keine Kopfschmerzen. Aber ich fühle einfach nichts. Ich bin innerlich hohl und empfinde keine Regung mehr. Der Führer drängt weiter. Ich höre Hans sagen: »Komm, lass uns weitergehen! Jetzt, wo wir schon mal hier sind, schaffen wir den Rest auch noch.« Nachdem er das in seiner schlechten Verfassung so optimistisch sagt, muss auch ich einfach weiter. Später bin ich ihm dankbar. Ohne den wankenden Hans vor mir hätte ich wohl bei Stella Point den Sinn für das Ganze verloren.
Allmählich wird es heller und wir sehen rechts neben uns den Krater, an dessen Rand wir nun hoch laufen. Mich auf die Stöcke stützend schleppe ich mich voran. Langsam taucht links vor uns eine riesige Gletscherwand auf. Schneeweiß leuchtet sie vor dem rosa Himmel. Ich setze mich an den Rand und mein Verstand sagt mir, dass dies ein schönes Foto wäre. Als der Führer sieht, dass ich den Apparat nicht aus der Tasche bringe, hilft er mir und macht auch gleich das erste Bild. Es ist kurz nach sechs Uhr und die Sonne geht nun relativ schnell auf, während wir uns am Kraterrand entlang nach oben kämpfen. Hans schwankt heftiger und ich mache mir ernsthafte Sorgen. Der Führer ist sicher zehn Meter vor uns. Wir müssen uns nun direkt neben dem Krater um einen kleinen Felsvorsprung zwängen. Plötzlich bin ich hellwach und rufe Hans zu: »Pass auf und halt dich am Felsen fest!« Doch es ist zu spät. Er stürzt rückwärts der Länge nach hin. Mit zwei Schritten bin ich bei ihm und halte ihn fest, während er mit dem Oberkörper über dem Krater hängt. Der Führer eilt ebenfalls herbei und stellt ihn wieder auf die Beine. Nun lässt er ihn, bis wir oben sind, nicht mehr los.
Vor einem zartrosa Hintergrund werden die Eiswände immer höher und weißer. Auf einmal höre ich mich weinen. Ich weine vor mich hin und erkenne meine Stimme wieder nicht. Ich habe keinerlei Kontrolle über meine Tränen und kann mir den Grund nicht erklären. Ist es Erschöpfung? Oder dieser Anblick? Oder einfach das Bewusstsein, dass ich hier oben auf dem Dach von Afrika angekommen bin? Ich weiß es nicht. Ich höre den Führer sagen: »Weine nicht, du verlierst sonst zu viel Energie!« Doch es gelingt mir nicht, die lauten, dunklen Schluchzer zu unterdrücken, bis ich endlich oben am Uhuru Peak stehe. Es ist sieben Uhr, als uns der Führer zum Erreichen des Gipfels gratuliert. Auch er ist erschöpft, obwohl er schon über 100 Mal hier oben war.
Außer uns befinden sich weitere sechs Personen auf dem Berg. Ich setze mich neben das Gipfelschild und ziehe meine Regenhose aus, damit ich ein anständiges Foto machen kann. Der Führer mahnt, wir sollen uns beeilen, denn wir müssen schnell wieder hinunter, da Hans sich nicht wohl fühlt. Mit seinen halb erfrorenen Händen macht er einige Fotos von uns. Automatisch knipse ich ein paar Bilder von der Umgebung und warte immer noch auf die großen Emotionen, die sich aber nicht einstellen wollen. Nicht einmal meine ursprüngliche feste Absicht, von hier oben in mein geliebtes Kenia hinüberzuschauen, kommt mir in den Sinn. Ich fühle mich nur leer, wie eine Hülle, wie ein Zombie.
Hans geht es ähnlich und außerdem ist er kreidebleich. Er bedauert nur, dass er anstelle seines Vaters hier steht. Er hatte nie geglaubt, jemals auf dem Gipfel anzukommen, zumal er Raucher ist. Wir müssen aufbrechen. Während wir am Kraterrand zurückgehen, kommen uns die nächsten »Zombies« entgegen. Auch sie reagieren auf nichts und stapfen einfach weiter Richtung Gipfel. Während des Abstiegs erhole ich mich erstaunlich schnell. Wir rennen und rutschen über einen steilen Aschenhang hinunter. Es kommt mir wie ein Hinunterspringen im Tiefschnee vor, nur ist es staubig.
