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Bitterschokolade (Горький шоколад)
  • Текст добавлен: 21 сентября 2016, 18:27

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Автор книги: Мириам Пресслер



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»Ich war blцd«, erklдrte Christine. »Ich war abends mit meinen Eltern spazieren, und weil ich ein neues Kleid anhatte, wollte ich keine Jacke darьber ziehen, obwohl es kьhl war. Und dann hat es sogar noch angefangen zu regnen.«

»Wer schцn sein will, muss leiden.«

Christine lachte. »Hast du so einen Blцdsinn noch nie gemacht?«

Eva hдtte nein sagen mьssen, nein, ich zieh immer gern einen Mantel darьber, das macht schlank, aber sie sagte: »Doch, natьrlich.«

»Also, was ist«, fragte Susanne, »wer schreibt den Brief?«

Karola sagte: »Eva soll ihn schreiben. Sie kann das sicher am besten.«

»Das glaube ich auch. Machst du es, Eva?«

Eva wurde rot vor Freude. »Gern«, sagte sie. »Aber vielleicht sollten lieber mehrere zusammen den Entwurf machen.«

»Ich mach mit«, sagte Franziska. »Und Susanne sollte auch dabei sein. Und Anna.«

»O. K. Wo treffen wir uns?«

»Um vier bei mir. Seid ihr einverstanden?« Franziska sah richtig froh aus. »Das ist etwas nach meinem Herzen«, sagte sie.

Eva pfiff laut vor sich hin auf dem Heimweg. Einer alten Frau, die sie erstaunt ansah, lachte sie frцhlich zu. Ich habe was vor, dachte sie. Ich habe was vor. Heute um vier bei Franziska. Und niemand wird mьssen! Niemand, auch ich nicht!

Abends im Bett konnte Eva lange nicht einschlafen. Was fьr ein Tag war das gewesen! Aufregend, ganz anders als die anderen Tage. Erst die Diskussion in der Schule. Die anderen hatten mit ihr geredet, als wдre das vцllig normal, als hдtte sie nie abseits gestanden,

sie hatten nicht nur mit ihr geredet, sie hatten sogar auf sie gehцrt. »Das ist eine gute Idee, Eva«, hatte Susanne gesagt. Und Karola hatte gesagt: »Eva soll den Brief schreiben, sie kann das am besten.«

Eva trat noch einmal ans Fenster und schaute in die Dunkelheit. Franziska wohnte gar nicht so weit weg, vielleicht zehn Minuten. In einem schцnen, alten Haus wohnte sie. Eva war erst sehr verlegen gewesen, sehr still. Als aber dann Susanne und Anna gekommen waren, war es ganz leicht gewesen. Zu viert hatten sie um den Tisch gesessen und geredet und gelacht und geschrieben und keiner hatte gesagt: »Die Eva soll gehen. Wir wollen die Eva nicht.« Im Gegenteil. Sie waren fast eine Clique gewesen, so wie Karola, Lena, Babsi, Tine und Sabine Mьller. Schцn war das gewesen.

»Mensch, Eva«, hatte Susanne gesagt. »Ich habe immer gedacht, du interessierst dich ьberhaupt nicht fьr uns. Du bist dir zu gut fьr uns, habe ich gedacht.«

Eva lachte den Nachthimmel an. »Ich gehцre dazu«, sagte sie laut. »Ich gehцre genauso dazu wie die anderen auch. Ich werde in der Klasse bleiben, bei Franziska und Susanne und Anna. Und bei Karola. Warum sollte ich gehen? Ich gehцre doch dazu.«

Es war sehr dunkel drauЯen. Dort, irgendwo, nur zehn Minuten entfernt, schlief Franziska.

Eva ging zurьck zu ihrem Bett.

17

Eva betrat den Hauptbahnhof durch den Seiteneingang. Sie wollte nicht gesehen werden. Dabei wusste sie, dass noch niemand sie sehen konnte, es war noch viel zu frьh. Erst in ьber einer Stunde wьrde der Zug abfahren, genau in einer Stunde, zwцlf Minuten und -sie schaute auf die Uhr – siebenundzwanzig Sekunden.

Ein Ruck des Zeigers, sechsundzwanzig Sekunden, noch ein Ruck, fьnfundzwanzig Sekunden.

Lдrm, Schreien, Quietschen, Stimmen, ьberall Stimmen, ьberall Menschen. Und dann der Geruch. Bahnhofsgeruch. Schwьler Metallgeruch, Schmutz. Schnellimbiss: Bratwurst vom Grill, Pommes frites. HeiЯes Цl stinkt.

