Текст книги "Zurück aus Afrika"
Автор книги: Corinne Hofmann
Жанр:
Биографии и мемуары
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Nach all den Klagen erkläre ich meiner Mutter aber auch, dass Lketinga im Grunde genommen und tief im Herzen ein guter Mensch ist. Er hat mir früher in vielen Situationen seine Liebe bewiesen. Doch in Mombasa ist er unglücklich und ich kann nicht mehr zurück in den Busch, weil ich sonst an Malaria sterben würde. Ich habe ihm sogar vorgeschlagen, nach Barsaloi zurückzugehen, dort eine Zweitfrau aus seinem Stamm zu heiraten und mich in Mombasa arbeiten zu lassen, damit wir alle wieder glücklicher würden. »Aber er wollte das plötzlich nicht mehr, obwohl ich damals bei der Heirat damit einverstanden sein musste. Deshalb blieb mir nur die Flucht in die Schweiz«, beende ich meine Erzählung.
Meine Mutter hört sich entsetzt, aber ruhig die Bruchstücke der ganzen Geschichte an und sagt: »Ich wusste zwar von deiner Schwester, die vor kurzem bei euch war, dass nicht alles so rund läuft, aber so schlimm habe ich es mir nicht vorgestellt! Du hast mir ja nur optimistische und zuversichtliche Briefe geschrieben. Ja, und nun haben wir eine völlig neue Situation. Aber wenn ich es mir genau überlege, habe ich meine Tochter wieder zurück und eine süße Enkelin dazu.« Erleichtert fallen wir uns in die Arme. »Also ist es kein so großes Problem, wenn ich mit Napirai noch eine Weile hier wohne und abwarte, wie alles weitergeht?«
»Nein, nur dem Hund müssen wir das noch schmackhaft machen«, meint sie, nun wieder zaghaft lächelnd.
Den Nachmittag verbringen wir damit, meine Afrikazöpfe zu öffnen. Büschelweise fallen mir dabei die Haare aus. Anschließend nehme ich dankbar ein heißes Vollbad und kann es immer noch nicht begreifen, wie schön es ist, in einer vollen Badewanne zu liegen. In Kenia musste ich zum eineinhalb Kilometer entfernten Fluss laufen und konnte mich dort nur spärlich waschen. Später in Mombasa erwärmte ich erst das Wasser auf dem Kohlekocher, schüttete es dann in ein Waschbecken und wusch mich mit den Händen. Hier in der Schweiz gibt es Wasser im Überfluss. Man muss nur den Hahn aufdrehen und hat kaltes oder gar heißes Wasser zur Verfügung. In Afrika habe ich tatsächlich vergessen, wie angenehm ich vorher gelebt hatte. Doch nun wird mir mit jeder Stunde bewusster, wie luxuriös im Grunde genommen unser Leben hier ist, allein durch die einfachsten Dinge wie Wasser, Strom, Kühlschrank und Lebensmittel.
Nein, vor einem solchen Leben brauche ich mich nicht zu fürchten! Ich werde arbeiten, egal was, Hauptsache ich erhalte wieder eine Aufenthaltsgenehmigung! Gleich am nächsten Morgen beschließe ich, mich bei der Gemeinde zu erkundigen. Meine Mutter begleitet mich, da sie eine Frau aus dem Turnverein kennt, die dort arbeitet. So erfahren wir, dass ich schriftlich ein Gesuch für die Wiedererteilung der Niederlassung stellen muss, mit beigefügtem Lebenslauf. Bearbeitet wird es durch die Fremdenpolizei und da heißt es einfach abwarten. Zu Hause erledige ich das Gewünschte sofort und bin zuversichtlich, weil die Angestellten in dem Büro sehr nett waren. Meine Erfahrungen mit den Ämtern in Kenia waren da ganz anderer Art.
In den nächsten Tagen bleibt mir nichts anderes übrig, als lange Spaziergänge mit meiner Tochter zu unternehmen, um nicht ständig an Kenia zu denken. Wenn das Telefon klingelt, habe ich Angst, es könnte wieder Lketinga sein oder jemand anderer aus Kenia mit einer schlechten Nachricht. Mittlerweile müssten alle meine Briefe angekommen sein. Manchmal glaube ich fast körperlich zu spüren, welche Trauer und Aufregung bei den Betroffenen herrscht, vor allem bei meiner lieben Schwiegermama und auch bei Lketinga, da er in der Zwischenzeit wohl sicherlich begriffen hat, dass wir wirklich nicht zurückkommen. Ich kann nur auf die verschiedenen Reaktionen warten. Endlich, am 3. November 1990, erhalte ich den ersten langen Brief von James aus seiner Schule.