Hans hat starke Kopfschmerzen und stolpert über seine eigenen Füße. Ich mache mir Gedanken, ob er es überhaupt noch bis zum Camp schafft, da wir mehr als 1.200 Höhenmeter hinunter müssen. Mir kommt hier mein Training zugute, doch nach einer Stunde habe ich enormen Durst. Obwohl es nun schon sehr warm ist, zieht Hans weder seine Handschuhe noch die Mütze noch die Jacke aus. Er macht mir weiterhin Sorgen, weil er etwas verwirrt redet. Immer wieder höre ich den Satz: »Das kann nicht gesund sein, so schlecht wie es mir geht.« Wir pausieren und trinken etwas. Dazu gebe ich ihm eine Tablette gegen Kopfschmerzen und zusätzlich zwei Aspirin zum Verdünnen des Blutes. Gemeinsam verzehren wir meine Trockenfrüchte. Nach einigen Minuten geht es ihm besser. Ausziehen will er aber nach wie vor nichts, obwohl er schwitzt. Der Führer hakt sich bei ihm unter und so rennen sie zu zweit weiter. Nach fast zwei Stunden Rutschpartie sehen wir weiter unten unser Camp. Ich erkenne die Leute aus unserer Gruppe, die zu uns hoch schauen, und winke nach unten. Es kommt kein Gruß zurück. Neun Stunden nach unserem Aufbruch erreichen wir erschöpft das Camp.
Die Stimmung ist eher gedrückt. Die einheimischen Hilfsführer kommen als Erste, um uns zu gratulieren. Dann erscheint Petras Freund und gratuliert trocken. Sie hingegen ruft einen Glückwunsch aus dem Zelt heraus. Noch wortkarger ist der pensionierte Zahnarzt. Außer dem Wort »Gratulation« gibt er keine weitere Silbe von sich. Fürchterlich! Immerhin macht er auf meine Bitte hin ein Foto von mir. Hans kriecht in sein Zelt und schläft vor Erschöpfung sofort ein. Wir haben nicht viel Zeit, um unsere Sachen zusammenzuräumen und unser Mittagessen einzunehmen. Noch heute müssen wir fast 1.800 Höhenmeter über die Mwekaroute zum gleichnamigen Camp absteigen.
Nun sitze ich allein vor meinem Zelt und warte auf das Essen. Mit niemandem kann ich mich über meine Erfahrung austauschen, weil sich keiner dafür interessiert. Wenigstens kann ich meinen Lieben eine SMS senden. Zum Telefonieren reicht die Batterie nicht mehr. Napirai schreibt: »Super Mama, ich habe immer gewusst, dass du es schaffen wirst!« Markus ist ebenfalls stolz auf diese Leistung und sorgt für die Verbreitung der Neuigkeit in der Familie.
Der Abstieg führt in umgekehrter Reihenfolge durch die verschiedenen Klimazonen. Als wir in den immer üppiger werdenden Urwald eintauchen, erfreut mich der Anblick der verschiedensten blühenden Pflanzen. Doch geht das Absteigen gewaltig in Knie und Beine. Nach zwei Stunden habe ich kaum ein Auge mehr für die schönen blühenden Büsche und die weiten Täler, sondern spüre nur noch, wie sich an meinen Füßen an mehreren Stellen Blasen zu bilden beginnen. Ich versuche, das Schlimmste mit Blasenpflaster zu beheben und bange nun wirklich dem Lagerplatz entgegen. Je weiter wir absteigen, desto schwüler wird es, und allmählich klebt alles am Körper. Nach drei Stunden erreichen wir unser Camp und können gerade noch vor einem Wolkenbruch in die Zelte schlüpfen. Es schüttet etwa 15 Minuten und danach ist so ziemlich alles feucht und der Zeltboden teilweise nass. Mir ist es egal, wenn ich nur nach den zwölf Stunden reinem Fußmarsch heute nicht mehr weiterlaufen muss. Es ist früher Nachmittag und uns bleibt noch viel Zeit bis zum Abendessen. Sehnsüchtig wie noch nie warte ich auf das orangene Waschschüsselchen mit dem angewärmten Wasser. Außerdem muss ich mich um meine Füße kümmern, weil wir morgen noch einmal eine lange Abstiegsstrecke vor uns haben.