Ein Mann, leicht schwankend, mit den Hдnden Halt suchend am einbeinigen Tisch des Stehausschanks, rief ihr zu: »Willst du was, Kleine?«

Eva ging schnell vorbei, versuchte, flach und kurz zu atmen, den sдuerlichen Geruch nach SchweiЯ und Bier nicht in sich eindringen zu lassen. Sie blieb vor der groЯen Anzeigetafel »Abfahrt« stehen und suchte mit den Augen die Reihen ab. Da war der Zug. Vierzehn Uhr sechzehn Abfahrt Mьnchen, zweiundzwan-

zig Uhr fьnfundzwanzig Ankunft Hamburg, Abfahrt Gleis fьnfundzwanzig.

Eine Frau ging an Eva vorbei, eine schцne Frau, sehr groЯ, sehr schlank. Sie roch nach Maiglцckchen. Oder Veilchen? Wie rochen Maiglцckchen, wie Veilchen? Eva konnte sich nicht erinnern. Sie fьhlte sich unfцrmig und schweiЯig. Warum hatte sie auch die hellrote Bluse angezogen! Hellrot wie eine noch nicht ausgereifte Tomate, die, viel zu frьh gepflьckt, nicht mehr nachreifen wьrde. Eine, die verfaulen wьrde, ohne rot geworden zu sein. AuЯerdem sah man an dieser Bluse jeden SchweiЯfleck. Sie brauchte gar nicht hinzuschauen, sie wusste, wie die Flecken aussahen unter ihren Achseln, dunkel, mit hellzackigen Rдndern.

Sie winkelte die Arme leicht an, ganz leicht nur, so leicht, dass man es nicht sehen konnte, aber doch weit genug, dass Luft an ihre Achselhцhlen gelangte. Vielleicht wьrde der SchweiЯ trocknen.

Wenn es nur nicht so schwьl wдre. Dicke schwitzen eben viel mehr als Dьnne.

Der Krach war wirklich schlimm. Eva hasste Lдrm, der sich aufdrдngte, dem man nicht entweichen konnte. Seine Ohren schlieЯen kann keiner. Gerдuschen ist man ausgeliefert.

Noch eine Stunde und drei Minuten.

Ein SchweiЯtropfen rann ihr ьber die Schlдfe, seitlich an ihrer Backe herunter, und fiel auf ihre Hand, die sie ausgestreckt hatte, um ihn abzuwischen.

Wann wьrden sie kommen? Wьrden sie alle da sein, Vater, Mutter und acht Kinder? Nein, acht konnten es nicht sein, Frank war noch im Krankenhaus. »Es wird doch noch ein bisschen lдnger dauern«, hatte Michel gesagt, gestern, als sie sich voneinander verabschiedet hatten.

Ein Kettchen hatte sie ihm geschenkt zum Abschied, ein dьnnes Silberkettchen mit einem >M< dran.

»Ein >E< hдtte es sein mьssen«, hatte Michel gesagt. »Ein >E< wie Eva. Warum ist es kein >E

Eng umschlungen hatten sie auf einer Parkbank gesessen.

»Schreibst du mir, Eva?«

»Ja, Michel.«

Gekьsst hatten sie sich, ganz traurig hatten sie sich gekьsst.

»Eva, wirst du meine Freundin bleiben?«

Eva hatte die Trauer gemerkt, diesen kleinen, stechenden Schmerz, dieses kleine Loch in ihrem Herzen, das >Michel< heiЯen wьrde.

»Du wirst andere Mдdchen kennen lernen«, hatte sie gesagt. »Viele Mдdchen wirst du kennen lernen in Hamburg.«

»Du hast so schцne Haare«, hatte Michel gesagt und sein Gesicht in ihren Haaren vergraben. Sein Atem war warm gewesen.

Eva betrat das Bahnhofsrestaurant, setzte sich an einen Tisch, von dem aus sie das Gleis fьnfundzwanzig

beobachten konnte. Ein Glas Cola hat 80 Kalorien. Sie bestellte ein Selterswasser. Michel rьlpste immer ganz laut, wenn er Ьberkinger trank.

Wann er wiederkommen wьrde? Das wusste er nicht. Er wusste auch nicht, wann er seine erste Fahrt antreten wьrde. »Das macht alles der Onkel.«

»Warten Sie auch auf jemanden?«, fragte eine alte Frau, die sich zu Eva an den Tisch setzte. Eva zцgerte, schьttelte dann den Kopf. »Nein, nicht eigentlich«, sagte sie.