Liebe Corinne
Hallo, hier ist James. Wie geht es dir? Ich hoffe, deiner Familie und der lieben Schwester Napirai geht es gut. Ich habe deinen traurigen Brief erhalten, der auch mich sehr traurig machte, weil du in ihm schreibst, dass du nun in der Schweiz bist und nicht wieder in unser Dorf zurückkehren wirst. Alle hier in Barsaloi, die dich kennen, sind sehr unglücklich. Während ich dir schreibe, möchte ich weinen, obwohl ich das alles erst glauben kann, wenn ich es auf dem Gesicht meines Bruders in Mombasa gesehen habe.
Corinne, was ich jetzt von dir höre, habe ich schon in meinem Blut gespürt, als ich sah, wie unmöglich sich mein Bruder dir gegenüber verhalten hat. Doch was soll ich jetzt allen erzählen, die fragen werden, wo unsere liebe Corinne ist und warum sie gegangen ist? Es ist ein Fluch, dass du wegen Lketinga gehen musstest. Er wird in unserer Gegend sehr einsam sein. Alle sind böse auf ihn, weil sie gesehen haben, wie hart du gearbeitet hast. All die Sachen, die du ihm geben willst, werden ihn sehr verwirren. Ich will ihm helfen und alles korrekt erledigen, obwohl ich wenig Einfluss auf ihn habe. Du weißt, dass ich oft mit ihm gestritten habe, weil er so gemein zu dir, seiner Frau, war. Ohne dich ist mein Bruder jetzt eine nutzlose Person in unserer Gemeinschaft, trotz Auto und Shop. Was kann er tun mit diesem großen Shop, wo er doch, wie du weißt, Arbeit hasst? Und was soll er mit einem Auto ohne Fahrerlaubnis? Dass du ihm alles dagelassen hast, zeigt, wie du ihn von Herzen liebst. Aber er ist nicht bei Verstand und kann damit nicht umgehen. Corinne, er ist sehr verwirrt und sicher liebt er dich, aber sein Problem ist, dass er wie eine schlechte Person spricht und nicht bedenkt, was andere über sein Reden denken. Der einzige Rat, den ich ihm geben kann, ist, diesen Reichtum, den du ihm gibst, zu nutzen. Aber wie kann er den Shop verkaufen, wenn du nicht da bist? Außer du telefonierst mit dem Eigentümer, dem Inder. Ich habe meinem Bruder einen Brief geschrieben und gesagt, er solle mir Geld für die Fahrt nach Mombasa schicken, damit ich bei Schulende am 16. November zu ihm kommen kann. Wenn er mir keines schicken will, gehe ich nach Hause und verkaufe ein paar Ziegen. Dann fahre ich, um zu sehen, was er macht. Ich werde dir im November oder Dezember schreiben und berichten, wie dort alles läuft, und dir auch von zu
Hause, vor allem von Mama, erzählen.
Corinne, ich denke nicht, dass mein Bruder wieder heiraten wird, schon allein wegen dir. Ich denke, er wird sein ganzes Leben in Mombasa verbringen und von dem leben, was du ihm dagelassen hast. An seiner Stelle würde ich mich schämen, nach Hause zu gehen. Ich bin wirklich ratlos, wie ich es Mama und dem Rest der Familie sagen soll.
Ich wünsche dir, dass du einen Platz in der Schweiz oder in Deutschland finden wirst, damit wir weiterhin in Verbindung bleiben können. Ich bin sicher, dass Lketinga dich noch sehr liebt und dir nachtrauern wird. Ich werde dir alles schreiben. Bitte informiere auch du mich, wo immer du in dieser Welt sein wirst. Ich weiß, Gott liebt dich und wird dir einen guten Platz geben. Also vergiss uns nicht, denke an uns, denn du bist ein Teil unserer Familie, wo du auch bist. Wir werden dich, deine Familie und unsere innig geliebte Schwester Napirai nicht vergessen. Überlege, ob du nicht in ein paar Monaten oder Jahren zu uns kommen willst, damit wir dich sehen können, und schicke uns Fotos oder andere Dinge, die uns an dich und deine Familie erinnern. Ich versuche mein Bestes, dir etwas zu schicken, woran du sehen wirst, dass nicht alle von unserer Familie mit dir abgeschlossen haben, denn wir lieben dich. Ich bin noch eineinhalb Jahre in der Schule. Dann möchte ich arbeiten, Geld verdienen und dich zu einem Besuch bei uns einladen.
Bitte sage deinem Bruder Marc, dass das Problem nicht von meiner Familie kommt, sondern nur von Lketinga. Corinne, mit traurigem Gesicht will ich hier schließen und hoffe, bald von dir zu hören. Grüße deine ganze Familie, Marc und seine
Freundin sowie Napirai.
Ich wünsche euch allen frohe Weihnachten
James
Ich lasse den Brief sinken, der die noch nicht verheilten Wunden wieder aufreißt, und die Tränen strömen los. Trotz allem möchte ich auf keinen Fall, dass man Lketinga in seinem Stamm fallen lässt. Ich fühle mich elend und erneut plagen mich Zweifel. Das teile ich meiner Mutter mit, die gespannt am Tisch sitzt und mich beobachtet. Sie entgegnet energisch: »Schau dich doch mal im Spiegel an, dann wüsstest du selbst, dass es keine andere Möglichkeit gibt! Auch noch nach zwei Wochen siehst du krank aus und bist so schwach, dass du die meiste Zeit schläfst. Auf Grund deiner Hepatitis kannst du nur Diät essen und dein Kind stillst du auch noch! Wie stellst du dir das denn vor? Du musst jetzt an dich und Napirai denken! Ihr habt genug Sorgen!« Ihr energischer Ton tut mir im Moment sogar gut und ich fühle mich seit langem wieder einmal wie ein Kind, das man versucht zu behüten.
Am Nachmittag schreibe ich James zurück und bedanke mich für sein Vorhaben, Lketinga in Mombasa aufzusuchen. Für ihn ist das eine gigantische Reise. Er ist erst ungefähr 16 Jahre alt und war nur einmal mit uns in Mombasa, als wir vom Samburu-Di strikt wegzogen und die 1.460 Kilometer mit dem Auto zur Küste fuhren. Er begleitete uns, damit Lketinga und er während der holprigen Fahrt abwechselnd Napirai halten konnten. Doch jetzt wird er allein reisen müssen, was für die Menschen dort völlig ungewohnt ist, denn normalerweise sind sie mindestens zu zweit unterwegs. Die zwei– bis dreitägige Busfahrt ist teuer und wie er im Brief erwähnt, muss er sich das Geld durch Ziegenverkauf beschaffen.
Lketinga wird ihm keines schicken, da das Geld aus den Briefumschlägen verschwindet und James als Schüler kein Bankkonto besitzt. Die wenigsten Menschen, die ich dort kenne, besitzen Geld. Ihr Vermögen ist die Herde. Wenn Geld gebraucht wird, verkauft man Tiere oder auch das Fell einer geschlachteten Ziege oder Kuh und kauft damit die am dringendsten benötigten Lebensmittel. Ich hoffe, dass James es schafft und Lketinga ihm dann das Geld zurückerstatten wird.
Napirai hat sich inzwischen an die Kälte gewöhnt und leistet beim Anziehen keinen Widerstand mehr. Von meinem letzten »Notgroschen« kaufe ich uns in den verschiedenen Secondhand-Shops Winterkleider. Ich möchte meine Mutter nicht auch noch finanziell belasten. Es kostet schon genug, uns zu ernähren. Abgesehen davon kauft sie trotzdem ständig etwas für Napirai. Mit dem Hund geht es schon besser, obwohl er manchmal noch etwas unberechenbar reagiert.
Ab und zu versucht meine Mutter, mich zu ermuntern, alte Freunde zu besuchen, damit ich wieder unter Leute komme. Aber ich traue mich nicht mehr, mit ihrem Auto auf den hektischen Straßen, noch dazu mit Rechtsverkehr, zu fahren. Im Busch kam uns während einer mehrstündigen Autofahrt höchstens einmal ein Fahrzeug entgegen. Eher noch waren Elefanten oder Büffel anzutreffen, die den Weg in Beschlag genommen hatten, was durchaus auch zu gefährlichen Situationen führen konnte. Hier in der Schweiz dagegen, so empfinde ich es nun, sind anscheinend alle Leute mit dem Auto unterwegs. Deshalb bleibe ich lieber mit Napirai zu Hause.