Die Frau hielt ihre Handtasche auf dem SchoЯ. »Man kann nicht vorsichtig genug sein«, sagte sie, als sie Evas Blick bemerkte. »Man liest das immer wieder in der Zeitung.«

Die Bedienung kam. »Ein Kдnnchen Kaffee Hag und ein Stьck Kдsesahne«, bestellte die Frau und fuhr, zu Eva gewandt, fort: »Ich warte nдmlich auf meine Tochter. Sie kommt fьr ein paar Tage zu mir, bevor sie in Urlaub fдhrt.«

Eva nickte. Was sollte sie sonst auch tun? Sie дrgerte sich. Sie wдre lieber allein gewesen.

Immer noch achtunddreiЯig Minuten. Der Zug stand schon da.

»Ich lebe nдmlich allein hier«, sagte die alte Frau. Ihre Stimme klang so klдglich, dass Eva sie erstaunt ansah.

»Seit mein Mann tot ist.« Sie wischte sich mit der Serviette ьber die Augen.

Eva tat ihr Дrger von vorhin Leid.

»So ist das«, sagte die Frau und rьhrte mit dem Lцffelchen im Kaffee. »Wenn man alt wird, ist man allein.«

»Wo wohnt Ihre Tochter denn?«, fragte Eva und winkte der Bedienung.

»In Frankfurt«, sagte die Frau.

»Das ist natьrlich ganz schцn weit weg.« Eva suchte ein Zweimarkstьck zum Bezahlen. »Auf Wiedersehn. Hoffentlich kommt Ihre Tochter bald.«

Sie kaufte sich eine Sьddeutsche Zeitung und suchte einen Platz, von dem aus sie den Bahnsteig beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden.

Dreizehn Uhr fьnfundfьnfzig. Sie kamen. Eva trat noch einen Schritt zurьck hinter den Zeitungsstand und hielt die Zeitung halb vor das Gesicht.

Michel trug eine dunkle Hose und ein weiЯes Hemd. Er schleppte einen groЯen, brдunlichen Pappkoffer. Der Vater trug noch eine Reisetasche. Eva betrachtete alle neugierig. Der Vater war nicht groЯ, mager und dunkel, mit einem groЯen Schnauzbart und mittellangen Haaren. Er sieht nett aus, dachte Eva. Ein bisschen angeberisch mit dem Anzug und der roten Fliege, aber nett.

Die Mutter trug ein Kind auf dem Arm, ein blondes, vielleicht zwei Jahre alt. Zwei andere Kinder, zwei Buben, rannten aufgeregt auf dem Bahnsteig hin und her. Ilona, schwer, langsam, in demselben Kleid, das sie auf

dem Fest getragen hatte, nahm der Mutter das kleine Kind ab.

Michel sah ganz anders aus, so mitten in seiner Familie. Jьnger sah er aus, kindlicher.

Der Vater hob den Koffer und die Reisetasche in den Zug. Die Mutter umarmte Michel. Sie war groЯ und krдftig, dick konnte man sagen, und Michel verschwand fast in ihren Armen. Das kleine Kind fing an zu weinen und die Mutter nahm es wieder. Ilona strich ihrem Bruder mit der Hand ьber das Gesicht. Wieder war Eva erstaunt ьber die Innigkeit in den Bewegungen dieses Mдdchens. Ein Gefьhl von Eifersucht stieg in ihr hoch. Wie kommt die dazu, ihn so zu berьhren?, dachte sie. Nur ich sollte das dьrfen.

Aber gleichzeitig wusste sie, dass sie das nicht konnte. Nicht bei Michel.

Eva hatte die Zeitung schon lange sinken lassen. Michel schaute nicht herьber. Er umarmte Ilona und streichelte ihren Kopf. Seine Mutter, das kleine Kind auf dem Arm, wischte sich mit der anderen Hand ьber die Augen. Michel war ganz eingeschlossen in Berьhrungen, Blicken und Worten.

Eine richtige Familie, dachte Eva. Sie gehen sehr lieb miteinander um. Bei uns wьrde zum Beispiel nie so viel gekьsst.

Wann hatte sie eigentlich Berthold das letzte Mal gekьsst? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Sie wusste noch nicht einmal, ob Berthold das mцgen wьrde.