Eines Abends, Mitte November, klingelt das Telefon und ich spüre sofort, dass der Anruf aus Kenia kommt. Sophia meldet sich. Diesmal bin ich gefasster, weil wir schon über einen Monat in der Schweiz leben und inzwischen alle Bescheid wissen. »Hallo, Corinne, how are you and Napirai? Bist du immer noch sicher, dass du nicht mehr zurückkommst? Lketinga arbeitet nur noch selten. Wenn ich beim Shop vorbeischaue, ist er meistens geschlossen. Ich möchte dir nur sagen, dass dein Mann sich von mir nicht helfen lassen will und ich nicht weiß, was ich tun soll. Ich habe, wie du weißt, meine eigenen Probleme, da mein Restaurant geöffnet ist, ich aber bisher keine Arbeitserlaubnis bekommen habe. Und auch sonst, immer dasselbe! Außerdem fliege ich in vier Tagen für zwei Wochen nach Italien, um meine Familie zu besuchen.«
»Sophia«, antworte ich, »es ist schön, dass du mich vorher noch anrufst. Aber mein Entschluss steht definitiv fest. Ich bin froh, dass ich noch lebe und mit Napirai rausgekommen bin. Du brauchst dich nicht weiter um Lketinga bemühen, denn ich denke, James kommt bald nach Mombasa, um ihm zu helfen und zu entscheiden, was mit dem Shop passiert. Ich weiß ja, wie misstrauisch mein Mann ist. Hast du ihn gesehen und weißt du, wie es ihm geht?« Sophia sagt, sie habe ihn schon länger nicht mehr getroffen und wenn, so war er mit dem Auto in Ukunda unterwegs. Mehr kann sie mir auch nicht berichten. Dann verabschiede ich mich und wünsche ihr von ganzem Herzen alles Gute, viel Kraft und Liebe für ihr weiteres Leben in Kenia. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass ich von Sophia nie mehr etwas hören werde.
Einige Tage später erhalte ich den Antwortbrief von Pater Giuliano.
Liebe Corinne
Ich habe vor ein paar Tagen Ihren Brief vom 26. Oktober erhalten und möchte ihn jetzt beantworten. Ich denke, für Sie ist es besser, wenn Sie in der Schweiz sind. Ich war sowieso erstaunt, dass Sie so lange mit Lketinga zusammen waren. Auch mir erschien er häufig etwas seltsam und ich habe mich oft gewundert, wie lange Sie mit ihm zurechtgekommen sind. Wie auch immer, ich wünsche Ihnen ein besseres Leben mit Ihrer Napirai. In Ihrem Brief sagten Sie, Sie hätten etwas Geld für Lketingas Mutter beigelegt, aber es war nichts darin. Es ist gefährlich, Geld in Briefe zu stecken, weil sie geöffnet werden und dann oft nicht einmal die Briefe ankommen. Wenn Sie einen Scheck von der Barclays Bank haben, können Sie diesen auf unsere Catholic Mission ausfüllen, und ich werde ihn bei meiner Bank einreichen. Wenn das Geld angekommen ist, werde ich die Summe Mama Leparmorijo geben. Ich denke, das ist der beste Weg.
Viele Grüße aus Barsaloi. Jetzt ist bei uns Regenzeit und alles ist grün und wunderschön.
Viele Grüße, auch von Pater Roberto
Ihr Giuliano
Ich freue mich über diesen kurzen Brief und bin beruhigt, dass ich nun eine Möglichkeit gefunden habe, das Versprechen gegenüber meiner Schwiegermama einlösen zu können. Als wir damals nach Mombasa umzogen, hatte ich ihr versprochen, mein ganzes Leben lang an sie zu denken, sie nie zu vergessen und immer für sie zu sorgen, egal wo ich lebe. Ich war so glücklich, dass sie mir meine Napirai nicht weggenommen hat. Normalerweise nämlich gehört das erste Mädchen der Mutter des Mannes, sozusagen als »Altersrente«. Wenn das Mädchen heranwächst, besorgt sie der Großmutter das Feuerholz, hütet ihre Ziegen und holt das Wasser vom Fluss. Im Gegenzug wird sie von ihr ernährt. Ist das heiratsfähige Alter zwischen 13 und 16 Jahren erreicht, wird das Mädchen verheiratet und die Großmutter bekommt den Brautpreis, der aus mehreren Ziegen, Kühen, Zucker und anderem besteht. So hat es mir Lketinga kurz nach der Geburt von Napirai erklärt. Ein Brauch, den einzuhalten für mich unvorstellbar war. Auch Saguna, die kleine etwa dreijährige Tochter seines älteren Bruders, lebt bereits bei ihr, obwohl ihre Mama im selben Kral wohnt. Sie schläft und isst bei der Großmutter. Ihr etwa zwei Jahre älterer Bruder hingegen lebt bei seinen Eltern in der benachbarten Hütte. Ja, meiner Schwiegermama habe ich es zu verdanken, dass sie mich damals mit Napirai ziehen ließ. Ich erklärte ihr, dass ich ohne mein Kind nicht leben könne, und so legte sie mir Napirai nach einem langen stummen Blick wieder in meine Arme zurück, obwohl sie meinte, ich könne noch zehn weitere Kinder bekommen.