Die beiden Buben kamen zurьck von der anderen Seite des Bahnsteigs. Sie hatten einen Gepдckwagen erwischt. Einer schob, der andere saЯ darauf. Sie lachten und winkten und drдngten sich zwischen den Leuten hindurch. Einer sah ein bisschen aus wie Michel, ein ausgelassenes, frohes Gesicht.

Der Bahnsteig war voll geworden. Ьberall standen Leute herum, die sich verabschiedeten. Vierzehn Uhr zehn war es inzwischen. Noch sechs Minuten. Ach Michel. Eva war traurig. Ich hдtte dich lieben kцnnen, wenn ...! Wenn was ?

Sie drehte sich um und ging. Ein bisschen steif waren ihre Beine und ihre Augen brannten, aber sie drehte sich nicht mehr um. Michel wьrde ihr schreiben, sicher, und sie wьrde ihm antworten. Es war noch nicht vorbei. Noch nicht.

Am Bahnhofsplatz war ein Cafe. Eva ging hinein, setzte sich an einen freien Tisch und bestellte eine Tasse Kaffee und ein Stьck Kuchen. Kдsesahne.

18

Was fьr ein Tag! So viele Tage gab es in Evas Leben, die langsam vergingen, trдge, zдh, mit Minuten, die sich mьhsam-mьde aneinander reihten, bis endlich wieder eine Stunde um war, so viele Tage, an denen nichts passierte, an denen die Welt stillzustehen schien oder besser: in einer klebrigen, durchsichtigen Masse zu ersticken drohte, Tage, an denen Eva sich langsam bewegte, nicht merkte, dass sie sich bewegte, Tage, an denen nichts, ьberhaupt nichts passierte auЯer dem ьblichen Trott, kein Glanzlicht, kein heller Tupfer auf dem grauen Einerlei, kein Blick, kein Lдcheln, keine flьchtigen Worte und keine Berьhrung.

Und dann kam ein Tag wie dieser.

Es war noch nicht einmal so, dass das Wetter besonders schцn gewesen wдre. Eigentlich war es eher trist, wolkenverhangen, aber als Eva morgens aus ihrem Fenster schaute, hinein in diesen grauen Morgen, spьrte sie schon das Kribbeln auf der Haut, die Sommermorgenkьhle, frische, kalte Luft, und sie atmete tief durch.

Der Hдuserblock gegenьber, der, in dem die Grabers wohnten, die Grabers mit der >guten Tochter<, verschwand fast im Grau des Himmels. Himmel und

Haus hatten die gleiche Farbe, die Konsistenz war natьrlich anders, aber Eva musste zweimal hinschauen, um das zu sehen. Es war ein seltsames Grau, ein weiches, wattiges, einhьllendes.

Eva stand lange am Fenster und schaute hinaus.

Dann, beim Frьhstьck, zog der Vater sein Portemonnaie und hielt Eva einen Hunderter hin. »Hier«, sagte er. »Kauf dir was Schцnes, das ist zusдtzlich zum Taschengeld, weil es doch dieses Jahr nichts wird mit dem Urlaub.«

Berthold schaute von seinem Teller hoch.

»Du kriegst auch etwas«, sagte der Vater, »morgen, wenn du zu Tante Irmgard fдhrst.«

Berthold nickte und bestrich sein Brot mit Kalbsleberwurst.

»Natьrlich bekommst du keine hundert Mark. Du bist ja erst zehn. Bei Eva ist das schon etwas anderes.«

»Ja«, sagte Berthold.

Eva nahm den Hunderter und legte ihn unter ihren Teller. »Danke, Papa.«

»Was kaufst du dir?«, fragte die Mutter.

»Ich weiЯ noch nicht«, antwortete Eva. »Ich gehe heute in die Stadt. Vielleicht sehe ich was, das ich will.«

Sie rдumte ihr Zimmer auf, ordnete ihre Platten, als ihre Mutter hereinkam. »Post fьr dich, Eva.« Sie hielt ihr eine Postkarte hin und blieb neugierig stehen.

Eva nahm die Karte, legte sie auf ihren Schreibtisch

und stellte die Beatles-Platten nebeneinander in den Stдnder.

»Na ja, dann nicht«, sagte die Mutter und ging zurьck in die Kьche.

Eva nahm die Karte und drehte sie um. In sauberer, kindlicher Schrift stand da: »Meine liebe Eva! Hamburg ist wunderschцn. Ich bin gerade erst angekommen. Schade, dass du nicht da bist. Ich schreibe dir bald. Dein Michel.«

Eva lachte. Viel war das nicht, aber sie freute sich, dass er sofort an sie gedacht hatte.