Nun möchte ich mein Versprechen einlösen und von meinem ersten verdienten Geld werde ich ihr etwas zukommen lassen. Solange ich noch nicht arbeiten darf, werde ich auf meine bestehenden Konten in Kenia Schecks ausstellen und die Mission beauftragen, ihr monatlich einen festen Betrag zu geben. Nur so ist gesichert, dass das Geld nicht von der großen Verwandtschaft innerhalb weniger Tage aufgebraucht wird. Lketinga müsste noch genug Geld haben nach allem, was ich ihm dagelassen habe. Wenn er allerdings nicht arbeitet, wie mir Sophia am Telefon mitgeteilt hat, sondern anscheinend nur vom Bargeld lebt, wird es nicht allzu lange dauern, bis er in Schwierigkeiten kommt. Ich hoffe, bald zu erfahren, wie alles läuft, da James mittlerweile sicherlich in Mombasa angekommen ist. Täglich warte ich auf die Post, um zu sehen, ob ein Brief aus Kenia dabei ist. Auch noch nach zwei Monaten fühle ich mich für vieles verantwortlich, obwohl ich alles, was ich besaß, in Kenia gelassen habe. Endlich trifft der ersehnte Brief von James ein.
Liebe Corinne und Familie
Ich, James, schreibe dir von Mombasa, nachdem ich deinen Brief am 6. Dezember erhalten habe. Wie geht es dir, deiner Familie und unserer lieben Napirai? Ich hoffe, euch allen geht es gut. Lketinga und mir geht es hier nicht schlecht. Über die Familie weiß ich aber nicht viel zu berichten, weil ich seit langem nichts mehr von ihnen gehört habe. Aus dem Brief, den du mir geschrieben hast, weiß ich, dass du noch keinen Platz gefunden hast, um dich anzusiedeln. Für dieses Problem will ich fest beten, dass du eines Tages etwas findest. Ich habe auch erfahren, wie du versucht hast, unserer Mutter mit etwas Geld zu helfen, aber es ist nicht angekommen. Ich habe mit Lketinga über den Shop gesprochen. Er hat beschlossen, ihn zu verkaufen. Kontaktiere deshalb bitte den Eigentümer, diesen für ihn zu verkaufen. Ich will auch versuchen, mit seinem Bruder zu sprechen, wie du mir gesagt hast. Das Auto will Lketinga nicht verkaufen. Auch das Geld will er nicht teilen. So werde ich nach Maralal zurückgehen und glaube nicht, dass er mir dafür Geld geben wird. Er trinkt häufig und kaut jetzt sehr viel Miraa. Bitte unternimm deshalb etwas, um den Shop zu verkaufen, damit er nicht auch noch beim Inder Schulden haben wird. Ich habe an Diners Club geschrieben, dass sie die Karte sperren.
Corinne, ich gehe am 10. Dezember nach Barsaloi zurück und bin wirklich sehr traurig, weil mein
Bruder mir kein Geld gegeben hat außer für den Weg nach Hause. Ich weiß nicht, was ich für die Schule und für Mama mitnehmen kann. Es war das letzte Mal in meinem Leben, dass ich Lketinga besucht habe. Ich habe im Shop immerhin noch 12.000 Kenia-Schillinge eingenommen, aber er hat alles aufgebraucht. Er ist immer gekommen und hat gesagt, er werde es zur Bank bringen, aber er hat es für Bier und Miraa ausgegeben. Corinne, das ist die traurige Wahrheit.
Wie du mir gesagt hast, werde ich mein eigenes Bankkonto eröffnen, damit du mir etwas schicken und mir und meiner Familie helfen kannst. Ich werde nach Barsaloi gehen und Richard um einen Kredit bitten, um das Konto eröffnen zu können. Ich werde dir dann die Nummer mitteilen.
Das Leben meines Bruders wird, wie ich das sehe, wahrscheinlich sehr kurz sein. Seit du ihn verlassen hast, bin ich nicht mehr gerne mit ihm zusammen, denn er hilft nicht, obwohl er derjenige ist, der doch jetzt etwas hat. Unserer Mutter werde ich berichten, was du mir geschrieben hast und dass ich ein Bankkonto eröffnen soll, damit du uns helfen kannst. Ich will ihr auch erzählen, welche Probleme mein Bruder mir machte. Ich werde in Barsaloi die wenigen Ziegen verkaufen, damit ich das Geld für die Schule mitnehmen kann. Über die Probleme meiner Familie weiß ich jetzt nichts zu schreiben, denn ich lerne ja immer noch in der Schule und habe sie lange nicht mehr gesehen. Bitte schicke uns einige Fotos von Napirai und der Familie.