Laut singend machte sie ihr Zimmer fertig.

»Mama, ich hole mir einen BlumenstrauЯ. Soll ich dir etwas mitbringen?«

»Zwei Liter Milch und ein Pfund Salz. Und sechs Дpfel. Ich will Milchreis machen.«

Eva wдhlte einen StrauЯ Wiesenblumen fьr eine Mark achtzig. Ich fahre nдchste Woche mal mit der S-Bahn in irgendein Dorf und dort werde ich spazieren gehen, nahm sie sich vor. Sie sah die Wiese, eine Hangwiese wьrde es sein, in der Sonne, voller Blumen. Richtig bunt wьrde die Wiese sein. Sie wьrde sich mitten hineinlegen und in den blauen Himmel schauen. Bienen wьrden ьber sie hinwegfliegen und im nahen Wald wьrde ein Kuckuck rufen. Kuckuck, Kuckuck, sag mir doch, wie viel Jahre leb ich noch? Eins, zwei, drei, vier ...

Eier und Schmalz, Butter und Salz, Milch und Mehl,

Safran macht den Kuchen gel, sang sie, als sie die Treppe hinaufstieg.

Die Mutter fuhr mit Berthold zum Kaufhof. Er brauchte noch Unterhosen und neue Gummistiefel, wenn er morgen zu Tante Irmgard fuhr.

Eva setzte Teewasser auf und goss die Blumen im Wohnzimmer. Da klingelte es. Eva drьckte auf den Tьrцffner und hцrte, wie unten die Haustьr mit einem lauten Knall ins Schloss fiel.

»Ich bin's«, sagte Franziska. »Mir war langweilig zu Hause.«

»Komm rein.«

Und dann saЯ Franziska, brдunlich in der hellen Hose und dem hellblauen Hemd, in Evas Zimmer. Sie saЯ auf dem Bett und lehnte sich mit dem Rьcken an die Wand, die Beine hatte sie weit von sich gestreckt. Wie eine Katze liegt sie da, so entspannt, dachte Eva. Richtig schцn.

»Hast du Lust, Mathe zu machen?«, fragte sie.

Franziska schьttelte den Kopf. »Heute nicht, morgen.«

Was fьr ein Tag. Wann hatte sie einmal Besuch gehabt in ihrem Zimmer? Nie? Wirklich nie?

»Ich bin froh, dass du gekommen bist.«

Franziska lachte und streckte sich. »Mach doch mal Musik an!«

Eva legte eine Kassette ein.

»Bei dir ist es richtig gemьtlich. Aufgerдumt.«

Eva dachte an Franziskas Zimmer, an den groЯen Raum in der Altbauwohnung, mit hoher Stuckdecke und schцnen, alten Mцbeln. Die ganze Wohnung war so, schцn, aber unordentlich war sie auch.

»Eure Wohnung gefдllt mir viel besser.«

»Mir nicht. So ein Zimmer, wie du es hast, klein, gemьtlich, das ist viel schцner. Hast du schon mal in einem Altbau geschlafen? Nein? Dann musst du bald mal bei mir ьbernachten. Ьberall knistert und knarzt es in der Nacht. Das ist richtig unheimlich. Ich habe immer Angst davor, nachts aufzuwachen.«

Du musst bald mal bei mir ьbernachten, hatte sie gesagt. Eva hatte noch nie bei einer Freundin ьbernachtet.

»Ich hatte frьher, als Kind, oft Angst nachts«, erzдhlte sie. »Ich stellte mir vor, was alles passieren kцnnte. Einbrecher kцnnten kommen, Mцrder, oder das Haus kцnnte in Brand geraten. Dabei ist in Wirklichkeit nie etwas passiert.«

»Das kenn ich«, sagte Franziska. »Ich bin dann immer zu meiner Mutter ins Bett gestiegen. Leider bin ich jetzt schon zu groЯ dafьr. Ich habe gern bei meiner Mutter geschlafen.«

»Ich habe nie bei meiner Mutter geschlafen«, sagte Eva. »Aber wenn ich geweint habe, ist sie immer gekommen und hat mich getrцstet.«

HeiЯe Milch mit Honig und ein Butterbrot. Oder ein paar Kekse. Und wenn es gar zu schlimm war, gab es eine Tafel Schokolade. Verdammt, immer war es Essen gewesen. Essen ist gut, Essen vertreibt jeden Kummer!

Eva stand auf und ging zum Kassettenrecorder. Sie zog den Bauch ein beim Gehen.