Ich wünsche euch allen ein glückliches Neues Jahr
Dein James
Der Brief macht mich wütend. Ich lese ihn ein zweites Mal und stelle dabei fest, dass ein vorheriger Brief bei mir offensichtlich nicht angekommen ist. So weiß ich immer noch nicht, wie die Menschen in Barsaloi auf unsere Ausreise reagiert haben und wie James das Geld für die Fahrt nach Mombasa bekommen hat. Auch schließe ich daraus, dass er nicht zu Hause in Barsaloi war, sondern gleich nach dem Ende der Schule von Eldoret nach Mombasa gefahren ist. Was mich aber richtig wütend macht, ist die Tatsache, dass Lketinga nach allem, was James für ihn getan hat, ihm nicht einmal sein Schulgeld mitgeben wollte. Er kam auf meinen Wunsch nach Mombasa, um Lketinga zu helfen und beizustehen, und der lässt ihn einfach im Stich. James ist doch sein kleiner Bruder!
Ich weiß, wie verschieden die beiden sind. James ist etwa 13 Jahre jünger, das genaue Geburtsjahr kennt er nicht. Wie alle anderen wurde auch er vom Distrikt-Officer nur ungefähr eingeschätzt. Keiner kennt seinen tatsächlichen Geburtstag. Der große Unterschied zwischen den beiden besteht darin, dass James zur Schule geht, Lketinga aber nie eine solche besucht hat. Sie scheinen aus zwei völlig verschiedenen Welten zu kommen.
Lketinga, der bis vor kurzem den Status eines Kriegers inne hatte, kann nicht lesen und schreiben und ist im Busch mit den alten Ritualen und Bräuchen aufgewachsen. James dagegen besucht als Jüngster und Einziger der Familie seit seinem siebten Lebensjahr die Schule, die durch die Mission finanziert wird. Bei Meinungsverschiedenheiten hörte ich Lketinga oft sagen: »Ach, das sind doch keine richtigen Männer mehr, die waren nie im Busch, stattdessen sitzen sie nur in der Schule herum. They don't know about life!«
Von James und den anderen Schuljungen dagegen hörte ich: »Weißt du, das kannst du nicht mit diesen Leuten besprechen. Die verstehen dich überhaupt nicht, weil sie nichts von der Welt wissen. Sie kennen nur den Busch und das Überleben mit ihren Tieren. Sie wissen nicht, was in der Welt draußen passiert.«
Es kam mir manchmal vor, als wären sie sich ganz und gar fremd. Trotzdem habe ich angenommen, dass Lketinga seinem Bruder zumindest in einer solchen Situation vertraut und hilft.
Die durch den Brief ausgelöste Wut treibt mich erneut zum Handeln. Über den internationalen Auskunftsdienst lasse ich mir die Telefonnummer des Inders heraussuchen und nehme Kontakt zu ihm auf. Er ist sehr überrascht von meinen Erzählungen und der Tatsache, dass ich nicht mehr zurückkommen werde. Lketinga habe ihm erst vor ein paar Tagen gesagt, dass ich im Urlaub sei und bald wieder zurückkäme. Er bedauert meinen Entschluss, doch ist er damit einverstanden, mit Lketinga die Verhandlung für die Shopübergabe aufzunehmen, da er ohne mich auch keine Überlebenschance für den Laden sieht. Ich bedanke mich und bin erleichtert, dass wenigstens hinsichtlich des Shops keine Probleme mehr auf Lketinga zukommen werden. Was er mit dem vielen Geld machen wird, weiß ich nicht. Ich kann nur hoffen, dass er nicht alles für Bier und Miraa ausgibt. Sofort teile ich James das Vereinbarte in einem Antwortbrief mit.
Die ganze Aufregung hat aber auch etwas Gutes. Hier in der Schweiz sitze ich nur untätig herum und warte auf den Bescheid von der Fremdenpolizei. Doch wenn es um Kenia geht, habe ich keine Hemmungen und handle mit erstaunlicher Kraft. Auf diese Weise wächst mein Selbstvertrauen und der Wunsch, wieder zu arbeiten. Meine neue Umgebung ist mir nicht mehr ganz so fremd, und langsam nehme ich wieder an Gewicht zu. Ich versuche häufiger, normales Essen statt Diätkost zu mir zu nehmen und stelle glücklich fest, dass ich von Woche zu Woche weniger Probleme mit dem Magen habe.
Kurz vor Weihnachten genießen Napirai und ich den ersten Schnee. Es ist zwar enorm kalt, doch mittlerweile stört es mich nicht mehr. Im Gegenteil, ich empfinde das Wetter hier mit einem Mal viel spannender als tagaus tagein den tiefblauen Himmel mit seiner sengenden Sonne, die die Vegetation verdorren lässt. Und wenn es nach monatelangem Sonnenschein dann endlich einmal regnet, ist alles überschwemmt und für Mensch und Tier besteht manchmal sogar Lebensgefahr. Nach diesen Erfahrungen kann ich mich über Regen, Schnee und sogar den Nebel wieder freuen.