»Die andere Seite?«, fragte sie.

»Ja, bitte.«

Eva drehte die Kassette um. Ich muss mir die Haare waschen, dachte sie. Unbedingt muss ich mir heute Abend die Haare waschen.

»Ich fand das toll, wie du das mit dem Brief an das Direktorat gemacht hast«, sagte Franziska. »Ich habe dich das erste Mal richtig reden hцren, morgens in der Schule und dann nachmittags bei uns zu Hause. Sonst sagst du ja kaum was. Man muss dir die Wцrter fast einzeln aus der Nase ziehen.«

Eva, verlegen, zog ihren Rock ьber die Knie. »Ich bin halt kein groЯer Redner.«

»Aber du kannst das«, sagte Franziska. »Wieso bist du nicht Klassensprecherin geworden?«

Eva, getroffen von dieser plцtzlichen Aufwertung, wandte sich ab. Antwortlos, sprachlos holte sie den Tee aus der Kьche.

Eva stand vor ihrem Bьcherregal. Hinter den anderen Bьchern steckte, in Querlage und gut getarnt, das Diдtbuch. Es war nicht leicht gewesen, ein sicheres Versteck zu finden.

Eva dachte an die Situation in der Buchhandlung, an ihren heimlichen Diдtversuch, an all die Verzweiflung, die niemand merken durfte, und zцgerte. Doch dann nahm sie das Buch heraus und ging schnell in die Kьche. Ihre Mutter saЯ am Tisch und las die Zeitung.

»Mama«, sagte Eva und legte das Buch auf den Tisch. »Kannst du nicht fьr mich mal anders kochen? Ich wьrde gern ein bisschen abnehmen, wenn es geht.«

Die Mutter schaute erstaunt auf. »Wieso? Hat dein Freund etwas gesagt?«

Eva schьttelte den Kopf. »Nein, nicht deswegen. Aber ich finde mich zu dick.«

»Aber du siehst doch gut aus«, sagte die Mutter. »Und dass du so schwer bist, das hast du vom Papa.«

»Und vom Essen.« Eva wollte das Buch schon wieder nehmen, es wдre einfacher gewesen und es ging ihr nicht mehr wirklich um die Diдt, doch sie dachte an die Heimlichkeiten, an die verborgene Scham, und redete weiter: »Ich glaube ja auch nicht, dass ich dьnn werde. Aber ausprobieren mцchte ich es gern und ich will es nicht heimlich tun. Ich will nicht mehr heimlich essen und nicht mehr heimlich hungern. Nein, hungern will ich ьberhaupt nicht mehr. Aber wir kцnnten doch mal probieren, ein bisschen anders zu essen.«

Die Mutter nahm neugierig das Buch und blдtterte darin herum. »Natьrlich«, sagte sie. »Natьrlich kann ich dir so etwas kochen. WeiЯt du was? Ich mache auch mit. Schaden kann es mir nicht. Und dem Papa

erst recht nicht. Und jetzt in den Ferien kцnnen wir das wirklich machen.« Die Mutter war ganz begeistert. »Schau mal, da das Mittagessen: Fischfilet Neptun mit Grilltomaten. Das hцrt sich doch prima an. Soll ich das heute machen? Und zum Nachtisch Eis?«

»Ja«, sagte Eva. »Soll ich fьr dich einkaufen?«

»Wir kцnnten zusammen gehen. Magst du, dass wir zusammen gehen?«

Eva nickte. »Gern. Wir gehen zusammen einkaufen und dann kochen wir zusammen.«

»Und wenn es dem Papa nicht schmeckt, dann schicken wir ihn ins Restaurant.«

Eva lachte. »Traust du dich das?«

Die Mutter zuckte mit den Schultern. »Vielleicht nicht. Aber ich werde fьr dich das kochen, was du willst. Bestimmt.«

Eva legte ihrer Mutter die Arme um den Hals und kьsste sie.

»Eva«, sagte die Mutter, »ach, Eva. Du sollst es besser machen als ich. Du sollst gescheiter sein.«

19

Eva und Franziska hatten gelernt und dann gingen sie in die Stadt. »Soll ich mit dir gehen?«, hatte Franziska gefragt, als sie von dem Hundertmarkschein gehцrt hatte. »Komm, lass mich mitgehen. Ich gehe gern einkaufen.«

»Ich weiЯ aber noch gar nicht, was ich will«, hatte Eva zцgernd geantwortet. Wie wьrde das sein, anprobieren, wenn Franziska dabei war? Einkaufen mit der Mutter, das war etwas anderes. Die Mutter kannte Eva, schaute nicht auf den dicken Busen, wusste um die GrцЯe ihres Hinterns. Franziska, hatte sie vielleicht noch gar nicht gemerkt, wie dick Eva war? Wьrde es ihr auffallen, wenn Eva Hosen probierte?