Ein paar Tage vor Weihnachten gehen wir mit meiner Mutter auf eine Einkaufstour nach Rapperswil. Es ist unglaublich, was in den Geschäften alles ausgestellt wird! Ich nehme mir vor, in Zukunft nur mit dem Nötigsten auskommen zu wollen. Diesen Überfluss braucht man doch nicht wirklich! Zufällig treffe ich meinen ehemaligen Chef aus der Zeit, als ich meine erste Anstellung im Außendienst bei einer Versicherungs-Gesellschaft hatte. Ich war damals bei ihnen mit 20 Jahren die erste Frau im Außendienst und hatte viel Erfolg. Nach nur zwei Jahren hatte ich genug Geld gespart, um mich mit einem Brautkleidergeschäft selbstständig zu machen. Die Idee, mit Neu– und Secondhand-Kleidern zu handeln, gefiel mir so gut, dass ich den Sprung in die Selbstständigkeit wagte. Er hingegen bedauerte meinen Entschluss sehr. Nun steht er mir plötzlich gegenüber und staunt über meine Erzählungen und Erlebnisse. Zum Schluss gibt er mir seine Karte und meint, er würde mich jederzeit wieder einstellen, ich müsse ihn nur anrufen. Nachdem wir uns verabschiedet haben, strahle ich meine Mutter an und sage: »Siehst du, wie schnell ich wieder Arbeit finden würde!«
Auch wenn ich nicht im Sinn habe, gleich wieder in diese Branche einzusteigen, so hat mir die Unterhaltung doch sehr gut getan. Mein Selbstbewusstsein hat einen ersten großen Schub bekommen. Schließlich war es das erste Gespräch mit einem Mann, zudem mit einem, der mich aus einer Zeit kannte, in der ich vor Selbstvertrauen strotzte. Und dann gleich dieses Angebot! Wie ernst auch immer es gemeint ist, ich schwebe im siebten Himmel, allein schon deshalb, weil er mir etwas zutraut. Ich teile meiner Mutter mit, dass ich nach den Feiertagen bei der Fremdenpolizei nachfragen werde, wie es nun mit uns weitergeht, da auch bald meine dreimonatige Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen sein wird. Sie ist eher dafür, dass ich mich ruhig und abwartend verhalten soll.
Ich freue mich darauf, wieder einmal ein richtiges Weihnachtsfest zu feiern mit Schnee und Kälte und allem, was dazu gehört. In Kenia kam nie Weihnachtsstimmung auf, weil es um diese Zeit meist unerträglich heiß war. Das Einzige, was mich dort an das Fest erinnerte, waren die älteren Menschen in Barsaloi, die zur Mission pilgerten, um ihre neuen Wolldecken und etwas Maismehl abzuholen. Die, die regelmäßig in die »Buschkirche« gingen, bekamen am Ende des Jahres diese Geschenke, was Mama sich natürlich nicht entgehen ließ. Innerlich schmunzelnd beobachtete ich sie jedes Mal, wenn sie ihren berechnenden Gang zur Mission antrat.
An Heilig Abend kommt nahezu unsere ganze Familie zusammen, weil meine Mutter am Weihnachtstag auch noch ihren Geburtstag feiert. Nur Eric, mein jüngerer Bruder, wird mit seiner Frau Jelly erst zwei Tage später kommen, da sie mit ihren beiden Söhnen bei sich zu Hause feiern wollen. Unter dem Weihnachtsbaum stapeln sich die Geschenke für mein Mädchen. Alle wollen sie beschenken. Napirai kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie reißt ein Päckchen nach dem anderen auf und weiß gar nicht, womit sie zuerst spielen soll. Mir wird es zu viel, denn genau das wollte ich verhindern.
Zwei oder drei Päckchen wären mehr als genug gewesen. Wo sollen wir auch hin mit all diesem »Zeug«? Napirai ist ohnehin am zufriedensten, wenn ich mit ihr auf einen Spielplatz gehe, auf dem sie mit anderen Kindern spielen kann.
Dann aber genieße ich es doch sehr, mit meiner Familie an einem wunderschön gedeckten Tisch zu sitzen und unser traditionelles Fondue Bourguignonne zu verspeisen. Beim Anblick der Platte mit der eigentlich nicht unbeträchtlichen Menge Fleisch muss ich plötzlich lachen. Weil mich die anderen verwundert anschauen, erkläre ich ihnen den Grund meiner Heiterkeit: »Wenn jetzt Lketinga hier wäre, könnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieses kleine Fleischhäufchen hier für alle reicht. Er kann mit einem zweiten Krieger in einer Nacht locker eine mittlere Ziege verzehren.«
»Das wäre hier, allein schon wegen des Fleischpreises, nicht möglich«, meint Hanspeter schmunzelnd. Wieder kreisen meine Gedanken um Lketinga und ich versuche mir vorzustellen, was er jetzt wohl gerade macht.