Jeans wollte sie kaufen. Aber vielleicht sollte sie doch lieber Bьcher nehmen? Eigentlich wollte sie eine Hose und eine Bluse. Sie hatte schon lange keine Hose mehr gehabt. »Hosen will ich nicht nдhen«, hatte die Schmidhuber gesagt. »Das lohnt sich nicht. Hosen muss man kaufen.«

»Eva, dir passen sowieso keine. Nimm lieber ein Kleid«, war die Meinung der Mutter. »Ein Faltenrock, oben eng, dann mit Springfalten, das ist gьnstig fьr dich. Und mцglichst dunkel. Helle Farben tragen auf.«

Eva, aus Angst vor dem Gelдchter, aus Angst vor dem Probieren, aus Angst vor der Erfahrung, dass ihr wirklich nichts passen wьrde, hatte genickt und wieder einen neuen Rock bekommen.

»Fьr mich ist es schwer, etwas zu finden«, sagte sie zu Franziska.

»Macht nichts. Ich habe Geduld, viel Geduld. Meine Mutter ist auch schwierig, aber sie mag es, wenn ich mitgehe. Sie sagt, ich kцnnte gut beraten.«

»Vielleicht kaufe ich aber auch Bьcher.«

»Fьr hundert Mark?«

Sie fuhren mit der StraЯenbahn in die Stadt. Franziska wusste einen kleinen Laden, einen ganz guten, sagte sie, dort wьrden sie bestimmt etwas finden.

»Was fьr eine GrцЯe hast du?«, fragte Eva in das Rattern der StraЯenbahn hinein. »Ich meine, in inch.«

»Neunundzwanzig oder achtundzwanzig, das kommt auf die Firma an.«

»Ich habe vierunddreiЯig oder sechsunddreiЯig«, sagte Eva.

»Was hast du gesagt?«

DrauЯen auf der StraЯe hдmmerte ein Pressluftbohrer, bohrte Lцcher in den Asphalt, riss breite Rinnen in die StraЯe.

»Ьberall diese Baustellen«, sagte Franziska. »Man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr.«

Einmal war Eva in einen Jeans-Laden gegangen, hatte aufgeregt und beschдmt probiert.

»Wenn Ihnen vierunddreiЯig inch zu klein ist, probieren Sie doch mal sechsunddreiЯig inch.«

Die Verkдuferin hatte mit einer zweiten Verkдuferin geredet. Eva, in der Kabine, hatte sie nicht verstehen kцnnen, so leise hatten sie geredet. Sie hatte nicht gewusst, worьber sie lachten. Eva hatte in der Kabine gestanden, einen orangefarbenen Vorhang im Rьcken, vor dem Spiegel hatte sie gestanden und versucht, die Jeans zuzukriegen, und drauЯen das Lachen der Verkдuferin, der sicher die GrцЯe neunundzwanzig passte, einer, die nicht vierunddreiЯig oder sechsunddreiЯig probieren musste. Neunundzwanzig inch. Wenn Eva das jemals erreichen kцnnte! Sie hatte in der Kabine gestanden, Orange war wirklich keine Farbe fьr sie, wem stand ьberhaupt Orange, und hatte mit vor Anstrengung gerцtetem Gesicht versucht, den ReiЯverschluss zu schlieЯen. Es ging nicht. Er klemmte. Aber sie wagte nicht, die Verkдuferin zu rufen, die mit der GrцЯe neunundzwanzig, vielleicht hatte sie sogar acht-undzwanzig, um sie zu bitten, ihr zu helfen beim SchlieЯen.

Dann war sie zur Kasse gegangen, hatte die Jeans, die vierunddreiЯiger, auf die Theke gelegt und gesagt: »Ich nehme die.« Sie hatte bezahlt und war gegangen. Warum hatte sie das gemacht? Neunundsechzig Mark fьr nichts, fьr eine Hose, die ihr zu eng war, die sie nie anziehen konnte, nur weil sie sich schдmte zu sagen: »Sie passt mir nicht.«

Wie wьrde es mit Franziska sein?

Der Laden war wirklich ziemlich klein. Eva wдre lieber in einen grцЯeren gegangen, in einen, in dem sie nicht so aufgefallen wдre, eine Kundin unter vielen, nicht jemand, den man besonders beachtet. Aber Franziska schien sich hier wohl zu fьhlen. »Hier habe ich schon oft eingekauft«, sagte sie. »Hier kauf ich gern. Die haben tolle Sachen.«

»Das Hemd hier gefдllt mir«, sagte Eva. Das Hemd war rosa.

»Kauf es dir doch.«

»Ich mцchte eine Jeans, eine blaue«, sagte Eva zu der Verkдuferin. Und sie dachte: So eine helle Hose wьrde mir viel besser gefallen. So eine ganz helle. Und dazu das rosa Hemd! Schade.

Sie stand in der Kabine und bemьhte sich verzweifelt, den ReiЯverschluss zuzumachen. Es ging nicht.

»Na, was ist?«, fragte Franziska von drauЯen.

»Zu klein.«

Franziska brachte die nдchste Hose. Noch eine. Sie hob den Vorhang zur Seite und kam herein.

»Hier, probier mal.«

»Aber die ist viel zu hell«, sagte Eva. »So helle Farben machen mich doch nur noch dicker.«

»Ach was. Helle Farben stehen dir sicher viel besser als das ewige Dunkelblau oder Braun.«

Eva wagte nicht zu widersprechen. Sie hoffte, Franziska wьrde hinausgehen, wьrde nicht zusehen, wie

Eva sich in die Hose quetschen musste. Aber Franziska ging nicht. Sie blieb auf dem Hocker sitzen und schaute zu.

»Die Farbe der Hose passt zu deinen Haaren«, sagte sie.

»Genierst du dich nicht mit mir?«, fragte Eva.

»Wieso?«

»Weil ich so dick bin.«

»Du spinnst«, sagte Franziska. »Wieso soll ich mich da genieren? Es gibt halt Dьnne und Dicke, na und?«

Der ReiЯverschluss ging zu, ein bisschen schwer, aber er ging.

»So muss es sein«, sagte Franziska. »Wenn du sie weiter nimmst, hдngt sie morgen schon wie ein Sack an dir.«

Die Farbe der Hose passte wirklich gut zu ihren Haaren. Sie war so hell wie ihre Haare am Stirnansatz. Franziska kam mit dem rosafarbenen Hemd zurьck. »Hier, zieh an.«

Dann stand Eva vor dem Spiegel, erstaunt, verblьfft, dass sie so aussehen konnte, so ganz anders als im blauen Faltenrock. Ganz anders als in den unauffдlligen Blusen. Ьberhaupt ganz anders.

»Schцn ist das«, sagte Franziska zufrieden. »Ganz toll. Die Farben sind genau richtig fьr dich.«

Dunkle Farben strecken, helle tragen auf. »Ich bin zu dick fьr so etwas. Findest du nicht, dass ich zu dick bin fьr solche Sachen?«

»Finde ich nicht«, sagte Franziska. »Mir gefдllst du so. Und was soll's! Im dunklen Faltenrock bist du auch nicht dьnner. So bist du nun mal. Und du siehst wirklich gut aus. Schau nur!«

Und Eva schaute: Sie sah ein dickes Mдdchen, mit dickem Busen, dickem Bauch und dicken Beinen. Aber sie sah wirklich nicht schlecht aus, ein bisschen auffдllig, das schon, aber nicht schlecht. Sie war dick. Aber es musste doch auch schцne Dicke geben. Und was war das ьberhaupt: schцn? Waren nur die Mдdchen schцn, die so aussahen wie die auf den Fotos einer Modezeitschrift? Worte fielen ihr ein wie langbeinig, schlank, rassig, schmal, zierlich. Sie musste lachen, als sie an die Frauen auf den Bildern alter Meister dachte, voll, ьppig, schwer. Eva lachte. Sie lachte das Mдdchen im Spiegel an. Und da geschah es.

Das Fett schmolz zwar nicht, es war ganz anders, als sie erwartet hatte, dass es sein wьrde, kein stinkender Fettbach floss in den Rinnstein, eigentlich geschah nichts Sichtbares, und trotzdem war sie plцtzlich die Eva, die sie sein wollte. Sie lachte, sie konnte nicht mehr aufhцren zu lachen, lachte in Franziskas erstauntes Gesicht hinein und sagte, wдhrend ihr das Lachen fast die Stimme nahm: »Wie ein Sommertag sehe ich aus. So sehe ich aus. Wie ein Sommertag.«


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