Manche Tage schleichen dahin, andere wiederum vergehen im Nu. Auch Silvester ist solch ein endlos langer Tag. Wir feiern nicht groß, jeder hängt seinen Gedanken nach. Für die nächste Zukunft wünsche ich mir von ganzem Herzen, dass wir uns wieder in der Schweiz niederlassen können. Alles andere ängstigt mich nicht.
Anfang des neuen Jahres ruft mich der indische Ladenbesitzer an und erklärt, er wäre für eine Übergabe des Geschäftes bereit gewesen, aber Lketinga habe sich nun anders entschlossen und wolle weiterarbeiten. Jetzt erwarte er die dreimonatige Vorauszahlung für die Ladenmiete. Ich gebe ihm zu verstehen, dass er sich an Lketinga halten müsse. Ich habe bis Ende des Jahres bezahlt und jetzt sei Lketinga zuständig, wenn er den Shop weiterhin betreiben will. Ich habe keinen Einfluss mehr. Mein Geld sei in Kenia geblieben und alles sei meinem Mann überschrieben worden.
Der Gedanke, dass Lketinga den Laden weiterführen will, beunruhigt mich und ich hoffe sehr, dass er vielleicht eine gute Hilfskraft gefunden hat.
Genau drei Monate nach meiner Einreise in die Schweiz bekomme ich Post von der Fremdenpolizei. Mit klopfendem Herzen öffne ich den Brief, der vielleicht über mein zukünftiges Leben – vor allem in welchem Land -entscheiden wird. Aber schon nach den ersten zwei Sätzen stelle ich enttäuscht und auch etwas erleichtert fest, dass ich lediglich Auskünfte über all meine Familienmitglieder erteilen muss. Ich erledige dies in der gewünschten Genauigkeit und betone, dass die Gemeinde in keiner Art und Weise für mich aufzukommen habe, da ich bei anfallenden Schwierigkeiten von meiner Familie unterstützt würde. Außerdem hätte ich bereits konkrete Arbeitsangebote bekommen. Zuversichtlich schicke ich die Unterlagen weg. Meine Mutter ist traurig und meint, jetzt habe sie sich so an mich und Napirai gewöhnt, dass sie es nicht ertragen könnte, wenn wir erneut ins Ausland ziehen müssten. »Es wird schon alles gut gehen, sonst hätten sie mich nach diesen drei Monaten gleich weggeschickt«, versuche ich sie zu beruhigen.
Ende Januar ist es so kalt, dass der nahe gelegene Pfäffikersee vollständig zugefroren ist, was höchstens alle zehn Jahre vorkommt. So gehen wir, Napirai warm auf einen Schlitten gepackt, auf dem See spazieren. Ich beobachte die vielen Menschen, die sich ausgelassen mit den seltsamsten Gefährten über das Eis bewegen. Es ist wirklich verrückt! Noch vor drei Monaten war ich am Schwitzen und lebte in einer völlig anderen Welt und heute spaziere ich auf einem zugefrorenen See. Fast täglich, bei fast allem, was ich sehe oder tue, ziehe ich automatisch Vergleiche zu Afrika. Ich blicke in die fröhlichen Gesichter von Alt und Jung, und denke daran, wie verschlossen die meisten von ihnen im Alltag sind, obwohl sie doch alles haben. Genauso fällt mir auf, wie respektlos viele jüngere Menschen mit den Alten umgehen. Vor meinem Leben in Afrika war mir dies nicht bewusst. Aber jetzt muss ich daran denken, wie es bei den Samburu ist. Dort wächst das Ansehen mit dem Alter. Die Schönheit verblüht, doch dafür wird man mehr respektiert. Je älter jemand ist, egal ob Mann oder Frau, desto gewichtiger sind seine Entscheidungen. Die Jüngeren tun nichts ohne den Segen der Alten. Wenn James in den Ferien von der Schule nach Hause kam, senkte er bei der Begrüßung der Mutter den Kopf und schaute sie nicht direkt an. Erst allmählich beim Erzählen warf er ab und zu einen kurzen Blick auf sie. Eine Massai-Großmutter ist meistens von einer Kinderschar umgeben und wird von jeder vorbeigehenden Person, ob Mann oder Frau, jung oder alt, bekannt oder unbekannt, begrüßt und unterhalten. Meiner Schwiegermama ist es nie langweilig, obwohl sie doch den ganzen Tag nur unter dem Baum vor ihrer Hütte sitzt.